„Programme sind Standortbestimmung und Selbstvergewisserung und nicht selten ist der Weg zum Programm und die Einbindung der Mitglieder schon Teil des Ziels. Dass man Wahlen aber nicht alleine mit Programmen gewinnt, ist heute Konsens in der Partei und auch in der Wissenschaft. Und dennoch müssen Programme in gewissen Abständen fortgeschrieben werden, wenn sich die Lage im Land grundlegend verändert“, erklärte Prof. Dr. Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, in seiner Ansprache zur Eröffnung der Veranstaltung in der Akademie der Stiftung in Berlin. Nach dem Mauerfall hatte sich die Welt grundlegend verändert, sodass sich die Partei 1994 nach dem Grundsatzprogramm von 1978 zum zweiten Mal in ihrer Geschichte auf den Weg machte, ein Grundsatzprogramm zu erarbeiten.
Schlaglichtartig erinnerte Lammert an die beachtlichen Strukturveränderungen in der zusammenwachsenden Republik und an die großen historischen Ereignisse des Jahres 1994. „Das Tempo, in dem sich heute Veränderungen vollziehen, hat sich beschleunigt. Gleichzeitig ist der Anspruch an die Parteien, diesen Wandel zu gestalten, höher geworden“, hob Lammert hervor.
„Anfang der 1990er Jahre wurde der Vorwurf laut, die CDU sei ein Kanzlerwahlverein und es gebe keine Programmdebatten mehr“, erinnerte sich Dr. Reinhard Göhner, 1991 bis 1994 Vorsitzender der Grundsatzprogrammkommission der CDU. Helmut Kohls Auftrag an die Programmkommission sei es daher gewesen, Zukunftsthemen zu diskutieren. Nicht zuletzt sollte mit dem Zusammenwachsen der CDU nach dem Mauerfall auch den neuen Mitgliedern im Osten die Möglichkeit gegeben werden, sich einzubringen und die Partei mit zu formen. „Dabei ist der Weg und die integrierende Wirkung des Programmprozesses manchmal wichtiger als das Endprodukt“, stimmte Göhner Norbert Lammert zu. So seien alle Gliederungen in einem breit angelegten Prozess an der Ausarbeitung beteiligt worden. Mit dem Grundsatzprogramm von 1994 sei die CDU die erste Partei mit einem gemeinsam erarbeiteten gesamtdeutschen Programm gewesen.
Neben den großen außenpolitischen Veränderungen musste aber auch der gesellschaftliche Wandel gestaltet werden. Als Kehrseite zunehmender Individualisierung und Selbstentfaltung, stellte Göhner fest, habe sich der gesellschaftliche Zusammenhalt allmählich aufgelöst und der Staat sei zunehmend als „Selbstbedienungsladen“ verstanden worden. Vor diesem Hintergrund sei auch der Titel des Programms gewählt worden: Freiheit in Verantwortung. Zudem stand auch die Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft hin zu einer ökologischen sozialen Marktwirtschaft im Mittelpunkt der Programmdebatten. „Wir wollten ein grundlegend neues Verständnis von Wachstum und Wohlstand etablieren. Das wurde nach der Verabschiedung des Programms wieder viel zu schnell vergessen.“ Dass dieser Zusammenhang Eingang in das Wahlprogramm der CDU und CSU für die Europawahl gefunden habe, das ebenfalls an diesem Montag verabschiedet worden ist, zeige, wie wichtig dieses Thema nach wie vor ist. Abschließend rief Göhner dazu auf, eine mutige Diskussion zu führen, auch wenn dies manchmal riskant sei. Wichtig sei jedoch, nicht nur Mehrheitsmeinungen nachzuvollziehen, sondern aktiv zu gestalten und die Werte und Maßstäbe der Partei klarzustellen. Dazu könne auch ganz bewusst so etwas wie eine vorsichtige Gesellschaftskritik gehören, die mehr Engagement und mehr Verantwortung in der Freiheit einfordere.
Für die Bundesvorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, war das Grundsatzprogramm 1994 das erste Programm, das sie als Mitglied der Partei mitberaten durfte. Für Kramp-Karrenbauer, damals Mitarbeiterin des Vorsitzenden der saarländischen CDU Klaus Töpfer, sei dabei die Weiterentwicklung zur ökologischen sozialen Marktwirtschaft ein wichtiger Schritt gewesen, den sie sehr befürwortet habe. Während 1994 ganz objektiv die Notwendigkeit bestanden habe, 16 Jahre nach dem ersten Grundsatzprogramm von Ludwigshafen ein neues, gesamtdeutsches Programm zu verabschieden, gebe es auch heute in vielen Bereichen disruptive Ereignisse und äußere Faktoren, die die Partei zwingen, ihre Prinzipien auf den Prüfstand zu stellen.
Wie 1994 sei die Partei heute dem Vorwurf ausgesetzt, „Kanzlerwahlverein“ zu sein und in erster Linie als Stütze der Regierung zu fungieren. „Die CDU selbst trat hinter der Regierungsarbeit zurück und hat – so die Meinung vieler Mitglieder – an Profil verloren“, konstatierte die Bundesvorsitzende selbstkritisch für die Partei. Für Kramp-Karrenbauer laute daher die zentrale Frage, wie die CDU in einer immer diverseren Gesellschaft gleichzeitig ihr Profil schärfen könne. Dabei sei es wichtig, wie auch 1994 den Programmprozess auf eine breite Basis zu stellen und möglichst vielen Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, sich zu beteiligen.
Bei ihrer Zuhör-Tour konnte Kramp-Karrenbauer die für den Programmprozess zentralen Fragen herausarbeiten. Zur immer wiederkehrenden Frage nach der Bedeutung des „C“ im Parteinamen erklärte die Bundesvorsitzende: „Die CDU macht heute keine christliche Politik, aber Politik nach dem christlichen Menschenbild und bietet so Raum für alle Menschen, die sich mit diesen Idealen identifizieren können.“ Entscheidend seien auch Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes. Hier müsse die CDU „eigene, originäre Antworten“ finden und fragen, mit welchen ordnungspolitischen Konzepten sich die Ziele erreichen lassen. Dabei wolle sie konkret an 1994 und die Idee der ökologischen sozialen Marktwirtschaft anknüpfen. Mit Blick auf die Programmdebatten 1994 stellte Kramp-Karrenbauer fest, dass auch heute „die Gesellschaft auseinanderdrifte und das Verhältnis von Rechten und Pflichten aus dem Lot geraten“ sei. Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht könne dazu beitragen, Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten zusammenzuführen und Gemeinschaft zu stiften. Für das neue Programm wünschte sich die Bundesvorsitzende, dass es rückblickend später einmal ebenso als „mutig“ bezeichnet werden kann, wie dies beim Grundsatzprogramm von 1994 heute der Fall ist.
In der anschließenden Podiumsdiskussion wurden unter dem Titel „Die letzte Volkspartei?“ die Herausforderungen der CDU „gestern und heute“ diskutiert. Dazu begrüßte Dr. Michael Borchard, Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik, die Bonner Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Grit Straßenberger und Berthold Kohler, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zur Bedeutung von Parteiprogrammen bestätigte Straßenberger, dass dem Programmprozess eine zentrale Rolle zufalle. Hier komme es darauf an, öffentlich konfliktreiche Diskussionen zu führen. Die Fähigkeit, Konflikte auszutragen, sei dabei eine große Herausforderung. Gleichwohl sei auch das Ergebnis nicht unbedeutend, sondern diene der Integration und der Selbstvergewisserung. Auch Kohler hob hervor, dass Programme eine wichtige Signalwirkung nach außen hätten. So sei es heute wichtiger denn je zu wissen, wofür Parteien stehen. Daran anknüpfend appellierte Göhner, dass die CDU nicht beliebig sein dürfe und klare Positionen einnehmen müsse. Eine Gefahr sei dabei aber immer die Kurzatmigkeit der Tagespolitik. Hier biete die Programmarbeit die Chance, langfristig Positionen zu bestimmen.
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