Schlechte Nachrichten an allen Fronten
- Die Popularität Justin Trudeaus ist im Keller. Die Umfragewerte seiner Liberalen Partei sind seit fast 20 Monaten schlecht; sie hinkt der konservativen Opposition um Längen hinterher. Jahrzehntelang sicher gehaltene liberale Hochburgen im Land gehen bei Nachwahlen verloren.
- Die Wirtschaft wächst zwar weiterhin, ihr droht aber ein Tief angesichts der zurückgehenden Zahl der offenen Stellen am Arbeitsmarkt und der seit Längerem sinkenden Produktivität gegenüber den USA und anderen führenden Volkswirtschaften der Welt. Das renommierte C.D. Howe Institute für Wirtschaftsforschung resümierte kürzlich, die Erosion kanadischer Lebensstandards durch “ungeschickte“ Politik sei „nicht länger eine abstrakte Sorge“. Kritisch merkten die Forscher auch an, dass die Regierung Programme bezahle, die zu finanzieren die Steuerzahler unwillig oder nicht in der Lage seien.
- Beim jüngsten Nato-Gipfel hagelte es Kritik an Ottawa seitens der Alliierten, weil Kanada keine sichtbaren Anstrengungen unternehme, um das zwei-Prozent-Ziel der Allianz zu erreichen. „Sorry, NATO, aber Justin Trudeau wird Verteidigung niemals ernst nehmen. Dafür brauchen wir eine neue Regierung“, ließ sich der konservative Think Tank Macdonald-Laurier-Institute (MLI) in diesem Zusammenhang vernehmen.
- Das Gesundheitssystem ist hoffnungslos überlastet, hunderttausende Kanadier haben keinen Hausarzt. Neue medizinische Forschungen sagen voraus, dass rund 40 Prozent der Kanadier während ihrer Lebenszeit eine Krebsdiagnose erhalten und ein Viertel dieser Gruppe daran sterben werden, u.a., weil neue Medikamente nicht schnell genug auf den Markt kommen. Die dabei entstehenden Kosten werden auf umgerechnet ca. 17 Milliarden kanadische Dollar jährlich beziffert, von denen die Patienten und deren Angehörige ungefähr ein Drittel selbst tragen müssen.
- Im einst weltweit hochgelobten Einwanderungssystem kommen Risse zum Vorschein, die sich auf den Zusammenhalt der Gesellschaft auswirken können. So heißt es in einem Briefing der KAS Kanada aus 2023 zur Immigration: „Trudeaus Idee des postnationalen Staates hat sich nicht realisiert. Von Integrationsproblemen in den Arbeitsmarkt sind überwiegend Einwanderungsgruppen aus dem asiatischen Raum betroffen, rassistische Praktiken bei der Anstellung wurden empirisch nachgewiesen.“
- Überbordende Lebenshaltungskosten sind seit Jahren ein Thema, das die Durchschnittsbürger belastet, ohne dass die Politik ein Gegenmittel zu finden scheint. Die allgemeine Sorge über die anhaltende Inflation beherrschte bis zuletzt im Frühsommer die Kanadier, die diesen Punkt regelmäßig an die Spitze ihrer Liste mit den drängendsten nationalen Problemen setzen.
- Zu allem Übel werden die Anzeichen dafür, dass sich ausländische Mächte, v.a. China mittels Manipulationen bei der Kandidatenaufstellung, massiv in die Politik Kanadas eingemischt haben und noch immer einmischen, immer deutlicher. Das veranlasste einen bekannten Kolumnisten zu dem ungewöhnlich deutlichen Hinweis an die Regierung, „es gibt keine verdammte regelbasierte Ordnung!“.
Über die vergangenen Monate hinweg ist die Wahrnehmung “Kanada ist kaputt” (“Canada is broken”) von einem Kampagnenslogan der „Conservative Party of Canada“ (CPC) zu einer in weiten Bevölkerungskreisen akzeptierten Wahrheit geworden. In Umfragen aus Anlass des Nationalfeiertages “Canada Day” am 1. Juli stimmten 70 Prozent der Befragten dieser These zu, darunter fast 80 Prozent der 18-34-Jährigen. Generell fühlen sich die Menschen über alle demoskopischen Gruppen hinweg weniger stolz, Kanadier zu sein als noch vor fünf Jahren.
Gibt es auch gute Nachrichten?
Ja! Justin Trudeau ist zwar nicht mehr so beeindruckend selbstsicher wie in seinen beiden ersten Amtszeiten 2015-2019 und 2019-2021. Aber er scheint felsenfest davon überzeugt zu sein, dass er der einzige Politiker im Lande ist, der in der Lage sein wird, sich dem Strom der schlechten Nachrichten irgendwann erfolgreich entgegenzustemmen und möglicherweise sogar seine Partei bei den nächsten Unterhauswahlen wieder zum Sieg führen zu können. Jedenfalls gibt es in den öffentlichen Auftritten des Premiers keine eindeutigen Indikatoren dafür, dass er so amtsmüde wäre, um sein Amt durch Rücktritt niederzulegen. Das wirkt zunehmend surrealer. Schwer vorstellbar, dass sich das Land in diesem Zustand noch rund 15 Monate durchschleppen soll, bis die turnusmäßigen Unterhauswahlen im Herbst 2025 anstehen.
Ein Blick auf die Realität...
Die Meinungsumfragen der jüngsten Zeit sprechen eine deutliche Sprache. Wäre der Urnengang jetzt, würde die oppositionelle CPC einen beispiellosen Sieg einfahren und könnte mit über 210 Mandaten rechnen (die Regierungsmehrheit liegt bei 172 Sitzen), über 90 mehr als 2021. Entsprechend tief wäre der Absturz der regierenden Liberalen von 160 auf prognostizierte 74 Mandate. Die die liberale Minderheitsregierung derzeit stützenden kanadischen Sozialdemokraten, die „New Democrat Party“ (NDP), müssten ebenfalls mit dem Verlust eines Drittels ihrer Sitze rechnen und kämen nur noch auf 17 Mandate. Zugewinne von 15 Prozent an Mandaten könnte die Regionalpartei „Bloc Québécois“ verzeichnen. Die Grünen, die in Kanada traditionell ein parlamentarisches Schattendasein führen, würden wahrscheinlich ihre zwei Unterhaussitze verteidigen können.
Dieser seit weit über einem Jahr in den Umfragen bestehende Vorsprung der Konservativen unter ihrem seit Herbst 2022 amtierenden Vorsitzenden, Oppositionsführer Pierre Poilievre, besteht aber nicht nur in den nationalen Projektionen; auch in den meisten Provinzen und Territorien könnten sie mit einer zum Teil erheblichen Mehrheit der dortigen Parlamentssitze rechnen.
Zu allem Überfluss bietet die Demoskopie keinerlei Ausweg aus der politischen Polykrise, mit der Justin Trudeau konfrontiert ist. Neue Umfragen zeigen, dass die Ersetzung des unbeliebten Premierministers durch andere Liberale nicht viel zur Verbesserung der Wahlchancen der Partei beitragen würde. Auch wenn Trudeaus persönliche Unpopularität als großer Hemmschuh für die Unterstützung der Partei angesehen wird, deuten die Daten nicht darauf hin, dass ein Führungswechsel in der Regierungspartei den derzeitigen Abstand von rund 20 Punkten zwischen den Liberalen und den Konservativen verringern würde. Die Befragten sagen vielmehr, dass gerüchteweise genannte Nachfolger wie der ehemalige Gouverneur der Bank of Canada, Mark Carney, sie mit größerer Wahrscheinlichkeit von der Partei wegtreiben würden.
Die Probleme liegen nach wie vor bei den politischen Inhalten: Von den zwei Fünfteln (37 %) der Kanadier, die erwägen, bei den kommenden Wahlen für die Liberalen zu stimmen, gibt die Hälfte (48 %) an, dass sie zögern, die Partei zu unterstützen, weil die Regierung keine Fortschritte bei Themen gemacht habe, die ihnen wichtig sind - wie Senkung der Lebenshaltungskosten und die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Das hat Folgen für die Wählerbindung. Vor der Wahl im Jahr 2025 steht die Regierungspartei nicht nur vor der Frage, wie viele Wähler sie noch hat, sondern auch, wie stark sie bei denjenigen sein wird, deren erste Wahl die Liberalen sind. Während zwei Drittel der CPC-Wähler sich sehr stark engagieren, sagen nur 38 Prozent der Liberalen-Wähler das von sich.
...und auf die Realitätsverweigerung
Noch hat der Premierminister nicht eindeutig erkennen lassen, wie es in ihm aussieht, was seine Zukunft anbelangt; zu Beginn seiner Amtszeit hatte es geheißen, der 2015 erst 44-jährige Trudeau hoffe nach dem Ausscheiden aus dem Amt auf eine anspruchsvolle Aufgabe auf internationaler Ebene. Antworten auf entsprechende Journalistenfragen waren bestenfalls ausweichend. Nur einmal ließ er durchblicken, dass er kurz an einen Rückzug aus der Politik gedacht habe, als seine Frau Sophie Grégoire 2023 bekanntgegeben hatte, sich von ihm zu trennen.
Aber Justin Trudeau wäre nicht er selbst, wenn ihn kurzfristige emotionale Schwankungen von dem abbrächten, was er schon immer war: ein knallharter Machtpolitiker. Als „Doyen“ der G7-Gruppe, d.h., das dienstälteste Mitglied dieses exklusiven Clubs aus Staats- und Regierungschefs, wozu er seit Angela Merkels Rückzug aus der Politik 2021 wurde, hat er nie einen Anlass gesehen, den Beispielen einiger seiner Kolleginnen und Kollegen dort zu folgen. Merkel kündigte, nicht zuletzt mit Blick auf ihre seinerzeit sinkende Popularität, ihren Rückzug einige Jahre zuvor an. Der ehemalige britische Premierminister Rishi Sunak machte dem jahrelangen Umfrageleiden seiner Tories durch vorgezogene Neuwahlen ein Ende. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron reagierte auf schlechte Ergebnisse seiner politischen Bewegung bei den diesjährigen Europawahlen und schrieb ebenfalls außerplanmäßige Neuwahlen zur Nationalversammlung aus.
Auch wenn man diese Beispiele aus Europa primär in deren jeweiligem nationalen politischen Kontext sehen muss und unterschiedlich bewerten kann, so zeigen sie doch drei Motivationen, die führenden Politikern gut anstehen, nämlich die Erkenntnisse, „es ist genug“, „es kann nicht mehr so weitergehen“ und „es muss etwas geschehen“. Der Unterschied zwischen diesen dreien und Trudeaus Verhalten ist auffällig: Er teilt keine dieser Auffassungen. Damit riskiert er nun aber eine nachhaltige Schädigung nicht nur seiner Partei, sondern auch des Landes. Denn: Die Kanadier, genauer gesagt: über zwei Drittel, lechzen geradezu nach Veränderung.
Statistisch am Ende... – und politisch?
Mit dem überragenden Wahlsieg der Liberalen Partei von 2015 hatte der damals erst zwei Jahre amtierende Parteivorsitzende Justin, Sohn des legendären und langjährigen Regierungschefs (1968-1984) Pierre Elliott Trudeau, diese traditionelle Regierungspartei im Kanada des 20. Jahrhunderts nach fast zehnjähriger Opposition mit einer beeindruckenden Mehrheit zurück an die Macht geführt. Im Rückblick galt die Wahlniederlage der seit 2006 regierenden CPC unter Stephen Harper damals weniger als ein Verdikt über eine ungenügende Regierungsleistung, sondern als Ausdruck des Wunsches breiter Bevölkerungsteile nach allgemeiner personeller und politischer Veränderung. Tatsächlich betrugen die Amtszeiten kanadischer Premierminister im 20. Jahrhundert im Durchschnitt kaum mehr als ein Jahrzehnt, oft weniger; Ausnahmen wie der ältere Trudeau (16 Jahre mit einer kurzen Unterbrechung) sowie der Weltkriegspremier Mackenzie King (22 Jahre mit einer längeren Unterbrechung) bestätigen diese Regel. Mit fast neun Jahren Amtszeit belegt der jüngere Trudeau gleichwohl schon jetzt einen der vorderen Plätze auf der Senioritätsliste aller kanadischen Premierminister seit 1867. Er könnte also sowohl sein „politisches Erbe“ als auch seinen „politischen Erben“ schon längst bestellt bzw. berufen haben.
Dass nichts dergleichen unternommen wurde, deutet auf das Dilemma der kanadischen Liberalen hin: diese Partei „gehört“ fast dem Premierminister. Er zog sie seit seinem Antritt als Vorsitzender durch seinen damals als erfrischend empfundenen, jungendhaften Politikstil in seinen Bann, galt lange als der „Instagram Premier“. Mindestens bis zum Ende seiner ersten Amtszeit genoss er einen fast unantastbaren Status. Das erlaubte ihm Freiheiten und das Eingehen politischer Risiken, die andernorts schwer vorstellbar wären. So erinnern sich liberale Parlamentarier, dass ihr Vorsitzender zwar auf Parteitagen gegen das bedingungslose Grundeinkommen argumentierte, das die Partei dennoch für ihr Programm beschloss, was den Premier nicht daran hinderte, öffentlich dagegen zu sein, unter Verweis auf die Beschlusslage seiner Partei natürlich. Antragsberatungen auf Parteitagen wurden so terminiert (in aller Frühe), dass mitunter kaum ein Zehntel der Delegierten daran teilnahmen.
In dem Maße, in dem innerparteiliche Beteiligungsverfahren also allmählich ausgehöhlt wurden, verstärkte sich die Maßregelung internen Aufbegehrens durch die Spitze. Einzelne Mitglieder der Unterhausfraktion übten schon 2023 Kritik an der ausgebliebenen Reaktion der Parteizentrale auf die allgemein als erfolgreich empfundenen Kampagnen der konservativen Opposition gegen die eingeführte CO2-Steuer sowie die hohe Inflation und die grassierende Wohnungsnot. Sie wurden intern schnell zum Schweigen gebracht. Als im Juni 2024 der seit drei Jahrzehnten als sicher geltende liberale Wahlkreis Toronto-St. Paul von dem konservativen Kandidaten mit kaum mehr als 500 Stimmen gewonnen wurde, löste dies ein für kanadische Verhältnisse beachtliches politisches Erdbeben aus, das, so politische Beobachter, den Druck auf den Premierminister erhöhen würde. Tatsächlich äußerten sich verschiedene aktuelle und ehemalige Amts- und Mandatsträger der Liberalen öffentlich zu den Ursachen der Niederlage und ihren Konsequenzen. Dabei gab es erste vorsichtige Signale in Richtung Justin Trudeaus Zukunft, die dieser aber in gewohnter Weise auszusitzen entschlossen war, beispielsweise die Forderung nach einer Sondersitzung der Unterhausfraktion.
Wie zu erwarten, meldeten sich auch Personen außerhalb der Partei zu Wort, die mit Trudeau offene Rechnungen hatten. Das galt vor allem für Jody Wilson-Raybould, die erste indigene Justizministerin und Generalstaatsanwältin Kanadas, die der Premierminister nach ihrem Rücktritt 2019 aus der liberalen Unterhausfraktion ausgeschlossen und die bereits in ihren Memoiren ihre Sicht ihres politischen und persönlichen Zerwürfnisses mit ihm dargestellt hatte. Sie brandmarkte auf der Plattform „X“ die Liberalen als eine Partei, die bereit sei, jeden zu opfern, selbst diejenigen, die „blind loyal“ seien. Deswegen handele es sich nicht mehr um eine gesunde noch um eine funktionierende Partei, die daher auch nicht regierungsfähig sei.
Die Ex-Ministerin bezog sich damit auf den auch in der Presse kritisch aufgenommenen Versuch ungenannter Quellen aus dem Premierministeramt, die stellvertretende Regierungschefin und Finanzministerin Chrystia Freeland und ihre Öffentlichkeitsarbeit bei der Außendarstellung der Haushaltspolitik der Regierung für deren schlechte Umfragewerte mitverantwortlich zu machen. Gerade Freeland, Kabinettsmitglied seit Beginn der Ära Justin Trudeau und u.a. anerkannt für ihre Arbeit als Außenministerin sowie Außenhandelsministerin im Kontext der Neuverhandlungen des nordamerikanischen Freihandelsabkommens 2018, galt seit jeher als loyale Unterstützerin Trudeaus und wurde nicht selten als Nachfolgerin ins Gespräch gebracht. Mit der wachsenden Unpopularität des Premierministers begann aber auch ihr Stern zu sinken. Dies dürfte den „ungenannten Quellen“ aus der Regierungszentrale zumindest einen Versuch wert gewesen sein, etwas von der Verantwortung für die Misere auf Trudeaus Stellvertreterin abzulenken.
Sachlicher, aber nicht weniger vernichtend, kam die Kritik eines anderen Kabinettsveteranen daher. Lloyd Axworthy, Außenminister in der Administration des Liberalen Jean Chrétien (1993-2003), missbilligte in einem vorab veröffentlichten Auszug seiner im Herbst erscheinenden Memoiren die „Drehtür“ für Außenminister in der Regierung Trudeau, seit dessen Amtsantritt es fünf davon gegeben hat, einschließlich der gegenwärtigen Amtsinhaberin Mélanie Joly. Die Vielzahl der Minister mit Amtszeiten von z.T. weniger als einem Jahr habe gegen die Interessen Kanadas auf der Weltbühne gewirkt, so Axworthy, weil die Amtsinhaber weder Zeit gehabt hätten, tragfähige Beziehungen zu Kollegen anderer Länder aufzubauen noch – in Einzelfällen – zum Premierminister. Er kritisierte ebenso die außenpolitischen Misserfolge der gegenwärtigen Regierung, allen voran ihr Scheitern bei der Gewinnung eines nichtständigen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und ihr Zögern, die Ursachen dafür zu evaluieren. Axworthy sieht darin ein „Symptom einer Kurzsichtigkeit“, ausgelöst durch Unwilligkeit, Fehlern offensiv zu begegnen und Kurskorrekturen zu erwägen.“ Freilich erwähnt der Ex-Außenminister nicht, was in Ottawa viele politische Akteure und Beobachter als Fakt bezeichnen, nämlich, dass Justin Trudeau noch nie jemals echtes Interesse für Außenpolitik gehabt habe.
Wie geht es weiter?
Von vielen im Westen noch nie wirklich zur Kenntnis genommen, verfügt der kanadische Premierminister über eine konstitutionelle Machtfülle wie kaum ein Staats- oder Regierungschef in der G7. Er allein entscheidet über den nächsten Wahltermin, der gesetzlich vor oder spätestens am 20. Oktober 2025 sein muss. Das gilt umso mehr, wenn er einer Mehrheitsregierung vorsteht. In Justin Trudeaus Situation an der Spitze seiner zweiten Minderheitsregierung in Folge ist dies nicht ganz so einfach. Sollte die ihn im Rahmen eines semi-förmlichen Kooperationsabkommens im Parlament stützende NDP einen Anlass sehen, der Regierung bei einem abstimmungspflichtigen Vorgang im Parlament das Vertrauen zu entziehen, wäre die von ihm gefürchtete und von der Opposition herbeigesehnte Situation da und vorgezogene Neuwahlen wären fällig. Aber NDP-Chef Jagmeet Singh hat diese Drohung schon unzählige Male ausgesprochen, sie aber nie in die Tat umgesetzt, was ihm reichlich Spott und Kritik selbst in den regierungsnahen Medien eingebracht hat. Dazu mag beitragen – was eine seit Monaten auf dem „Hill“ (dem Parlamentsgelände) kursierende Liste besagt -, dass eine nicht geringe Anzahl von Abgeordneten der Liberalen und der NDP bis einschließlich Februar 2025 ihr Mandat behalten müssen, um in den Genuss einer Altersversorgung für Parlamentarier zu kommen (darunter auch Singh selbst).
Derweil engagiert sich der allen Schwierigkeiten trotzende Premier wieder in dem, was er nach allgemeiner Auffassung sehr gut beherrscht: den Wahlkampf, auf Menschen zugehen, die persönliche Sympathiewerbung. Die Erfahrung auch in anderen Ländern lehrt, dass man mit dem Rücken zur Wand stehende Politiker nicht unterschätzen darf. Allerdings sind die Abnutzungserscheinungen bei Trudeau und seiner Regierung so groß und unübersehbar, dass man sich getrost fragen darf, welche Wunder geschehen müssten, damit das Unvermeidliche – die Wahlniederlage der Regierung – nicht eintritt. Einer der führenden Meinungsforscher Kanadas formulierte es so: Damit die Liberalen gewinnen, müsse ihr Wahlkampf komplett problemfrei verlaufen und der der Konservativen voller Pannen sein. Daran aber glaubt in Ottawa niemand mehr.
Unausweichlich ist, was ein Kommentator zuletzt schrieb: Der Premierminister brauche ein neues, überzeugendes Narrativ, wenn er wirklich eine vierte Amtszeit wünsche. Es ist äußerst zweifelhaft, ob Trudeau, aber vor allem auch die Wählerschaft, die dazu nötige Fantasie aufzubringen vermag.