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Inklusion in China

von Tingjian Cai, Johann C. Fuhrmann

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Im Vorfeld der Paralympischen Winterspiele in Peking 2022 verkündeten die chinesischen Staatsmedien, dass die Volksrepublik "unermüdliche Anstrengungen bei der Gleichberechtigung und den Entwicklungsrechten von Behinderten" unternommen habe. Angesichts der Millionen Menschen mit Behinderungen wäre dies wünschenswert - doch kann die Realität mit den formulierten Ansprüchen mithalten? Unser Auslandsbüro in Peking hat sich die Zahlen genauer angeschaut und fasst die aktuelle Lage zusammen.

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Überschattet von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine fanden im März 2022 die Paralympischen Winterspiele in Peking statt. „Unermüdliche Anstrengungen bei der Gleichberechtigung und den Entwicklungsrechten von Behinderten“ habe die Volksrepublik unternommen – so verkündeten es im Vorfeld die chinesischen Staatsmedien. Im bevölkerungsreichsten Staat dürften mehr Menschen mit Beeinträchtigungen leben als in jedem anderen Land der Welt. Die Regierung tue viel für die Betroffenen, sagen die einen. Nicht genug, bemängeln hingegen die Kritiker. Doch: Wie steht es tatsächlich um Menschen mit Beeinträchtigungen und deren Inklusion in der Volksrepublik? Hiermit beschäftigt sich dieser „Länderbericht mal anders“ des Auslandsbüros Peking. Neben Hintergrundinformationen wird der Blick dabei insbesondere auf die Inklusion im Bereich der schulischen Bildung gerichtet.

 

Das Jahr 2008: Ein Meilenstein für mehr Anerkennung

In den 1980er Jahren begann Chinas Regierung, sich verstärkt für die Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen zu engagieren. So entstand damals die staatliche Behindertenvereinigung, die von 1988 für rund zwei Jahrzehnte von Deng Pufang, dem querschnittsgelähmten Sohn des ehemaligen Machthabers Deng Xiaoping, geleitet wurde. Das Jahr 2008 markierte dann einen sichtbaren politischen Meilenstein für mehr Anerkennung. So ratifizierte die chinesische Regierung die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen nur wenige Monate bevor in Peking erstmals die Paralympischen Sommerspiele ausgerichtet wurden. Heute zielen nach staatlichen Angaben rund 80 Gesetzte und 50 Verwaltungsvorschriften darauf, die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen zu schützen.

Gerade im Bildungsbereich hat die chinesische Regierung aktiv Anstrengungen unternommen, die Inklusion voranzutreiben. Denn laut der Behindertenrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, „ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen sicherzustellen“. Inwieweit hat die chinesische Regierung seit der Ratifizierung im Jahr 2008 das Versprechen einer „vollständigen Integration“ verwirklichen können? Der Beantwortung dieser Frage widmen wir uns im Folgenden. Doch eingangs wird zunächst der Blick auf die rechtliche Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen im chinesischen Schulsystem gerichtet.

 

Ein Recht auf Inklusion

In China hat sich der Begriff der Inklusion, im Sinne des Zugangs zur allgemeinen Schulbildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, seit den 1980er Jahren schrittweise durchgesetzt. Dabei wurde unter dem Konzept der inklusiven Bildung ursprünglich lediglich das „Lernen in regulären Klassenräumen“ verstanden. Damit war nicht primär die Einschulung in Regelschulen gemeint, sondern eher die Unterbringung in Schulen oder Sonderschulen. Das 1990 verabschiedete Gesetz zum Schutz von Menschen mit Behinderungen sowie das 1995 verabschiedete Bildungsgesetz haben dann beispielsweise darauf hingewiesen, dass Kinder mit leichten bis mittelschweren Behinderungen den Unterricht in regulären Schulen besuchen dürfen. Eine gewisse Neudefinition findet sich in den Vorschriften für die Bildung von Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2017: Hier wird inklusive Bildung nunmehr als eine Integration in die allgemeine Schulausbildung „im größtmöglichen Umfang“ definiert. Somit verfolgt die Regierung nunmehr offiziell das Ziel, möglichst vielen Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen den Besuch an Regelschulen zu eröffnen. Doch tatsächlich, so Kritiker, baue die Regierung das System der Sonderschulen gezielt weiter aus.

Zum Hintergrund: Laut dem Schulpflichtgesetz von 2006 besteht für Heranwachsende mit Behinderungen in China eine neunjährige Schulpflicht. Keine Regelschule darf ihren Wunsch nach einem Schulbesuch ablehnen. Von der Regierung wird dies als eine „vollständige Abdeckung/Gewährleistung ohne Ablehnung“ bezeichnet.

Mit dem Beitritt zur Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008 passte China das nationale Gesetz über den Schutz von Menschen mit Behinderungen an, in dem der Grundsatz des „Verbots der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung“ verankert wurde. Seit nunmehr 15 Jahren ist die chinesische Regierung darum bemüht, Inklusion an den Regelschulen zu fördern. Und dies durchaus mit Erfolg: Laut den jüngsten Daten des chinesischen Bildungsministeriums hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, die an Regelschulen eingeschrieben sind, von 239.000 im Jahr 2015 auf 439.000 im Jahr 2020 erhöht, was einem Anstieg von 83,6 Prozent entspricht. Demzufolge sind nunmehr offiziell rund 50 Prozent der Schulpflichtigen mit Behinderungen an Regelschulen eingeschrieben.

 

Die Lage von Menschen mit Behinderungen und deren Bildung in China

Laut den Daten einer 2006 von der chinesischen Regierung veröffentlichten Umfrage leben in China schätzungsweise 83 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen, was einem Bevölkerungsanteil von 6,3 Prozent entspricht. Nimmt man Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation zum Maßstab, laut denen rund 15 Prozent der Weltbevölkerung mit Behinderungen leben, käme China auf etwa 210 Millionen Betroffene. Den neuesten offiziellen Daten entsprechend leben mehr als drei Viertel der Menschen mit Behinderungen in China in ländlichen Regionen. Die Analphabetenrate bei Menschen mit Behinderungen liegt demnach bei 43 Prozent.

Derzeit gibt es in China vier Hauptformen der schulischen Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen:

  • Sonderschulen und/oder -klassen für Kinder und Jugendliche im Schulalter mit Seh-, Hör- und/oder Sprachbehinderungen und/oder geistigen Behinderungen,
  • getrennte Klassen innerhalb von Regelschulen,
  • Besuch des regulären Unterrichts mit gleichaltrigen Schülern,
  • häuslicher Unterricht oder Fernunterricht für Kinder mit schweren oder mehrfachen Behinderungen.

Nach Angaben des chinesischen Bildungsministeriums ist die Einschulungsquote von Kindern mit Behinderungen bis 2020 auf über 95 Prozent gestiegen. Auf dieser Grundlage hat das chinesische Bildungsministerium zusammen mit den anderen zuständigen Behörden im Jahr 2022 einen Aktionsplan zur Förderung der sonderpädagogischen Bildung veröffentlicht. Erklärtes Ziel ist es, bis zum Jahr 2025 eine Einschulungsquote von 97 Prozent für Kinder im schulpflichtigen Alter mit Behinderungen zu erreichen.

 

Wie weit ist China von dem Ziel der inklusiven Bildung entfernt?

Nach Einschätzungen der UNESCO wurde in den letzten Jahren in China „der inklusiven Bildung große Bedeutung beigemessen, um gleiche Bildungsrechte für alle Kinder mit Behinderungen zu gewährleisten“. Obwohl über die oben genannten Zahlen hinaus keine spezifischen Daten zur Verfügung ständen, sei die Bereitschaft der chinesischen Regierung, inklusive Bildung zu fördern, aus einer Reihe von gesetzlichen Bestimmungen ersichtlich.

Die Regierung selbst sieht sich auf Kurs: Die 2017 erlassenen Vorschriften über die Bildung von Menschen mit Behinderungen hätten dem Bau von sonderpädagogischen Förderräumen in Regelschulen Vorrang eingeräumt und diese mit Trainingsprogrammen und Ressourcen ausgestattet, um besser auf die Bedürfnisse von Lernenden mit Behinderungen eingehen zu können. Die Verwaltungsvorschriften von 2015 über die Nationale Einheitsprüfung erleichtern Schülern mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur Hochschulbildung, indem sie die notwendigen Maßnahmen zur Barrierefreiheit unterstützen.

Doch es gibt auch Kritik: Laut Human Rights Watch hat die chinesische Regierung derzeit „keine klare und konsistente Strategie“, um das Ziel der inklusiven Bildung voranzutreiben. Die chinesische Regierung „stellt weiterhin zu wenig Mittel für die Bildung von Schülern mit Behinderungen in Regelschulen zur Verfügung, während sie gleichzeitig aktiv ein paralleles System von getrennten Sonderschulen entwickelt“.

Denn tatsächlich sind auch weiterhin nur rund 50 Prozent der Schulpflichtigen mit Behinderungen an Regelschulen eingeschrieben. Nach Angaben des chinesischen Bildungsministeriums gab es im Jahr 2021 in China 919.800 Schüler, die eine sonderpädagogische Bildung erhielten. Laut offiziellen Angaben gibt es in China derzeit insgesamt 2.288 Sonderschulen. Darüber hinaus gibt es zwar Berufsschulen für Menschen mit Behinderungen sowie höhere Bildungseinrichtungen im Sonderschulwesen, doch konzentrieren diese sich in der Regel auf die Ausbildung für Berufe, die in China traditionell Menschen mit Behinderungen vorbehalten sind. So werden beispielsweise Blinde in Massagetherapie und Hörgeschädigte in visuellen Künsten ausgebildet. Studierende mit Behinderungen, die andere Berufe anstreben, stehen oftmals vor großen Herausforderungen.

 

Einschätzung und Ausblick

Keine Frage: Seit 2008 hat sich die Situation von Menschen mit Behinderungen in China deutlich verbessert. So wird etwa von Unternehmen verlangt, mindestens 1,5 Prozent der Arbeitsplätze an Betroffene zu vergeben. Bei Zuwiderhandlung drohen Strafen sowie Einzahlungen in einen Fonds für Berufsbildung und Arbeitsvermittlung für Menschen mit Behinderungen. Doch gleichzeitig gibt es auch in den Großstädten oftmals keine Barrierefreiheit. Fast 90 Prozent der Kinder in chinesischen Waisenheimen haben eine Behinderung und gerade in den ländlichen Regionen mangelt es vielerorts an finanziellen Mitteln und ausreichender medizinischer Versorgung. Die Scham chinesischer Eltern, Diskriminierung und mangelnde Infrastruktur werden derweil häufig als Gründe dafür benannt, weshalb das Leben behinderter Menschen nahezu unsichtbar verläuft und insbesondere Menschen mit geistigen Behinderungen auch in chinesischen Großstädten kaum am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben. Dabei wäre der weitere Ausbau eines integrativen Bildungssystems in China mehr als nur eine internationale Verpflichtung. Er ist auch entscheidend für die Bekämpfung von Vorurteilen und Diskriminierung sowie ein wichtiger Beitrag zur Schaffung einer toleranten und einbeziehenden Gesellschaft.

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Leiter des Auslandsbüros China - Peking

johann.fuhrmann@kas.de +86 10 6462-2207; 2208 +86 10 6462-2209

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