Online-Seminar
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Nachdem eine (für September 2020) geplante internationale Konferenz aufgrund der aktuellen Situation verschoben werden musste, entschieden sich die AECAIR-Partner, die COVID-19-Lage zum Anlass zu nehmen, in einer dreiteiligen Online-Seminarserie die Frage zu diskutieren, welche konkreten Maßnahmen in verschiedenen Ländern Europas und Asiens ergriffen wurden, um der Pandemie mit KI-bezogenen Anwendungen zu begegnen und welche Erfahrungen und Ansätze für den künftigen Umgang mit KI zu erwarten sind.
Das erste Seminar am 22. Juni 2020 widmete sich einem grundsätzlichen und breiten Überblick zu KI-Maßnahmen und unterschiedlichen nationalen Schwerpunkten und Erfahrungen im Lichte der Pandemie. Der zweite Teil am 29. Juni 2020 erörterte konkrete KI-bezogene Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie während der jeweiligen Lockdowns. Und der dritte Teil am 6. Juli 2020 ging der Frage nach, wie KI-Anwendungen bei der schrittweisen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Öffnung nutzbar gemacht werden können.
Die Programme und Eindrücke der drei Seminare finden sich in der Bilderstrecke. Die Vorträge der einzelnen Redner werden in den sich anschließenden Schlussfolgerungen verlinkt, die die wesentlichen Ergebnisse aller drei Seminare zusammenfassen:
1. Regulierungsrahmen für KI-Anwendung
Die pandemiespezifische Regulierung war weder in den asiatischen noch in europäischen Ländern auf den spezifischen Einsatz von digitalen Anwendungen vorbereitet, die das Erfassen und Nutzen großer Datenmengen und ihrer Auswertung von KI ermöglichen. Auch fehlte es an einem international abgestimmten Regulierungsrahmen, innerhalb dessen verschiedene Ansätze und Ideen hätten schnell diskutiert und abgestimmt werden können. (Sehen Sie den Vortrag von Prof. Dr. Stephen Thomson von der City University of Hongkong)
Dies betrifft alle erdenklichen Systeme und Politikfelder, sei es das Gesundheits- oder das Bildungssystem, die öffentlichen Verwaltungsdienstleistungen oder die Vernetzung der Unternehmen und der weltweite Flug- und Reiseverkehr.
Allerdings lässt sich feststellen, dass die asiatischen Länder durch ihre grundsätzlich weiter fortgeschrittene Affinität zur Nutzung digitaler Anwendungen mit den Defiziten von digitaler Regulierung und Steuerung besser und oftmals kreativer umzugehen wussten, als Länder in der EU und die Spielräume gezielter im Sinne auch neuer Anwendung zu nutzen wussten.
Ein konkreter Anwendungsnutzen von KI ist tendenziell in asiatischen Ländern zu beobachten, wo das Vorhandensein von vielfältigen Möglichkeiten zur Sammlung und Weitergabe sowie der Auswertung von Daten dann auch sofort die wissenschaftliche Kreativität beflügelte, mittels KI-basierten Studien das Virus, seine Verbreitung und die Patienten-Behandlung in allen ihren Dimensionen besser zu verstehen. So hat Vietnam ohne ein mit Europa vergleichbar ausgebautes Gesundheitssystem in kürzester Zeit vier Apps unter einem gemeinsamen Dach entwickelt, die konsolidiert verschiedene Problemlagen der Pandemie angehen (VNU Tech für Online-Schulungen, VNU Meet für Online-Besprechungen, VNU Connect als Online Benachrichtigungsdienst und VNU Care als Telemedizin). Die gemeinsame VNU Online-Plattform verbindet die Menschen in verschiedenen konkreten Pandemiesituationen und verknüpft deren Daten und Anwendungen. (Sehen Sie den Vortrag von Prof. Dr. Truong Vu von der Vietnam National University)
2. KI als Goldstandard in der Infektionsdiagnose und Prognose
KI kam und kommt dann vor allem zum Tragen, wenn sie dabei hilft, die Aussagekraft einer teilweise geringen Zahl an Datensätze mit Krankheitsverläufen durch landesweite oder internationale Konsolidierung und Auswertung der Daten zu verbessern und jeder Forschungs- oder Gesundheitseinrichtung in kürzester Zeit ein gleicher Wissensstand zur Verfügung gestellt werden kann.
So gelang es in China, die teure und zeitraubende Bestimmung der Infektion mittels Bluttests (PCR) zu ersetzen durch die Analyse von Röntgenbildern des Brustkorbs und den Vergleich dieser Bilder. Die KI-spezifische Mustererkennung erlaubt in kurzer Zeit und unter Einbeziehung weiterer bereits vorliegender Krankheitsverläufe und Patientendaten (Vorerkrankungen etc.) eine sofortige Einschätzung des Krankheitsstadiums und seines sehr wahrscheinlichen Verlaufs. Die „Triage“ kann dann gestützt auf Basis der von KI-Algorithmen berechneten Wahrscheinlichkeiten erfolgen, ob ein Patient einen voraussichtlich milden oder schweren Krankheitsverlauf hat.
Dies alles ist mit der klassischen Anamnese/Diagnose (Bluttest) weder in der Kürze noch der Qualität möglich. KI kann an dieser Stelle als der „Goldstandard“ der Diagnose im Frühstadium einer Infektion bezeichnet werden. Je höher die Qualität des Datensatzes ist, je homogener seine Ausprägungen (Alter, Region, Vorerkrankung etc.), umso besser ist zum einen die spezifische Diagnose, zum anderen auch der wissenschaftliche Wert der Datenanalyse und der Mustererkennung für weitere Forschung und eine wichtige Grundlage für staatliche Lockerungs- oder Schließungsmaßnahmen. Können die Daten regional oder gar global geteilt werden, dann entsteht ein KI-gestütztes Erfahrungswissen, das wiederum zu neuen wissenschaftlichen Studien anreizt, mit denen das sich schnell ausbreitende Virus auch schnell medizinisch „verfolgt“ werden kann. (Sehen Sie den Vortrag von Prof. Dr. Jong Chul Ye vom Korea Advanced Institute of Science and Technology)
3. Die Rolle von Datenregulierung
Sämtliche Länder setzten ab einem bestimmten Zeitpunkt der Pandemie auf den Einsatz technologischer Hilfsmittel, in China bspw. der Gesundheitscode, in Deutschland die Corona-App.
In China erhielten im Februar 2020 die beiden Digitalgiganten Alibaba (vergleichbar Amazon) und Tencent (Plattformkonzern, vergleichbar Facebook) den Auftrag der chinesischen Regierung, das digitale Gesundheitscodesystem mit den Zielen der „Kontaktverfolgung“ und der „Quarantäneüberprüfung“ zu entwickeln. Entscheidend war ihre Datenexpertise.
Der Code sammelt sämtliche verfügbaren Daten aller Nutzer, diese werden vom Endgerät auf zentrale Server übernommen und dort verarbeitet. Der Code enthält zudem viele personenbezogene Daten, in verschlüsselter Form oder technisch mit Datenbanken verknüpft. Schließlich wird ein Gesundheitscode mit verschiedenen Farben generiert, anstatt den gefährdeten Benutzern lediglich eine Warnmeldung zu geben. Ein auf Basis des Algorithmus generierter gelber oder roter Code kann den Benutzern das Recht auf physische Autonomie entziehen. Die deutsche Corona-App ging einen genau entgegengesetzten Weg, Freiwilligkeit, keine Personenbezogenheit, dezentrale Speicherung, sie wurde aber auch durch zwei große Datenkonzerne, die deutsche Telekom und SAP entwickelt.
Interessanterweise blieb auch in China die Datenschutzdebatte nicht aus, vielmehr wurde dem rechtlichen Aspekt des Datenschutzes zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
So enthält das im Mai 2020 vom Nationalen Volkskongress erlassene neue Zivilgesetzbuch Chinas ein Kapitel zum Thema „Schutz der Privatsphäre und der Personaldaten“. Es ist allerdings sehr allgemein gehalten, mit nur einem kurzen Kapitel zum Schutz der Privatsphäre und der personenbezogenen Daten und ist daher weit entfernt von einem vollständigen rechtlichen Rahmen für den Datenschutz. Es enthält nur Grundsätze, es fehlen praktikable Regeln für die Rechtsanwendung, was zu Schwierigkeiten bei der wirksamen Umsetzung in der Praxis führen wird. Und es fehlt an der Bestimmung einer konkreten Behörde oder Organisation, die für die Anwendung zuständig ist. Die Regulierungsbefugnis ist auf verschiedene öffentliche Stellen aufgeteilt, je nachdem, wo ein Verstoß wie etwa im Bezug auf die reichlich gesammelten Gesundheitsdaten auftritt.
Obwohl auf den ersten Blick China damit einen ersten Schritt des EU-Datenschutzes ging, so muss festgehalten werden, dass der Schutz öffentlicher Gesundheit weiterhin dem Schutz der Privatsphäre/Datenschutz vorgezogen wird. Denn obwohl die chinesische Regierung die Freiwilligkeit der Einwilligung hervorgehoben hat, ist es in der Praxis für alle Personen obligatorisch, personenbezogene Daten über den Gesundheitscode bereitzustellen, weil nur so ein unbedenklicher grüner Code ausgewiesen wird, der für alle Personen die Voraussetzung darstellt, um am öffentlichen Leben teilhaben zu können.(Sehen Sie den Vortrag von Prof. Chunyan Ding von der City University of Hong Kong)
In Deutschland ist hervorzuheben, dass eine schnelle und anerkannte Entwicklung der Corona-App erfolgte, die immerhin zur freiwilligen Installation bei mehr als 16 Mio. Menschen geführt hat (Stand zum Zeitpunkt des Seminars Ende Juni 2020). Trotz der nun öffentlich gewordenen aber behebbaren Probleme in einigen Smartphone und Betriebssystemen ein grundsätzlicher Erfolg. Im Vergleich zum chinesischen Vorgehen ist aber zu problematisieren, dass die Menge der erhobenen Daten letztlich so eingeschränkt ist, dass eine Nutzung der Daten wie der App eben auch nur eingeschränkt ist. Man muss nicht den chinesischen Weg kopieren, aber es wäre möglich und auch eine Aufgabe politischer Führung, im Zuge der Corona-App-Entwicklung mehr anonymisierte Daten zu erheben und standardisiert zur Auswertung zur Verfügung zu stellen.
Gerade im Lichte der unter Ziffer 2. ausgeführten Chancen, das Virus schneller, besser und tiefer zu verstehen, sind Potentiale der Corona-App und der auf ihrer Basis gesammelten und mittels KI auswertbaren Daten ungenutzt geblieben. Im Lichte der aktuellen Befürchtungen um eine zweite Welle ist dies eine vergebene Chance zur besseren digitalen Prävention und Nachverfolgung innerhalb des weiteren Pandemieverlaufs. (Sehen Sie den Vortrag von Prof. Daniel Sonntag vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz)
4. Das KI-Ökosystem
Die privaten daten-affinen Technologie-Unternehmen (siehe Tencent, Alibaba, auch Telekom oder SAP) haben im Zuge der KI-Anwendungen eine wichtige Rolle bei der datengestützten Pandemiebekämpfung für das Gemeinwesen eingenommen. Gesundheitsämter, die ihre Daten noch mittels Faxgeräten oder händisch melden und konsolidieren, haben hier Nachholbedarf.
Was aus einem „KI- oder datenfreundlichen“ Umfeld (Ökosystem) an Kreativität erwächst, stellen bspw. Ansätze des Bayerkonzerns im Bereich KI- und Epidemie-Prävention heraus. Vor allem die Zusammenarbeit mit und die Investition in Start-ups (Ökosystem), ermöglicht eine schnelle und international unkomplizierte Vernetzung, die am Zweck des Projekts orientiert ist und die schneller erfolgen kann als regierungsamtlich geplante internationale Projekte.
So gelang es Bayer, über Startup-Kooperationen mit internationalen Regierungen ins Gespräch zu kommen, was über das klassische Konzern-Netzwerk oder die deutsche Regierungsseite nicht (so zügig, speziell während des Lockdowns) möglich ist. Ein weiterer Trend der Kooperation mit Startups ist, dass eine schnelle Koordination und Kooperation beim Aufbau von Testlaboren möglich wurde, die das klassische Gesundheitssystem und auch die großen Konzerne so nicht hätten leisten können.
Auf dieser Basis entsteht aktuell eine Patienten-App, die positiv diagnostizierte COVID-19-Patienten umfassend medizinisch und sozial während der Quarantäne oder der Behandlung begleitet. Dies ist eng gekoppelte an das medizinische Personal, das ebenfalls mit dieser App arbeitet. Damit erhöht sich die Wirksamkeit der Behandlung wie auch des Einsatzes des knappen medizinischen Personals. Perspektivisch sollen Patienten unabhängig vom Eingreifen eines medizinischen Fachpersonals beginnen können, sich mittels dieser Apps ein eigenes Bild ihres Gesundheitszustands bis hin zur Selbst-Diagnose zu machen. Dies wirft selbstverständlich erhebliche datenschutzrechtliche Fragestellungen auf und berührt den Kern der informationellen Selbstbestimmung der Patienten, aber allein der Beginn dieser Entwicklung wäre vor Corona so nicht denkbar gewesen. (Sehen Sie den Vortrag von Angeli Moeller von Bayer)