Am 25. März 2017 jährte sich zum 60. Male der Jahrestag der Unterzeichnung der „Römischen Verträge“ zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Im Umfeld dieses Datums war viel davon die Rede, zur Bekämpfung der Fluchtursachen in den Ländern südlich der Sahara bedürfe es einer engeren Zusammenarbeit mit den afrikanischen Staaten dieser Region. Langjährige Verbindungen zwischen der Europäischen Union und diesen Staaten gab es bereits.
Am 2. Mai 2017 jährte sich auch zum 60. Mal der Todestag unseres Vaters Dr. Otto Lenz. Ursache für seinen frühen Tod war eine Malariainfektion, die er sich auf einer Reise zugezogen hatte, die der Herstellung von Beziehungen zwischen der EWG und Ländern Französisch-Westafrikas dienen sollte. Es handelte sich um Senegal, Mauretanien, Guinea, die Elfenbeinküste, Französisch-Sudan (heute Mali), Obervolta (Burkina Faso), Dahomey (Benin) und Niger.
Die Reise einiger Abgeordneter aus den EWG-Staaten führte von Dakar unter anderem über Conakry, Abidjan, Lomé und Niamey nach Algier und dauerte vom 6. Bis 19. April 1957. Die Teilnehmer kamen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden. Im Reisebericht werden die Abgeordneten Giacomo Matteotti (Italien), Marinus van der Goes van Naters (Niederlande) und Hermann Höcherl (CSU) namentlich erwähnt.
Die Parlamentarier wollten Fragen eines Assoziierungsvertrags und die Entwicklungsmöglichkeiten des entstehenden „Gemeinsamen Marktes“ prüfen, zu dem auch Afrika „dazugehören“ sollte. Die Gruppe traf mit führenden Politikern aus Westafrika zusammen, wie dem Bürgermeister von Dakar, Amadou Lamine-Guèye, und dem Bürgermeister von Abidjan, Félix Houphouët-Boigny (im Reisebericht unseres Vaters als „M. Homphonet“ bezeichnet). Beide sollten im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit ihrer Länder eine bedeutende Rolle spielen. Unser Vater hat wohl als CDU-Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und der Beratenden (heute: Parlamentarischen) Versammlung des Europarates an der Reise teilgenommen.
Die Ratifizierung des EWG-Vertrages hat unser Vater nicht mehr erlebt, aber die von ihm verfolgte Politik wurde fortgesetzt. Sein Nachfolger im Auswärtigen Ausschuss wurde der bisherige Stellvertreter Hans Furler. Der EWG-Vertrag wurde vom Bundesrat einstimmig und vom Bundestag mit den Stimmen der oppositionellen SPD und unter anderem gegen die Stimmen der oppositionellen FDP angenommen und trat am 1. Januar 1958 in Kraft.
Im Frühjahr 1958 wurde die „Gemeinsame Versammlung“ der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) entsprechend dem „Abkommen über gemein- same Organe für die europäischen Gemeinschaften“ umgebildet, für das sich Hans Furler sehr eingesetzt hatte. Diese Versammlung nahm den Namen „Europäisches Parlament“ an und bildete einen Ausschuss für die Assoziierung der überseeischen Länder und Gebiete, zu dessen Vorsitzendem der FDP-Abgeordnete Walter Scheel bestimmt wurde. 1960 wurde Hans Furler zum Präsidenten des Europäischen Parlaments gewählt.
Wenige Tage später beschloss das Parlament, eine gemeinsame Konferenz mit den Parlamenten Madagaskars und derjenigen Staaten Afrikas durchzuführen, die vor ihrer Selbstständigkeit von Frankreich, Belgien, Italien und den Niederlanden abhängig gewesen waren.
Die erste vorbereitende Zusammenkunft europäischer und überseeischer Parlamentarier fand im Januar 1961 in Rom, die zweite im Mai 1961 in Bonn statt, die erste Plenarkonferenz im Juni 1961 in Straßburg, jeweils auf der Grundlage der Gleichberechtigung beider Seiten. Präsident Furler sprach immer von „unseren afrikanischen Freunden“. Zu den Ergebnissen der Konferenz gehörte die Schaffung eines „Ständigen Paritätischen Ausschusses“, der abwechselnd in Straßburg und Übersee zusammentritt.
Der Kreis der assoziierten Staaten ist in der Folgezeit immer weiter ausgedehnt worden und umfasst heute 79 sogenannte AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik). Kennzeichnend für diese, auf die Entwicklung der Teilnehmerstaaten zielende Partnerschaft ist die Beteiligung der Parlamente an dem institutionellen Rahmen der Vereinigung.
Wenn sich die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten jetzt mit den Staaten südlich der Sahara treffen, um die Ursachen der Fluchtbewegung zu bekämpfen, treffen sie auf eine jahrelange Zusammenarbeit, die ihren Ursprung in der Reise jener Delegation von 1957 hat, die die mit der EWG zu assoziierenden westafrikanischen Gebiete besucht hat.
Hinweis der Redaktion: Otto Lenz war 1945 Mitgründer der CDU in Berlin. In der Zeit des Nationalsozialismus unterstützte er den Widerstand. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 war Lenz verhaftet und vom Volksgerichtshof zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden. 1951 bis 1953 war er als Staatssekretär Chef des Bundeskanzleramtes, 1953 bis zu seinem Tod Mitglied des Deutschen Bundestages. 1955 wurde er Mitglied der Beratenden Versammlung des Europarates. 1956 begründete er gemeinsam mit Erich Peter Neumann „Die Politische Meinung“.
-----
Carl Otto Lenz war seit 1959 Generalsekretär der Christlich-Demokratischen Fraktion des Europäischen Parlaments und hat in dieser Eigenschaft 1961 an den Konferenzen von Rom und Straßburg teilgenommen. Er war von 1965 bis 1984 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 1984 bis 1997 Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof.
Marlene Lenz gehörte von 1979 bis 1999 dem Europäischen Parlament an, in dem sie Vorsitzende des Ausschusses für die Rechte der Frau und des Unterausschusses für Menschenrechte war.