Ein berühmter Vers von Heinrich Heine veranlasst immer wieder zu einem vertieften Nachdenken über Deutschland. Wenn man ihn auf die Europäische Union überträgt, was würden Sie dann sagen? „Denk’ ich an Europa in der Nacht, dann…“?
Manfred Weber: Denk’ ich an Europa in der Nacht, dann freue ich mich, dass ich Europäer bin. Weil wir auf einem freien Kontinent leben dürfen, der Wohlstand für die Menschen bringt und in den letzten Jahrzehnten das Leben aller verbessert hat. Dennoch beinhaltet Europa nicht das Versprechen, sorgenfrei zu leben, sondern bedeutet, die Sorgen, Probleme und Konflikte besser miteinander lösen können.
Für den Europa-Wahlkampf ist mir aber wichtig, dass wir in keine Krisenrhetorik verfallen, sondern auch über die Erfolge sprechen, weil wir die Menschen sonst nicht überzeugen werden. Es sind nicht zuletzt Erfolge der Europäischen Volkspartei (EVP) und ihrer einzelnen nationalen Mitgliedsparteien. In allen Ländern, die von der Eurokrise betroffen waren, haben Politiker der EVP die notwendigen Reformen durchgesetzt.
Welche Erfolge gehören in den Vordergrund?
Manfred Weber: Wenn ich mir die Leistungen der letzten zehn Jahre vergegenwärtige, als die Eurokrise uns in Anspruch nahm, dann sind das enorme Erfolge. Bis heute sind dreizehn Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden, die Neuverschuldung der Staaten liegt unter einem Prozent. Seit 2015 haben sich die Flüchtlingszahlen um über neunzig Prozent reduziert.
Der zurückliegende Europawahlkampf der CSU hatte aber eine doppelte Botschaft: Wir sind zwar grundsätzlich für Europa, aber es gibt auch sehr vieles, was uns stört …
Manfred Weber: Die Strategie von 2014 hat viele unserer Anhänger irritiert. Unser Ansatz heute bedeutet eine Rückbesinnung auf die Grundüberzeugungen der Christlich-Sozialen Union. Seit den Zeiten von Alfons Goppel und Franz Josef Strauß ist sie eine proeuropäische Partei, die die europäische Idee mit Herz und Kopf vertritt und Europa auch gestaltet hat. Denken Sie an Franz Josef Strauß und den Aufbau des europäischen Flugzeugherstellers Airbus, an Theo Waigel, der für die Einführung des Euro mitverantwortlich war! Für ein Land wie Bayern, im Herzen Europas, kann es keine andere Zukunft geben als eine europäische. Die CSU ist mit der CDU die Volkspartei Europas, und das werden wir in diesem Wahlkampf auch deutlich machen.
Aber ein Stück Skepsis bleibt vielleicht doch, wenn Sie sagen: „Es darf kein Weiter-so geben.“ Was darf nicht so weitergehen?
Manfred Weber: Mir ist wichtig, dass wir Europa von den Menschen her denken, nicht aus den Amtsstuben in Brüssel. Das heißt, dass wir uns den Themen widmen, die die Menschen bewegen – etwa dem Thema Sicherheit mit seinen vielen Facetten. Beispielsweise geht es um den Schutz der äußeren Sicherheit und der Grenzen. Illegale Migration muss bekämpft werden, und es muss vor allen Dingen völlig nachvollziehbar sein, wer sich auf europäischem Boden befindet.
Weil sich die günstige wirtschaftliche Konjunktur abschwächen könnte, wird auch die Frage, wie wir Arbeitsplätze sichern, wichtiger. Und als drittes Themenfeld sehe ich die Außen- und Sicherheitspolitik. Europa muss im weltweiten Kontext stärker mit einer Stimme sprechen.
Sie haben von einer „Schicksalswahl“ gesprochen. Hauptgegner sei das Gespenst des Nationalismus. Woraus resultieren die nationalistischen Tendenzen? Und was setzen Sie ihnen entgegen?
Manfred Weber: Das Gespenst des Nationalismus ist zurückgekehrt, und deshalb steht bei den Europawahlen viel auf dem Spiel. Der Rückzug ins Nationale ist ein Sich-abschotten gegen die ungeheure Veränderungsdynamik in vielen Bereichen. Die Aufgabe einer Politik der Mitte ist es, Führung zu zeigen und zu sagen, dass in Zeiten der Digitalisierung und Globalisierung nationale Antworten kaum mehr Durchsetzungskraft haben, sondern uns nur hemmen und abseits stehen lassen. Europa ist eine Antwort auf diese Herausforderungen und nicht das Problem. Europa macht uns stärker und die Menschen sicherer. Das müssen wir den Menschen an konkreten Beispielen vermitteln und ihnen damit Zutrauen und Sicherheit in Zeiten großer Umbrüche geben.
Sie treten als gemeinsamer Spitzenkandidat von CSU und CDU bei der Europawahl an. Welche Impulse bringen Sie für das gemeinsame Wahlprogramm der Union mit ein?
Manfred Weber: Ich freue mich, dass die CDU und CSU geschlossen in die Europawahl ziehen und den Menschen in Deutschland sagen, dass wir eine gemeinsame Idee für die Zukunft Europas haben. Wir wollen ein ambitioniertes Europa, das groß denkt, aber gleichzeitig ein geerdetes Europa, das bei den Menschen ist.
Was bedeutet, groß zu denken, aber bei den Menschen zu bleiben? Ich kann mir beispielsweise vorstellen, dass wir im Kampf gegen den Krebs alle Kräfte bündeln und dafür einen Masterplan erstellen. In fünf bis zehn Jahren wäre es aus wissenschaftlicher Sicht möglich, bestimmte Krebsformen zu stoppen. Wenn Europa die Kraft hat, Krebs zu stoppen, dann ist Europa zu Großem fähig – und zwar ganz konkret auch für die Menschen in ihrem Alltag. Über solche Bilder möchte ich reden, solche Perspektiven möchte ich geben. Wenn Populisten mit Angst Wahlkampf machen, möchte ich es mit Realismus und begründeter Hoffnung tun.
Was unterscheidet die europapolitischen Positionen der Union von denen der SPD und der Grünen?
Manfred Weber: Da gibt es eine Fülle von Unterschieden. Die Grünen standen beispielsweise dem Binnenmarkt, der Schaffung gemeinsamer Märkte immer ablehnend gegenüber. Im Europäischen Parlament haben sie alle Handelsabkommen, die international abgeschlossen worden sind, abgelehnt. Wir vertreten dagegen die Meinung, dass Wohlstand in Deutschland nur gesichert werden kann, wenn wir offen für Export und Welthandel sind und mit einem sehr entwickelten Land wie beispielsweise mit Kanada weiter Handelsverträge abschließen können.
Mit den Sozialdemokraten sind wir einig in dem Ziel, ein soziales Europa zu schaffen. Aber die Einführung einer europäischen Arbeitslosenversicherung lehne ich beispielsweise ab, weil die Verantwortung für soziale Sicherungssysteme weiterhin in der nationalen Kompetenz bleiben muss. Diese Fragen werden wir im Wahlkampf diskutieren, um zu entscheiden, in welche Richtung der Kontinent in Zukunft geht.
In Riesa verhandelt die Alternative für Deutschland (AfD) aktuell über die Forderung eines Dexit. Wie bewerten Sie den dortigen Positionsstreit?
Manfred Weber: Es zeigt, wie gefährlich die Af D im Kern ist. Wer aktuell nach Großbritannien blickt, sieht mit aller Klarheit, wie risikoreich es ist, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union infrage zu stellen. In Großbritannien herrschen wirtschaftliche Instabilität, Zukunftsängste und eine chaotische politische Situation. Daher kann man doch nicht ernsthaft einen deutschen Austritt aus der Europäischen Union in das Schaufenster stellen, so wie es die AfD macht. Die AfD steht für Instabilität, für große politische Risiken und wirtschaftliche Sorgen.
Viel Skepsis gegen die EU speist sich aus der „Brüsseler Bürokratie“. Hat die EU zu viele Regeln oder besteht das eigentliche Problem darin, dass die Regeln nicht immer eingehalten werden?
Manfred Weber: Europa muss sich auf die großen Aufgaben konzentrieren und sich aus den Aufgaben, die Nationalstaaten, Bundesländer oder die Kommunen selbst gestalten können, heraushalten. Andererseits ist auch klar: Europa ist eine Rechtsgemeinschaft. Beschlüsse, die gefasst werden, müssen umgesetzt und eingehalten werden. Dabei spielt der Europäische Gerichtshof als unabhängige Institution eine zentrale Rolle. Wir müssen Rechte in Europa umsetzen und einhalten. Beide Punkte sind gleichwertig wichtig.
Wenn Sie ein Tableau der wichtigsten Politikfelder aufstellen müssten: Wo würden Sie Ihre Schwerpunkte als Kommissionspräsident setzen?
Manfred Weber: Ich möchte Europa zurück zu den Menschen bringen. Die wichtigsten Aufgaben sind die, die die Menschen umtreiben. Und das ist nach wie vor die Frage der Sicherung der Außengrenzen. Wir müssen die illegale Migration beenden und trotzdem ein Kontinent der Humanität sein, der weiterhin Hilfsbereitschaft ausstrahlt. Dieser Spagat muss uns gelingen. Das zweite große Thema ist die wirtschaftliche Stabilität, die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der Einkommenssituation, damit die Menschen mehr Geld im Geldbeutel haben. Die Erhöhung des Lebensstandards in den Krisenstaaten, aber auch in den Staaten, in denen es den Menschen gut geht, ist nach wie vor ein großes Thema. Die künftige wirtschaftliche Prosperität ist ein zentraler Baustein für die Zukunft Europas. Der dritte Schwerpunkt betrifft die Frage, ob wir als Europäische Union außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähig werden.
Sie unterstützen die Forderung eines unabhängigen Europäischen Währungsfonds. Inwieweit decken sich Ihre Vorstellungen mit den Vorschlägen Emmanuel Macrons?
Manfred Weber: Wir alle wollen die Unabhängigkeit der Eurozone stärken, und das bedeutet, dass wir einen Europäischen Währungsfonds benötigen, der von den Staatsund Regierungschefs im Dezember 2018 auf den Weg gebracht worden ist. Um es klar zu formulieren: Bei der letzten großen Eurokrise war es notwendig, den Internationalen Währungsfonds in Washington um Geld und um Know-how zu bitten. Und dabei war immer auch die Zustimmung aus dem Weißen Haus notwendig. Bei künftigen Krisen möchte ich nicht von Donald Trump abhängig sein. Ich möchte, dass die Europäer eigenständig in der Lage sind, ihre Probleme zu lösen. Und deswegen brauchen wir diesen Europäischen Währungsfonds.
Sehen Sie unterschiedliche Vorstellungen in Frankreich und Deutschland?
Manfred Weber: Ich glaube, dass der Beschluss des Europäischen Rats im Dezember eine Grundsatzeinigung auf dem Kontinent herbeigeführt hat. Die Frage wird sein, ob darüber hinaus weitere Akzente zur Etablierung eines gemeinsamen Investitionsbudgets in der Eurozone notwendig sind. Das sind weitergehende Fragen. Aber der Währungsfonds ist beschlossen und auch akzeptiert.
Wieviel europäische Gemeinsamkeit halten Sie in der Flüchtlingsfrage für realistisch?
Manfred Weber: Das ist eine der großen offenen politischen Fragen des Kontinents. Ich vertrete die Position, dass wir die offenen Enden endlich zusammenbinden müssen. Es gibt heute keine Diskussion mehr darüber, dass die Außengrenzen gesichert werden müssen. Dazu sind 10.000 zusätzliche Frontex-Beamte notwendig, die die Außengrenzen dort schützen, wo die Schlepperbanden intensivere Angriffe durchführen. Damit zeigen wir auch Solidarität mit den Außengrenzenstaaten, vor allem am Mittelmeer.
Auf der anderen Seite möchte ich einen Kontinent der Humanität. Ich will, dass wir legale Wege finden, Menschen in Not auch weiter in Europa aufzunehmen, kontingentiert und zeitlich befristet. Wenn wir beides tun, dann ist die europäische Bevölkerung aus meiner Überzeugung heraus auch bereit, das anzugehen. Priorität ist der Außengrenzenschutz. Wenn wir diesen sicherstellen, können wir für echte Flüchtlinge weiterhin Offenheit praktizieren.
Sie sagen, Europa muss wieder eine gemeinsame Sprache finden. Wie kann das gelingen, wenn man teils in grundsätzlichen Dingen wie Rechtsstaatsfragen auseinanderliegt?
Manfred Weber: Die EU ist eine Wertegemeinschaft. Es darf in der Europäischen Union keinen Rabatt in Sachen Grundrechte geben. Deswegen haben ich wie auch meine Fraktion das Artikel 7-Verfahren gegen Ungarn und gegen Polen unterstützt. Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und spreche mich dafür aus, einen eigenständigen, unabhängigen Rule-of-Law-Grundrechtsmechanismus in der Europäischen Union zu schaffen, der vor allem auf eine Entpolitisierung des Verfahrens abzielt und dieses letztendlich in die Hände von Richtern gibt. Es wäre eine wichtige Innovation für Europa und für das, was uns an Werten und Spielregeln am Zusammenleben in der Gesellschaft wichtig ist.
Welche Chancen hat ein Beitritt der Türkei?
Manfred Weber: Ich bin der Meinung, dass die Türkei nicht Mitglied der Europäischen Union werden kann. Wenn ich Kommissionspräsident werde, werde ich mich dafür einsetzen, die Beitrittsgespräche in Partnerschaftsgespräche zu überführen. Die Türkei ist ein wesentlicher Partner für die EU, das steht außer Frage. Aber wir müssen gegenüber der Türkei ehrlich sein und ihr vermitteln, was möglich und was nicht möglich ist.
In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erwarten die Amerikaner mehr Engagement von den Europäern. Umgekehrt will sich Europa mehr auf seine eigenen Kräfte stützen. Wie soll sich die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik fortentwickeln?
Manfred Weber: Die Welt hat sich fundamental verändert. Wir haben mit der russischen Regierung einen Nachbarn, der bereit ist, zur Durchsetzung seiner politischen Ziele militärische Mittel anzuwenden, wie er es in der Ukraine, in Syrien und in Georgien demonstriert hat. Wir haben auf der anderen Seite einen amerikanischen Partner in der für uns so wichtigen NATO, dessen Zusagen vorhanden sind, aber immer wieder durch den Präsidenten hinterfragt werden. Deswegen steht die Grundsatzfrage im Raum, ob wir verstehen, dass wir unsere Sicherheit stärker in die eigenen Hände nehmen müssen.
Wenn die amerikanischen Freunde uns zu Recht zu mehr Engagement ermahnen, dann sage ich als Europapolitiker: Die einfachste und beste Möglichkeit, jetzt mehr Sicherheit für Europa zu schaffen, ist eine engere Zusammenarbeit bei der Verteidigung. Nicht allein, dass es viel Geld sparen würde, wenn wir in der Rüstungsbeschaffung kooperieren. Es geht auch um eine bessere Einsatzfähigkeit durch gemeinsame Strukturen – denken Sie nur an Fragen der Cyber-Defense. Deswegen ein Ja zu verstärktem Engagement, aber das heißt nicht automatisch mehr Geld, sondern zunächst mehr Effizienz, besseres Management und mehr europäische Zusammenarbeit.
Manfred Weber, geboren 1972 in Niederhatzkofen (Landkreis Landshut), seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2014 Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, seit 2015 Stellvertretender Parteivorsitzender der CSU, Spitzenkandidat der CDU und CSU und der EVP für das Amt des Kommissionspräsidenten bei den Europawahlen 2019.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 14. Januar 2019.