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Vor siebzig Jahren begann die Vertreibung von Deutschen

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„Die Völker müssen erkennen, daß das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert.“1

Was wie eine mit historischem Wissen unterfütterte Aussage auch zur aktuellen Weltlagewirkt, offenbart sich bei näherer Betrachtung als Zitat aus der Charta der deutschen Heimatvertriebenen aus dem Jahr 1950. Ein 65 Jahre alter Satz von ungebrochener Aktualität. Bis zu sechzig Millionen Menschen verloren infolge des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges ihre Heimat, davon allein rund fünfzehn Millionen Deutsche aus den damaligen deutschen Reichsgebieten im Osten und aus den Siedlungsgebieten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Heute, siebzig Jahre nach dem Ende dieses grauenvollen Krieges, sind weltweit erneut etwa sechzig Millionen Menschen heimatlos und auf der Flucht – so der letzte Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks. Es steht zu erwarten, dass diese Zahl weiter steigen wird.

Diese globale Entwicklung geht an Deutschland nicht vorbei: Immer mehr Menschen, die ihre von Bürgerkriegen zerstörten, von massiven Menschenrechtsverletzungen geplagten Heimatländer verlassen oder aus ethnischen beziehungsweise religiösen Gründen aus ihnen vertrieben werden, flüchten hierher. Immer mehr Menschen aus Ländern, in denen es an fast al lem mangelt, was wir in Europa im Überfluss genießen können, suchen ihr Lebensglück in Ländern der Europäischen Union. Die Zahl der Asylanträge in Deutschland könnte in diesem Jahr die Marke von 800.000 überschreiten und damit den höchsten bisher erreichten Wert um das Doppelte übersteigen. Die nackten Zahlen und die mit ihnen verbundenen Einzelschicksale machen deutlich: „Höchste sittliche Verantwortung“ und „gewaltige Leistung“ werden Deutschland und der Weltgemeinschaft auch heute abverlangt, wenn es gilt, die enormen Flüchtlingsströme zu bewältigen und die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu bekämpfen.

 

Gemeinsame Erfahrung der Entwurzelung

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen gehört zu den Gründungsdokumenten des Bundes der Vertriebenen (BdV). Aus vielen ihrer Worte spricht die persönliche Erfahrung des Heimatverlustes, der Entwurzelung. Jene Erfahrung ist es, die Vertriebenenschicksale aller Zeiten und Orte „auf eine ganz existenzielle Art und Weise“ miteinander verbindet, wie es Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede zum ersten nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2015 in Berlin treffend gesagt hat.2 Und die aus dieser gemeinsamen Erfahrung von Entwurzelung resultierende Empathie der deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge und ihrer Nachkommen gegenüber den heute hier ankommenden Vertreibungsopfern bewirkt ein besonderes Engagement bei deren Ankunft und für deren Aufnahme in unserem Land und in unserer Gesellschaft.

Über diese nicht zu verleugnende gemeinsame Basis hinaus sind beim Vergleich von Vertreibungen, ethnischen Säuberungen oder gar von Einzelschicksalen Betroffener große Sorgfalt und Differenzierung unabdingbar. Aktuell werden oft allzu pauschale Urteile gefällt – Fluchterfahrungen der Kriegs und Nachkriegszeit mit heutigen gleichgesetzt und Strategien aus der Vergangenheit als einfache Schablone für die heutige Zeit genutzt. Ein Bei spiel: „Flüchtlingsstadt lehnt Flüchtlinge ab“,3 war unlängst in einer großen, linken deutschen Tageszeitung zu lesen. Ohne besondere Mühe um eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema aufzuwenden, empörte sich eine Journalistin über die aus ihrer Sicht unzureichende Aufnahmebereitschaft für heutige Flüchtlinge in einer Stadt, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Siedlung von „Flüchtlingen aus Ost und Südosteuropa“ entstanden sei.

Dies ist ein untauglicher Versuch, mehr Verständnis für Flüchtlinge hervorzurufen, indem Einheimischen ein schlechtes Gewissen eingeredet wird; er klingt, als wären nach Kriegsende polnische, ungarische oder jugoslawische Bürger nach Deutschland geflohen, hätten hier Asyl beantragt und wären dann vom Staat oder vom Land an diesem Ort angesiedelt worden. Vertreibungsschicksale werden ohne Rücksicht auf die Herkunft undifferenziert nebeneinandergestellt und historische mit aktuellen weltpolitischen Vorgängen in einen Topf geworfen. Ein genauerer Blick hätte erkennen lassen, dass die Situation der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge über die Erfahrung der Entwurzelung hinaus nur schwer mit der derzeitigen Lage vergleichbar ist: Die damaligen Vertriebenen – und im Übrigen auch die später kommenden Aussiedler und Spätaussiedler – waren Deutsche. Menschen mit der gleichen Sprache, aus dem gleichen Kulturkreis und mit den gleichen Wertvorstellungen. Mehrheitlich waren sie sogar deutsche Staatsbürger.

 

Vertriebene waren deutsche Kriegsopfer

Rund fünfzehn Millionen der etwa achtzehn Millionen Deutschen im Osten flüchteten vor der herannahenden Roten Armee oder wurden aufgrund von Unrechtsdekreten beziehungsweise völkerrechtlich fragwürdige Protokollnotizen gewaltsam aus ihrer zum Teil seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben – etwa neun Millionen davon aus den damaligen deutschen Ostgebieten. Mehr als zwei Millionen Menschen kamen auf ihrer Flucht zu Tode: Sie verhungerten, erfroren, wurden erschossen, von Panzern überrollt oder von Flugzeugen bombardiert. Hunderttausende Zivilisten wurden als Zwangsarbeiter deportiert, unzählige Frauen vergewaltigt, und auch vor Kindern machte die Gewalt keinen Halt. Mit der Vertreibung wurden die Betroffenen gleichsam stellvertretend für die grauenvollen Verbrechen der Nationalsozialisten bestraft. Und sie mussten dem Machtstreben der nächsten Diktatur weichen, denn Stalin verfolgte von Beginn an keine geringeren Ziele, als sämtliche ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Staaten zumindest unter seine ideologische, vornehmlich aber unter seine militärische Kontrolle zu bringen. Die Vertriebenen waren auch deutsche Kriegsopfer, und als solche fielen sie ganz selbstverständlich unter die Verantwortung des deutschen Staates, ja der gesamten Gesellschaft.

Trotzdem war ihre Ankunft schwierig. Sie kamen in vom Krieg zerstörte Städte und Landschaften, deren Bewohner kaum selbst genug zum Leben hatten. Lebensmittel, Kleidung und Wohnraum – alles war knapp. Nun sollte dieses Wenige auch noch mit den Millionen geteilt werden, die eine neue Bleibe suchten. Ablehnung war die Folge, oft aus Angst um das eigene Überleben. Wenn die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge rückblickend als Erfolgsgeschichte gesehen wird, ist dies maßgeblich der Leistungsbereitschaft geschuldet, mit der sich die Betroffenen in den Wiederaufbau des eigenen Landes einbrachten. Selbst mitgestaltete, verbesserte wirtschaftliche und politische Bedingungen waren ein möglicher Weg zu neuem persönlichen Wohlstand und sollten eine friedliche Zukunft sichern. Auch von diesem Geist zeugt die Charta der deutschen Heimatvertriebenen.

 

Sprachliche und kulturelle Barrieren heute

Die heute nach Deutschland kommenden Vertriebenen und Flüchtlinge stammen trotz ähnlicher Schicksalserfahrungen aus fremden Ländern, Sprachräumen und Kulturen. Sie bringen abweichende Wertvorstellungen mit. Manche vertreten Auffassungen, die mit unserem gesellschaftlichen Grundkonsens kaum vereinbar sind. Gerade aus diesem Grundkonsens aber leitet sich unsere Verantwortung für die Flüchtlinge ab: Weil wir international geltende, unteilbare Menschenrechte und das Recht auf die Heimat für unentbehrliche Voraussetzungen des menschlichen Miteinanders halten, nehmen wir sie auf und versuchen, ihre Not zu lindern. Diesen Zusammen hang gilt es den Ankommenden zu vermitteln.

Heutige Flüchtlinge stellen Deutschland also vor ganz andere Integrationsherausforderungen als die deutschen Heimatvertriebenen. Heute gilt es etwa, Sprachbarrieren abzubauen sowie die Geschichte, die Kultur und die Grundwerte unserer Gesellschaft verständlich und nachhaltig zu vermitteln, um den Ankommenden überhaupt eine Teilhabe am Leben in unserem Land zu ermöglichen. Nur so können auch die Sorgen vieler Bürger aufgenommen werden, die um die Errungenschaften unserer Demokratie bangen und befürchten, aus dem eigenen Wertesystem verdrängt zu werden. Zugleich müssen Fremdenhass, Hetze oder gar Gewalttaten unabhängig vom Hintergrund entschieden verurteilt und verfolgt werden.

 

Asylmissbrauch Einhalt gebieten, Fluchtursachen bekämpfen

Einhalt geboten werden muss auch dem Asylmissbrauch. Bundespräsident Joachim Gauck hat in seiner bereits zitierten Rede darauf hingewiesen, dass Deutschland aufgrund der „Dimension des Problems“ „mehr aufnehmen und mehr helfen, zugleich aber besser steuern, schneller entscheiden, und ja, auch konsequenter abweisen“ muss, „damit wir aufnahmefähig bleiben für diejenigen, zu deren unbedingtem Schutz wir uns verpflichtet haben und die unserer Hilfe stärker bedürfen als andere.“ Bei rund der Hälfte der Asylbewerber handelt es sich um Menschen, die sich – ohne jede Aussicht auf eine Anerkennung als Flüchtling – bei uns einen höheren Lebensstandard versprechen. Und so viel Verständnis man ganz persönlich auch für ihre Motivation haben kann, so sehr wünscht man sich doch, dass sie aktiv für den Aufschwung in ihren Heimatländern tätig würden – so wie es die Vertriebenen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg getan haben.

Daher fordert gerade der BdV: Fluchtursachen weltweit bekämpfen – europäische Solidarität zur Bewältigung der verbleibenden Flüchtlingsproblematik einfordern – Missbrauch verhindern. Das geschieht am wirkungsvollsten, wenn Migrationsanreize beseitigt und unberechtigt zuziehende Menschen schnell wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden. Allen anerkannten Flüchtlingen hingegen sollte Deutschland Rahmenbedingungen bieten, unter denen sie vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft werden können. Wenn sie sich unsere freiheitlichen und demokratischen Grundwerte zu eigen machen und ihre Integration selbst mitgestalten, um hier einen Neuanfang für eine sichere Zukunft zu wagen, können sie zu einer wirklichen Chance für unser Land werden.


Bernd Fabritius, geboren 1965 in Agnetheln (Siebenbürgen), Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV).

 

[1] www.bund-der-vertriebenen.de/charta-auf-deutsch
[2] www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/06/150620-Gedenktag-Flucht-Vertreibung.html.
[3] www.sueddeutsche.de/bayern/streit-um-erstaufnahmeeinrichtung-wenn-eine-fluechtlingsstadt-angst-vor-fluechtlingen-hat-1.2507727.

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