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"Haltet uns den Weg nach Europa frei!"

Ein flammender Appell aus der Gefangenschaft

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Ich bin dankbar für die Gelegenheit, mich aus dem Gefängnis heraus an Sie wenden zu können – als eine Frau, die sich immer frei gefühlt hat. Es heißt, dass ein Aufenthalt im Gefängnis die Seele verhärtet, besonders dann, wenn man als politisch Andersdenkende ungerecht verurteilt worden ist. Ich kann aber mit Sicherheit behaupten, dass mein Geist durch den kafkaesken Prozess und die Inhaftierung nicht an Kraft verloren hat. Vielmehr wurde er befreit, denn ich bin nun gezwungen, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren: das Nachdenken über mein Land. Mein Gefühl der inneren Freiheit gibt mir das Recht, offen und verantwortungsbewusst zu Ihnen zu sprechen.

2014 wird ein wahrhaft besonderes Jahr für ganz Europa sein, die Ukraine eingeschlossen. Der Fall der Berliner Mauer jährt sich zum 25. Mal, die Erweiterung der NATO zum fünfzehnten Mal und die „Big-Bang“-Erweiterung der EU sowie die „Orangene Revolution“ in der Ukraine zum zehnten Mal. Wenn Hunderttausende Ukrainer heute auf dem Euromaidan in Kiew und anderen Städten erneut friedlich protestieren, könnte 2014 zu einem entscheidenden Jahr für die demokratische Zukunft und die europäische Berufung meines Landes werden.

„Die Ukraine lehnt Europa ab“ – ich hätte nicht gedacht, dass ich eine solche Schlagzeile in meinem Leben zu Gesicht bekommen würde. Es wäre jedoch ein Fehler, wenn man in Europa die Entscheidung Viktor Janukowitschs, bei dem Gipfeltreffen zur östlichen Partnerschaft in Wilna im letzten November das Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen, als ein Zeichen dafür interpretierte, dass das ukrainische Volk Europa und seine Werte ablehne. Die Entscheidung, dem Abkommen den Rücken zu kehren, lag allein bei Janukowitsch, und er allein trägt dafür die Verantwortung vor dem ukrainischen Volk und der Geschichte.

Grundlegend ist für mich die Tatsache, dass unter meiner Regierung die Ukraine 2008 Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) wurde und damit begann, über ein tief greifendes und umfassendes Freihandelsabkommen (Deep and Comprehensive Free Trade Area, DCFTA) zwischen der Ukraine und der Europäischen Union zu verhandeln. Wir hatten gehofft, durch das Assoziationsabkommen mit der EU unsere Nation endlich in der Familie der freien Gesellschaften verankern zu können. Das Abkommen war also für uns mehr als nur ein Vertrag. Es bedeutete eine Wiederkehr unserer nationalen Hoffnung; es war ein Fenster, durch das wir uns von einer düsteren Vergangenheit befreien und in die auf Regeln gegründete demokratische Realität des heutigen Europa würden eintreten können.

 

Was Europa für die Ukraine bedeutet

Selbstverständlich war den Ukrainern klar, dass die Unterzeichnung dieses Abkommens nur ein Anfang sein würde und dass für den Wandel unserer Wirtschaft und Gesellschaft nach europäischen Normen noch viel Arbeit geleistet und sogar Härten ertragen werden müssten. Andererseits haben wir beobachtet, dass viele unserer Nachbarn – Polen, Ungarn, die Slowakei und die Ostsee-Anrainer – diesen Vorschuss auf die Annäherung an Europa geleistet haben, und wir wissen, dass keiner von ihnen die einmal getroffene Entscheidung für Europa rückgängig machen würde.

Ich weiß, dass man der EU in einigen Mitgliedsländern mit großer Skepsis gegenübersteht. In der Ukraine jedoch, wo der Rechtsstaat ein Spielzeug des Präsidenten ist, wo Oppositionspolitiker aufgrund unsinniger Beschuldigungen ins Gefängnis oder ins Exil geschickt werden und wo Privatpersonen ihr Eigentum ohne Rückgriffmöglichkeit auf den Rechtsweg weggenommen werden kann, bedeutet die Erfüllung europäischer Normen die Verankerung unserer Freiheit in einer soliden Grundlage, die kein Einzelner zerstören kann. Für uns bedeutet das vereinte Europa ganz einfach das, was es für alle Europäer in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutet hat: die Möglichkeit, die Diktatur, die staatliche Kontrolle der Wirtschaft und willkürliche Regeln hinter sich zu lassen.

Janukowitsch hat nie eine europäische Strategie im Sinne einer durchdachten Politik gehabt, die hätte sicherstellen können, dass die Ukraine nicht ihr Rendezvous mit ihrer europäischen Bestimmung verpasst. Er hat auch keine Strategie mit Sicht auf Russland. Die einzige Richtung, die er für die Ukraine sieht, läuft darauf hinaus, ihm auch weiterhin die Macht über den Reichtum und die Geschicke des Landes zu sichern. Daher ist er ständig auf der Suche nach einem schmalen taktischen Weg, der ihm bessere Chancen bietet, an der Macht zu bleiben, denn die Macht ist sein einziges Ziel. Er hat keine EU-Politik. Europa und Russland täuscht, erpresst und betrügt er konsequent bei dem Versuch, sie gegeneinander auszuspielen. Er will den Status quo und sein Machtmonopol erhalten, verfügt aber nicht über die Mittel dazu. Dass die Unterzeichnung des Abkommens aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten zurückgestellt wurde, ist jedoch eine grobe Täuschung. Wir wurden einfach an den Meistbietenden verkauft, der Janukowitsch ewige Macht versprach. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass keinem Land ein Vetorecht über die souveräne Zivilisation und die außenpolitische Ausrichtung der Ukraine zusteht. Genauso bin ich davon überzeugt, dass das Assoziationsabkommen und die DCFTA zwischen der Ukraine und der EU einer für beide Seiten nützlichen Wirtschafts- und Handelszusammenarbeit mit Russland in keiner Weise entgegenstehen. Es handelt sich hier nicht um ein Nullsummenspiel.

 

Vollendung der „Orangenen Revolution“

Es ist ein mystischer Zufall, dass Janukowitsch in denselben Novembertagen wie vor neun Jahren uns alle wieder auf den öffentlichen Plätzen zusammengebracht hat. Wenn sich die Geschichte derart wiederholt, ist das ein Zeichen. Es bedeutet, dass wir heute das zu Ende bringen müssen, was wir nach der „Orangenen Revolution“ von 2004 liegen gelassen haben. Wir müssen die korrupten Clans ein für alle Mal aus der Regierung des Landes entfernen. Sie sind mit den Grundlagen des europäischen Lebens nicht vereinbar. Die Geschichte hat uns noch einmal die Chance gegeben, dies zu erreichen, und wir dürfen nicht noch einmal versagen! Ereignisse wie jene auf dem Maidan können nicht geplant werden – sie werden wie Sterne geboren, wenn die Zeit gekommen ist. Heute ist sie noch einmal gekommen!

Leider gibt es in der Ukraine in den letzten drei Jahren immer weniger Europa und immer mehr post-sowjetischen Neo-Autoritarismus, unter dem das Strafrecht so manipuliert wird, dass politische Gegner und die Zivilgesellschaft verfolgt werden können. Nach dem neuesten Index von Transparency International ist die Ukraine derzeit das korrupteste Land in Europa. Das Investitionsklima ist das schlechteste in der jüngeren Geschichte des Landes. Und laut dem Index für Wirtschaftsfreiheit von 2014 ist keine Volkswirtschaft gehemmter als die der Ukraine. Politische Gefangene, Einschüchterung der Medien, ständige Belästigung von Studenten und Aktivisten der Zivilgesellschaft, Plünderung von Firmen und Enteignung von Zivilpersonen – all das in einer extrem zentralisierten politischen Ordnung ohne richterliche Unabhängigkeit und geltende Regeln. Solange Janukowitsch an der Macht bleibt, lebt die Ukraine mit dem Risiko, ihre Unabhängigkeit zu verlieren.

 

Was auf dem Spiel steht

Die Unvereinbarkeit des aktuellen politischen Regimes mit dem Rechtsstaat, den Menschenrechten und anderen zentralen europäischen Werten ist eine grundlegende Ursache der aktuellen Krise in meinem Land. Aber diese Ukraine mit ihrer jetzigen Regierung, ihrer Wirtschaft und ihrer Politik ist nicht nur unvereinbar mit Europa. Sie stellt ein wachsendes Sicherheitsrisiko für die EU und ihre Mitgliedsstaaten dar, weil die weitverbreitete Synergie zwischen staatlich geförderter Korruption und organisiertem Verbrechen zu einem negativen Übertragungseffekt führt.

Diese außergewöhnliche Lage erfordert eine außergewöhnliche Reaktion vonseiten Europas – haltet uns den Weg nach Europa frei! Schlagt nicht die Tür zu!

Das Geschehen in der Ukraine ist Teil der Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa, in der direkten Nachbarschaft der EU und im ehrgeizigeren Rahmen einer globalen europäischen Strategie, die selbst noch in Arbeit ist.

Was könnten die EU und Deutschland tun? Die strategische Botschaft lautet: durch das Assoziationsabkommen mit der Ukraine die Türen offen halten. Außerdem wären im Wesentlichen drei Maßnahmen zusammen mit der entsprechenden Politik umzusetzen:

 

- De facto Solidarität beweisen, das Volk sowie die Institutionen der Demokratie und der Zivilgesellschaft unterstützen und die Freilassung aller politischen Gefangenen mit Nachdruck fordern. Ich bin der deutschen Regierung und insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel dankbar für ihre führende Rolle bei diesem Prozess der Solidarität und Unterstützung.

- Die Einführung einzelner restriktiver Maßnahmen in Betracht ziehen, einschließlich gezielter, wohlabgewogener Sanktionen gegen die verhasstesten ukrainischen Funktionäre. Dazu gehören etwa Einreiseverbote und das Einfrieren von Bankkonten und Vermögen, um ihnen das Gefühl der Straflosigkeit zu nehmen, das ihre Brutalität anfacht.

- Die Integrität des eigenen Rechtsraumes hochhalten, indem man die eigenen Regeln innerhalb der eigenen Gerichtsbarkeit unnachgiebig anwendet. Das jetzige Regime in der Ukraine wäscht das schmutzige Geld seiner Clans in europäischen Ländern und erwirbt damit Land, Jachten, Flugzeuge und andere „nette Kleinigkeiten“ in der gesamten demokratischen Welt. Die Familien, die zu Janukowitschs Clansystem gehören, leben von diesem korrupten Geld in demokratischen Ländern. All das lässt man geschehen, während die Büttel des Regimes den friedlichen Maidan der Studenten in Blut ertränken. Lassen Sie das nicht länger zu! Handeln Sie und verteidigen Sie Ihre eigenen Sicherheitsinteressen!

Unverrückbare Konditionalitäten und praktische Schritte innerhalb der drei oben genannten Politikbereiche könnten zusammen mit diesem Ansatz positive Ergebnisse erbringen. Des Weiteren möchte ich Sie dringend auffordern, Schritte in Betracht zu ziehen, die den ukrainischen Studenten, Journalisten, Wissenschaftlern und Vertretern der Zivilgesellschaft Reisen in die EU erleichtern.

Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft der Werte und des Rechts. Meine Partei, die Batkiwschtschyna („Vaterland“), gehört zur politischen Familie der Europäischen Volkspartei. Wir sind stolz darauf, zu der stärksten politischen Familie in Europa zu gehören, die unsere gemeinsamen Werte teilt: Freiheit und Verantwortung, die Würde des Menschenlebens, Gerechtigkeit, Solidarität und Subsidiarität.

 

„Eine europäische Ukraine ist diesen Kampf wert“

Ich werde mein Möglichstes tun, um die demokratische Opposition in der Ukraine zu einen. Eine geeinte Opposition stellt die einzige zukunftsfähige Alternative zur gegenwärtig herrschenden Partei dar. Wir müssen mit Selbstvertrauen vorgehen, Konfrontation im Team vermeiden und Entscheidungen treffen, die für alle sichtbar auf hohen moralischen Standards beruhen und der Ukraine und ihren Bürgern dienlich sind. Wir werden strategisch, konsequent, mutig und unaufgeregt voranschreiten. Eine europäische Ukraine ist diesen Kampf wert!

Wir müssen ein für alle Mal unsere Freiheitsrechte wiederherstellen und eine Nation aufbauen, die des Vertrauens und der Werte Europas würdig ist. Die Ukraine kann für ihre Bürger und unsere Nachbarn im Osten, Russland eingeschlossen, nur dann ein Beispiel einer erfolgreichen Europäisierung werden, wenn sie die europäischen Werte und den Rechtsstaat umsetzt und festigt. Ich halte das für den entscheidenden Faktor eines gemeinschaftlichen Erfolges der Ukraine und der EU.

Am ersten Tag des europäischen Maidan sah ich im Fernsehen ein junges Paar, das ohne Parolen oder Handzettel unter den Ersten auf dem Maidan war. Sie waren in zwei Flaggen gehüllt – die ukrainische und die europäische – und umarmten sich voll Vorfreude und Hoffnung. Dann sah ich, wie sie –   nass bis auf die Haut und im Regen frierend – sich darauf einrichteten, die Nacht hindurch dort auszuharren. Die Menschen um sie herum kamen und gingen, aber sie hielten Wache. Das ist so symbolkräftig, weil die beiden wie Millionen anderer Ukrainer das Leben und einander lieben, sich für die Ukraine engagieren und im Wesentlichen ein integraler Bestandteil einer vereinten zivilisierten Menschheit sind. Alles Alte, Korrupte, Unmoralische und Verschlagene steht hier im Weg wie ein verrotteter Baumstumpf und hindert uns am Leben. Dieses junge Paar, das für viele andere steht, glaubt daran, dass der Wandel möglich ist, dass das Gute obsiegt und dass sein Land seinen Gemeinsinn braucht. Wahrscheinlich wissen sie wenig über das Assoziationsabkommen und die DCFTA, aber sie haben verstanden, dass Europa Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte und eine gute Regierungsführung bedeutet. Wäre das nicht so, wären sie nicht gekommen, um auf dem Euromaidan zu wohnen.

Gemeinsam sind wir stärker. Ich glaube an Europa! Ich glaube an die europäische Ukraine!


Julia Timoschenko, geboren 1960 in Dnipropetrowsk (Ukraine), Vorsitzende der Partei „Batkiwschtschyna“ („Vaterland“), von Februar 2005 bis September 2005 und von Dezember 2007 bis März 2010 Premierministerin der Ukraine. Seit August 2011 in Haft, zurzeit in der Frauen-Strafkolonie Katschanowka.

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim.

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