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Zur Frage von Volksbegehren und Volksentscheiden

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Ein Wahljahr hat begonnen. In drei Ländern – im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein – werden die Landtage neu gewählt. Am 24. September finden die Bundestagswahlen statt, das wichtigste Datum im Leben unserer parlamentarischen Demokratie. Zugleich mehren sich die Stimmen, die sich auch auf Bundesebene mehr „unmittelbare Demokratie“ durch Volksbegehren und Volksentscheide wünschen und die die Frage aufwerfen, ob der Bundespräsident oder der Bundeskanzler beziehungsweise die Bundeskanzlerin nicht unmittelbar vom Volk gewählt werden sollten. Viele machen sich Sorgen um die Zukunft der Volksparteien, die in der Vergangenheit bei Wahlen häufig über achtzig Prozent der Stimmen auf sich zogen und dadurch erheblich zur Stabilität unseres Regierungssystems beigetragen haben, heute aber insbesondere bei Landtagswahlen kaum noch sechzig Prozent erreichen.

Beim Abwägen der Argumente sollten wir die jüngsten Erfahrungen mit dem Brexit und mit der Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA nicht übersehen. Der Brexit, der Beschluss der Wahlbürger Großbritanniens, die Europäische Union zu verlassen (51,9 Prozent zu 48,1 Prozent), lehrt uns, dass man die Wähler überfordern kann; dass man ihnen nicht abverlangen darf, äußerst komplizierte Sachverhalte mit sehr vielfältigen, langfristigen Folgen, die spezielle Fachkenntnisse verlangen, zu entscheiden und vereinfachenden und populistischen Parolen zu widerstehen. Die Wahl Donald Trumps lehrt uns ebenso, welche Folgen es haben kann, wenn fest gefügte, handlungsfähige Parteien fehlen, die in der Lage sind, wichtige Personalentscheidungen gründlich vorzubereiten. Ähnliche Erfahrungen sollten uns erspart bleiben.

„Prämie für Demagogen“

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die vor fast siebzig Jahren unser Grundgesetz entworfen haben, standen unter dem Eindruck der noch selbst miterlebten Erfahrungen mit Volksbegehren in der Weimarer Republik. Sie waren zwar in keinem Fall erfolgreich, dienten aber extremen Parteien wie der KPD und der NSDAP zu heftigen, radikalisierenden politischen Auseinandersetzungen. Theodor Heuss bezeichnete in Erinnerung daran Plebiszite als „Prämie für jeden Demagogen“.

Das Grundgesetz bekennt sich dazu, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und dass sie „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ wird (Artikel 20 Absatz 2). Eine Abstimmung beschränkt das Grundgesetz im Folgenden nur auf den Fall einer Totalrevision (Artikel 146) und einen Volksentscheid nur auf durch eine Neugliederung betroffene Länder (Artikel 29).

Nach einer infratest-dimap-Umfrage von Ende 2016 meint eine Mehrheit, dass direkte Demokratie keine bessere Alternative im Vergleich zur parlamentarischen Demokratie sei, auch wenn nur 58 Prozent zufrieden oder sehr zufrieden mit unserer Demokratie sind. Im Sommer 2016 glaubte jeder Zweite (49 Prozent), dass es bei Volksentscheiden nicht zu besseren Entscheidungen als bei Entscheidungen im Parlament komme.

Irrweg auf Bundesebene

Ich halte plebiszitäre Entscheidungen auf Bundesebene für einen Irrweg und nenne dafür vor allem acht Gründe:

1. Viele Sachverhalte lassen sich nicht auf eine Frage, die sich nur mit Ja oder Nein beantworten lässt, vereinfachen.

2. Plebiszite sind Momentaufnahmen, die Kompromisse schwer, wenn nicht unmöglich machen.

3. Die Ergebnisse hängen entscheidend davon ab, wer befragt wird. Befragt man die Anwohner des Münchener Flughafens nach ihrer Meinung zum Ausbau einer dritten Startbahn, kommt es zu einer Ablehnung. Befragt man die Bevölkerung ganz Bayerns, kann man mit einer Zustimmung rechnen.

4. Die Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt ist nicht jedermann gleich intensiv möglich. Der Student, die Rentnerin oder die nicht berufstätige Professorengattin kann sich stärker an der Debatte beteiligen als der, der morgens um sieben zur Arbeit gehen muss, abends heimkommt und dann noch die Hausaufgaben seiner Kindern durchsehen soll.

5. Plebiszite sind mitunter nicht frei von Egoismus. Sie erinnern an das Sankt-Florians-Prinzip. Man kann dafür sein, dass der langersehnte Autobahnanschluss gebaut wird, ist aber dagegen, dass er durch den eigenen Stadtteil führt. Das Gemeinwohl bleibt auf der Strecke.

6. Nach einem Plebiszit kann niemand persönlich zur Rechenschaft gezogen werden. Niemand trägt die persönliche Verantwortung. Niemand kann abgewählt werden, wenn sich sein Abstimmungsverhalten als fehlerhaft erweisen sollte. Norbert Lammert hat es so ausgedrückt: „Für die Irrtümer parlamentarischer Entscheidungen sind die Verantwortlichen immer identifizierbar, bei Bürgerentscheiden nie.“

7. Die Beteiligung an Wahlen ist nach allen Erfahrungen ungleich höher als bei Plebisziten. Nach einer TNS-Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2011 hielten 94 Prozent der Bürger Wahlen für die beste Beteiligungsform. Zudem gaben 39 Prozent an, sich nicht über Wahlen hinaus am politischen Meinungsbildungsprozess zu beteiligen, sondern lieber jemanden durch Wahlen beauftragen zu wollen. Beim Münchener Bürgerentscheid über die dritte Landebahn haben sich 32,7 Prozent beteiligt, 54,4 Prozent haben dagegen gestimmt. Das heißt: 17,6 Prozent der Abstimmungsberechtigten haben die Entscheidung getroffen.

8. Die Wahl des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers beziehungsweise der Bundeskanzlerin oder in den Ländern der Ministerpräsidenten unmittelbar durch die Wahlberechtigten würde unser parlamentarisches, repräsentatives Regierungssystem aus den Angeln heben und unser deutsches Regierungssystem grundsätzlich verändern. Wie soll ein vom Volk gewählter Bundeskanzler regieren, wenn er sich im Bundestag nicht auf eine Mehrheit stützen kann? Würde der Bundespräsident unmittelbar vom Volk gewählt, müsste ihm eine andere Rolle zuwachsen als der Parlamentarische Rat ihm aufgrund der Weimarer Erfahrungen zugewiesen hat. Und wer macht Wahlvorschläge? Wer führt den dann notwendigerweise vorausgehenden Wahlkampf? Wie soll das Zusammenspiel von Bundeskanzler und Bundespräsident aussehen? Der Übergang vom parlamentarischen auf ein präsidiales Regierungssystem wäre früher oder später unvermeidlich. Amerika und auch Frankreich lassen grüßen.

Demokratie braucht Demokraten

Zweifelsohne muss uns zunehmende Politik- und Politikerverdrossenheit beunruhigen und wir müssen mehr aktive Beteiligung am politischen Leben erreichen – aber nicht mit einem Instrument, das von Populisten und von Demagogen missbraucht werden kann. Mehr als zuvor kommt es darauf an, dass wir uns nicht nur auf unser allseitig gepriesenes Grundgesetz verlassen, sondern dass wir begreifen: Eine Demokratie braucht Demokraten! Wird sie bedroht und infrage gestellt, kommt es auf jeden Einzelnen an. Der heraufziehende Wahlkampf bietet die besten Möglichkeiten. Der amerikanische Wahlkampf hat uns vor Augen geführt, wie man einen Wahlkampf nicht führen sollte. Wir könnten beweisen, dass man es auch anders machen kann: Zum Beispiel indem man den politischen Konkurrenten nicht schlechtmacht, ihn als töricht, heuchlerisch und unehrlich abqualifiziert, sondern indem man ihn ernst nimmt und sich mit seinen Argumenten auseinandersetzt. Einen ernsthaften Konkurrenten zu haben, sollte uns freuen und nicht beunruhigen. Mit ihm lohnt sich die streitige Debatte. Konkurrenz belebt das Geschäft. Wer Profil zeigt, vitalisiert die Auseinandersetzung. Und wer sich daran stört, dass in einem Wahlkampf zu viel versprochen wird, könnte sich doch vornehmen, solchen übertriebenen Versprechungen nicht mehr Glauben zu schenken.

Der Wahltag könnte wieder zum Tag der Entscheidung zwischen den sich bewerbenden Kandidaten werden. Nicht auf die Abstimmung über diese oder jene gerade zufällige Tagesfrage kommt es an, sondern auf die Wahl der Persönlichkeit, der ich vertraue. Sie wird in der kommenden Legislaturperiode auch über Fragen entscheiden müssen, die noch nicht auf der Tagesordnung stehen. Mit seinem Koordinatensystem, mit seinen Wertvorstellungen muss ich übereinstimmen, jedenfalls mehr als mit den sich bietenden Konkurrenten.

Parteien müssen wissen, was die Bürger denken und fühlen. Sie sollen dem Volk „aufs Maul schauen“, aber ihm nicht nach dem Munde reden. Aber Parteien sollten vor allem Ziele vorgeben und die Bürger von der Richtigkeit ihrer Ziele überzeugen. Manche grundlegenden und langfristigen Weichenstellungen sind in den letzten siebzig Jahren von mutigen Politikern getroffen worden, bevor die Mehrheit der Bevölkerung ihre Richtigkeit in vollem Umfang erkannt hat. So hätte Ludwig Erhard zunächst nicht einmal in seiner eigenen Partei Zustimmung zur Sozialen Marktwirtschaft gefunden, Konrad Adenauer nicht für die Wiederbewaffnung. Helmut Schmidt hat seine Entscheidung für die NATO-Nachrüstung das Kanzleramt gekostet. Aber Helmut Kohl hat sie nach ihm erfolgreich durchgesetzt und dadurch entscheidend zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen.

Wer die Parteien schwächt, verspielt ihren Führungsauftrag und nimmt der parlamentarischen Demokratie ihre Lebenskraft. Wer sie stärken will, sollte sie kritisieren, aber er sollte sie nicht verdammen, sich nicht von ihnen abwenden, sondern mithelfen, dass sie ihre Sache besser machen. Er sollte mehr Demokratie wagen!

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''Bernhard Vogel'', geboren 1932 in Göttingen, 1976 bis 1988 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, 1992 bis 2003 Thüringer Ministerpräsident, Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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