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Die Wahrnehmung Yitzhak Rabins zwanzig Jahre nach seiner Ermordung

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Der junge Yitzhak Rabin Namsy hat viele Träume: Er will in der israelischen Armee dienen und sein Land, das Land, in das seine Eltern gleich nach seiner Geburt fliehen mussten, verteidigen. Er will mit seiner Mutter dauerhaft und sicher in Israel leben, ohne die Angst, ausreisen zu müssen. Er will wie seine jüdischen Freunde leben, den Sabbat halten und viele der jüdischen Glaubensregeln achten.

Er will sogar endgültig zum jüdischen Glauben konvertieren. Er will vor allem endlich von der Presse in Ruhe gelassen werden, die sich immer wieder mit großer Gier auf seine besondere Lebensgeschichte stürzt und sein Leben in die Öffentlichkeit zerrt. Er will wie ein ganz normaler israelischer Teenager leben.

Die Rede ist von einem in Jordanien geborenen Muslim, einem heute etwas mehr als 18-jährigen Teenager, der seinen Namen auf Wunsch seiner jordanischen Mutter Miriam nur aufgrund einer Sondergenehmigung des ehemaligen jordanischen Königs Hussein erhalten hat.

Die jordanischen Behörden waren entsetzt und wollten die Eintragung des Namens verweigern, aber der König, der eine aufrichtige Freundschaft zu seinem israelischen Verhandlungspartner pflegte, wollte diesen Wunsch nicht verweigern. Yitzhak Rabin Namsy erhielt seinen Namen einige Monate vor dem 4. November 1995, dem Tag der Ermordung seines großen Namensvetters, des Friedensnobelpreisträgers und Premierministers Yitzhak Rabin.

Bis heute verteidigt seine Mutter ihre ungewöhnliche Namensgebung, mit der sie letztlich in Jordanien ihre Familie in Gefahr gebracht und zur Flucht nach Israel gezwungen hat, mit etwas pathetischen, aber aufrichtigen Worten: „Warum sollte ich meinen Schritt bedauern? Yitzhak, der biblische Isaak, war ein Prophet für Juden und Muslime. Ist das nicht auch so bei Rabin? Die Jordanier wollen Frieden! Was sollte ich bedauern?“

 

Prophet, der nichts gilt?

Ganz gleich, ob man der gewagten Überhöhung Rabins zum „Propheten“ nun folgen möchte oder nicht: Es drängt sich bei der gegenwärtigen Wahrnehmung des er mordeten Premierministers in Israel unweigerlich das biblische Bild vom Propheten auf, der wenig im eigenen Land gilt – während seiner Person international weiterhin große Sympathien entgegengebracht werden.

Zwanzig Jahre nach Rabins Tod ist ein erbitterter Streit über das Erbe des Premierministers ausgebrochen, der von der Verehrung, wie sie Miriam Namsy und viele andere für Rabin empfunden haben, weit wegführt. Sie droht in der fortschreitenden politischen Polarisierung des Landes zerrieben zu werden. Denn der Streit um sein politisches Erbe spielt sich zwischen den rechten und linken Polen des politischen Spektrums in Israel ab. Dabei zeichnet sich inzwischen eine verstörende Mehrheit derjenigen ab, die in ihm keinen Held mehr sehen wollen. Schlimmer noch: Politische Rechtsaußen, wie die Partei des gegenwärtigen Bildungsministers (!) Naftali Bennet, sprechen an besseren Tagen von der „Oslo-Illusion“, an schlimmeren Tagen von den

„Oslo-Verbrechen“ der Politikergeneration um Rabin.

Oslo sei die Politik eines „Feiglings und Schwächlings“ gewesen, der mit seiner Naivität die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) international stark gemacht und die gefährliche Phase der Selbstmordattentate in den darauf folgenden Jahren erst ermöglicht habe– eine Verkennung von Ursache und Wirkung. Fast nie wird in solchen Beiträgen begründet, warum sein pragmatisches und realpolitisches Bemühen um eine Verständigung mit den Palästinensern eine verheerende Wirkung gehabt haben soll.

 

Verständnis für den Täter

Aus dem gleichen politischen Milieu stammt nicht nur der Versuch, Rabin vom Opfer zum Täter zu erklären, sondern folgerichtig auch der Ansatz, den Täter zu entschuldigen, wenn nicht zu glorifizieren. Im durchaus anerkannten Jerusalem Filmfestival wurde im Juni 2015 ein so genannter Dokumentarfilm gezeigt, der den Mörder Rabins, Jigal Amir, porträtiert, wenngleich der Film nach scharfen Protesten nur vor dem eigentlichen Festival und außerhalb des offiziellen Programms in der Jerusalemer Cinematheque gezeigt wurde. Ein suggestiver und plakativer Film, der den Versuch unternimmt, den Attentäter darzustellen, ohne die Tat selbst ernsthaft zu hinterfragen.

Im Mittelpunkt des Films steht neben dem Mörder, der in zwanzig Jahren Haft – seinen Äußerungen im Film zufolge– nichts dazugelernt hat, die Frau des Täters: Sie heiratete ihn im Gefängnis und macht im Film deutlich, wie sehr sie den Mann, der Rabin drei Kugeln in den Rücken gejagt und damit die Hoffnungen auf eine dauerhafte Lösung im Nahostkonflikt mit dem Premierminister ins Grab gebracht hat, als den wahren Helden in dieser Geschichte betrachtet. Sein Anwalt Ari Shamai versteigt sich gar zu der abenteuerlichen Behauptung, Amir habe das nur getan, weil er der Überzeugung war, der Staat Israel gehe – jiddisch formuliert – „kaputt“. Bei der Erstaufführung ist der Film regelrecht gefeiert worden. Eine wirkliche, kritische Auseinandersetzung mit dem Streifen, der den bezeichnenden Titel Beyond the Fear trägt, hat es in den Medien kaum gegeben.

Bereits etwas mehr als zehn Jahre nach Rabins Tod, 2006, sind laut Umfragen 25 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Auffassung, der Mörder Amir solle nach Ablauf von weiteren 25 Jahren Haft begnadigt werden. Zwanzig Jahre nach dem Attentat sind es mehr als dreißig Prozent, die eine baldige Freilassung Amirs befürworten. Zur selben Zeit geht auch die Erinnerung an Yitzhak Rabin verloren. Für 43 Prozent der Israelis, die jünger als 24 Jahre alt sind, ist die Ermordung des Politikers, trotz des offiziellen Gedenktages und trotz vielfacher, „verordneter“ Gedenkveranstaltungen nur noch ein beliebiges Kapitel in den Geschichtsbüchern.

Der Politiker und frühere Umwelt und Erziehungsminister Yossi Sarid beklagt mit bitteren Worten, wie sehr sich das israelische Volk in seinem Blick auf Rabin geändert habe: „Zwanzig Jahre nach der Ermordung erweckt der Mörder mehr öffentliches Interesse als das Opfer. Rabin ist zweimal gestorben. An dem Tag, an dem er ermordet wurde, und an dem Tag, an dem er vergessen wurde.“

 

Dilemma der Erinnerung

Seinen Amtsnachfolger Benjamin Netanjahu bringt das Erinnern an Rabin in ein echtes Dilemma: Einerseits kann er, der schon zu Lebzeiten Rabins zu seinen Gegenspielern gehörte, die Rabin-Kritiker in den eigenen Reihen des Likud nicht einfach ignorieren. Zum anderen kann er sich gerade im Gedenkjahr nicht gegen den Friedensnobelpreisträger stellen, ohne selbst Schaden zu nehmen. Umso mehr versucht „Bibi“, sich gerade in Sachen Härte und Realpolitik dezidiert in die Tradition Rabins zu stellen, indem er beispielsweise dessen entschiedenes Eintreten gegen die nukleare Bewaffnung des Iran in den Vordergrund stellt. Dabei wird leicht der kleine Unterschied übersehen, dass für Rabin der Iran die Motivation war, alle anderen Probleme Israels – insbesondere die Auseinandersetzungen mit den Palästinensern – zu lösen, um für das schwerwiegendere Problem den Kopf frei zu haben. Bei Netanjahu wird mancher Beobachter das Gefühl nicht los, dass die Auseinandersetzung mit dem Iran eher der Vorwand ist, alle anderen Probleme Israels zu ignorieren.

Die eigentliche Gefahr, die das Erbe Rabins für Netanjahu darstellt, liegt deshalb auf einer anderen Ebene. Der Journalist Asher Schechter meint zu wissen, was den Premier Rabin stark gemacht habe und nun auf gefährliche Weise brach liege. Er sei der Letzte gewesen, der nicht auf einen kurzfristigen Wahlerfolg geschielt, sondern das Rückgrat besessen habe, neue Wege zu gehen: „Vergesst Frieden! Vergesst Hoffnung! Vergesst Demokratie! Was Israel wirklich und wahrhaftig seit der Ermordung von Yitzhak Rabin verloren hat, ist die Fähigkeit, sein eigenes Schicksal zu gestalten.“ Ob man nun mit Rabins Politik im Einzelnen einverstanden sei oder nicht – und im Gegensatz zu seiner „Heiligsprechung“ gebe es genügend Anlass zu Kritik und gegensätzlichen Meinungen –, unzweifelhaft sei aber, dass es Rabin, und nur Rabin, gewesen sei, der eine größere Vision, ein langfristiges Ziel gehabt habe.

 

Extremistische Gefahr heute

Eine andere Reaktion, die ebenfalls in der medialen Einschätzung Rabins eine Rolle spielt, ist bezeichnend für den gegenwärtig herrschenden Grad der Polarisierung. Einer der engsten Fahrensmänner Rabins, der kluge und immer noch einflussreiche Eitan Haber, der zwischen 1992 und 1995 sein Bürochef war, zieht in diesen Tagen, in denen sich das Attentat jährt, eine sehr besorgte Parallele zwischen Yitzhak Rabin und dem gegenwärtigen Staatspräsidenten Reuven „Rubi“ Rivlin.

Rabin habe Umfragen, die bescheinigten, dass immerhin ein Prozent der Israelis bereit sei, die Waffe gegen ihn zu richten, zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Den gleichen Fehler solle Rivlin nicht begehen, der – und das ist die besorgniserregende Nachricht zwanzig Jahre später – inzwischen die gleiche Bedrohungsgefahr gewärtigen müsse. Selbst unter jenen, die Rabin kritisch gesehen haben, herrscht auch heute noch Entsetzen vor, dass es ein Jude war, der den Juden Rabin tötete. Der jüdische Extremismus zeigt zunehmend, wie zuletzt auf der Gay-Parade in Jerusalem und bei dem Brandanschlag auf die Brotvermehrungskirche in Tabgha, erhebliche Bereitschaft zur Gewalt.

Rabin mag durch sein dezidiertes Eintreten für eine Friedenslösung, durch sein umstrittenes Zugehen auf Arafat gespaltene Meinungen zu seiner Person und seinem Lebenswerk hinterlassen haben, aber er hat zwei erinnerungswürdige Taten vollbracht, die bleiben werden und an deren Weiterführung es gegenwärtig so sehr mangelt. Er hat Hoffnung verbreitet und damit weite Teile des Volkes geeint. Und er hat Israel durch seine mutige Politik international Anerkennung verschafft. Dass die gegenwärtige Regierung die Notwendigkeit einer Friedenslösung so nachhaltig ignoriert, das ist an Rabins zwanzigstem Todestag für all jene, denen die Sicherheit und Existenz Israels am Herzen liegt, vielleicht der größte Schmerz.


Michael Borchard, geboren 1967 in München, Leiter des Auslandsbüros Israel der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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