Bestechende Ideen sind fast immer simpel – man muss nur auf sie kommen. Etwa auf jene, die eine Schülergruppe des Städtischen Gymnasiums Herten (Nordrhein-Westfalen) während einer Studienfahrt nach Auschwitz hatte. Bei einem Zeitzeugengespräch mit dem 89-jährigen KZ-Überlebenden Tadeusz Sobolewicz fiel den Schülern eine Formulierung ein, die ihre eigene Rolle perfekt beschrieb: „Wir müssen und wollen die Geschichten weitererzählen – wir sind ,Zweitzeugen‘.“ Mit einem gleichnamigen Projekt bewarben sich die Schüler beim Wettbewerb DenkT@g 2014 der Konrad-Adenauer-Stiftung und gewannen direkt den ersten Preis. Die Jury lobte die Vielfalt der Inhalte auf der eingereichten Website, ihre Multimedialität und den lokalen Zugang über die Erforschung eines Zwangsarbeiterlagers auf dem Gelände ihrer Schule; vor allem aber beeindruckte der Mut, mit der Wortschöpfung „Zweitzeugen“ einen neuen Begriff für ihr Engagement vorzuschlagen.
Die Zeitzeugen verschwinden
Siebzig Jahre nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz ist es unübersehbar, dass die Zeitzeugen verschwinden. Ein paar Dutzend Überlebende gibt es noch, die über ihr Leiden in Birkenau berichten können. Ein paar Hundert sind es, bezieht man die Opfer der vielen anderen Verbrechen des NS-Regimes ein. Die allerletzten noch lebenden Täter sind durchweg um die neunzig Jahre alt oder älter; zwar laufen noch Ermittlungsverfahren gegen einige von ihnen, doch zu rechtskräftigen Urteilen wird es wohl nicht mehr kommen. Da bald keine Zeitzeugen mehr Auskunft geben können, müssen andere, Jüngere dafür sorgen, dass der Zivilisationsbruch des Dritten Reiches nicht in Vergessenheit gerät: die „Zweitzeugen“.
Wieder einmal ändert sich die Wahrnehmung des Holocaust in der deutschen Gesellschaft. Die Geschichtswissenschaft hat dafür ein Wort: Historisierung. Die Massenvernichtung von sechs Millionen europäischer Juden zwischen 1941 und 1944 verlässt gegenwärtig die Zeitgeschichte, verstanden als die Vergangenheit der Erlebnisgeneration, und braucht einen anderen Platz. Natürlich unterscheidet sich die Historisierung des Holocaust von der anderer Epochen, etwa der des Kaiserreiches der Hohenzollern. Denn der Auftrag des Holocaust „Nie wieder!“ bleibt bestehen.
Tiefere Zäsur
Der Umgang mit dem nationalsozialistischen Rassenmord in der deutschen Nachkriegsgesellschaft war nie statisch; insofern ist die anstehende Veränderung nicht ungewöhnlich. Aber mit dem Verschwinden der Zeitzeugen ändert sich etwas Fundamentales, was diese Zäsur tiefer erscheinen lässt als frühere. Das zeigt der Vergleich mit anderen Phasen der Auseinandersetzung mit dieser wichtigen Facette der deutschen Geschichte.
Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 wurde die Aufarbeitung überwiegend von außen oktroyiert. Mit dem 22 Minuten langen Film „Todesmühlen“, einem Zusammenschnitt aus Dokumentarbildern befreiter Konzentrationslager und NS-Propagandamaterial, sowie mit Zeitungsberichten über die Prozesse gegen Hauptkriegsverbrecher, KZ-Personal und andere NS-Täter, die von alliierten Presseoffizieren veranlasst wurden, sollten den Deutschen in einer Art Schocktherapie der wahre Charakter des NS-Regimes vor Augen geführt werden. Die Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit war groß, aber nicht quotenstark: In den 51 Kinos im US-Sektor von Berlin liefen die „Todesmühlen“ eine Woche lang. Theoretisch hatten diese Kinos, zählt man alle Aufführungstermine zusammen, eine Kapazität von knapp 600.000 Plätzen – eine Zahl leicht unter jener der erwachsenen Einwohner. Tatsächlich sahen aber nur 157.000 Menschen den Film, das heißt, nur etwa jeder vierte erwachsene Berliner im US-Sektor nutzte die Gelegenheit, die Gräuel der Lager drastisch vorgeführt zu bekommen. Der Kommentator der Lizenzzeitung Der Tagesspiegel folgerte im April 1946: „Fünfundsiebzig Prozent wollten sich nicht schämen.“
Dennoch: Jeden vierten Erwachsenen zu erreichen, war objektiv betrachtet eine gute Quote. In den ersten Jahren nach dem Ende des Dritten Reiches spielte, nicht zuletzt im Zeichen der Entnazifizierung und der zahlreichen Strafverfahren gegen große und gegen kleine Mittäter, die Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen eine wichtige Rolle. Stand auch das eigene Weiterleben an erster Stelle, gefolgt von Sorgen um verschollene Verwandte und Freunde und den Mühen des Wiederaufbaus, ignoriert wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit die im deutschen Namen verübten Gräuel nicht.
Der Wunsch nach dem „Schlussstrich“
Das änderte sich allerdings mit der Gründung der beiden deutschen Staaten drastisch. Während des aufkommenden Kalten Krieges war in den drei Westzonen wie in der Sowjetischen Besatzungszone die Entnazifizierung beendet worden. In der jungen Bundesrepublik setzte sich die Vorstellung durch, die Verfolgten des NS-Regimes, die überlebt hatten, seien in gleicher Weise Kriegsopfer wie Ausgebombte, Vertriebene oder heimgekehrte Kriegsgefangene. Einen „Schlussstrich zu ziehen“ wurde zu einer populären Forderung; es gab sogar Demonstrationen für die Freilassung einsitzender Massenmörder. Als Konrad Adenauer 1952 eine Einigung mit Israel über eine pauschale Wiedergutmachung erreichte, hatte er die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich: Jeder zweite Westdeutsche lehnte einer repräsentativen Umfrage zufolge das Luxemburger Abkommen ab. Nur gut jeder vierte begrüßte es, fast ebenso viele äußerten sich nicht. Antisemitische Vorurteile nahmen deutlich zu, der Holocaust verschwand weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung. Nicht besser, nur anders war die Situation in der DDR. Hier hatte das kommunistische Regime ein klares Angebot gemacht: Wer sich dem Machtanspruch der SED total unterwarf und ihn durchzusetzen half, konnte im Zeichen der Staatsideologie des „Antifaschismus“ die Vergangenheit hinter sich lassen. Jüdische Opfer spielten im Kult der „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten“ praktisch keine Rolle.
Konjunktur der Zeitgeschichte
Erst mit der Berichterstattung über den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem und dem Frankfurter Auschwitzprozess 1963 begann die Aneignung der NS-Verbrechen in der westdeutschen Gesellschaft erneut. Eine neue Generation von Juristen trieb, unterstützt von einigen älteren Richtern und Generalstaatsanwälten, die strafrechtliche Aufarbeitung voran. Einen deutlichen Dämpfer erhielt die Entwicklung allerdings Ende der 1960er-Jahre, als vielfach aus der DDR gesteuerte Aktivisten eine aggressive, tribunal-ähnliche Stimmung entfachten, die große Teile der Erlebnisgeneration verstummen ließ. Im Gegensatz zum selten hinterfragten Selbstbild haben die „68er“ die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen weder initiiert noch gefördert, sondern erschwert. Der Ansatz des Auschwitzprozesses verpuffte letztlich.
Ausgerechnet ein kitschiger US-Fernsehvierteiler führte zu neuem Interesse. Die Serie „Holocaust“ etablierte 1979 einen griffigen Begriff für das bis dahin namenlose Grauen der Judenvernichtung. Insgesamt sahen mehr als zwanzig Millionen Westdeutsche mindestens eine Folge. Junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren verfolgten zu 68 Prozent mindestens einen Teil der Serie; selbst bei den über 60-Jährigen, die den Zweiten Weltkrieg als Erwachsene erlebt hatten, waren es 47 Prozent. Das Fernsehereignis löste eine Konjunktur der Zeitgeschichte aus, die seither mit einer Unterbrechung infolge der Deutschen Einheit andauert und die Bundesrepublik zu dem Land gemacht hat, das sich weltweit am stärksten mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzt.
Dem enorm angewachsenen Interesse entsprach eine Zunahme von Gedenkstätten, Ausstellungen und TV-Dokumentationen. Viele akademische Historiker fremdelten jedoch mit diesem Aufschwung, in dem sie vermutlich einen Angriff auf ihre Deutungshoheit sahen. In Wirklichkeit war die Entwicklung uneingeschränkt positiv, denn sie führte zu breiter gesellschaftlicher Akzeptanz. Forderungen nach einem „Schlussstrich“ oder gar die Leugnung des Massenmordes wurden zu marginalen Randphänomenen der freien Gesellschaft.
Wesentlichen Anteil an der stetigen Auseinandersetzung hatten Zeitzeugen. Gerade in den 1990er-Jahren erlebten Veranstaltungen mit Überlebenden der Todeslager und der Ghettos großen Zulauf. Dem letzten Auftritt von Mietek Pemper, dem Helfer Oskar Schindlers in Berlin, dankte das Publikum mit Standing Ovations. Viele ehemals Verfolgte konnten so im hohen Alter noch die Genugtuung erleben, dass sich nachgeborene Generationen für ihr Schicksal interessierten.
Neuer Antisemitismus
Diese Phase neigt sich nun unweigerlich dem Ende zu; daher ist das Engagement jüngerer Menschen umso wichtiger. Denn so sehr das Grauen des Holocaust heute zum deutschen kollektiven Bewusstsein gehört – vor neuen Formen des Antisemitismus schützt das allein nicht. Bedenklich sind heute vor allem zwei Entwicklungen: In vermeintliche Kritik an Israel gekleidete Judenfeindschaft, verharmlosend auch „Antizionismus“ genannt, nimmt vor allem links-außen im politischen Spektrum zu; hier gibt es Anknüpfungspunkte zu älteren Mustern aus der DDR und der radikalen Linken in Westdeutschland. Andererseits wächst islamistisch getriebener Judenhass, eine direkte Folge der Propaganda im Nahost-Konflikt. Bei arabisch- und inzwischen auch türkischstämmigen Jugendlichen in der Bundesrepublik ist diese Entwicklung ebenso zu verzeichnen wie etwa in Frankreich. Die meisten antisemitischen Straftaten in jüngerer Zeit dürften diesem Spektrum zuzuordnen sein. Da aber jede Form von Judenfeindschaft eine offene Gesellschaft vergiftet, bleibt Aufklärung über den nationalsozialistischen Massenmord so wichtig. In der Zukunft muss diese von „Zweitzeugen“ übernommen werden.
Sven Felix Kellerhoff, geboren 1971 in Stuttgart, Historiker und Sachbuchautor, Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der „Welt“-Gruppe.