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Militärische Spannungsfelder und NATO-Erweiterung im Norden Europas

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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine Zeitenwende auch im Norden Europas ausgelöst. Durch den Krieg wurden Entwicklungen zur Ausrichtung der Sicherheitsstruktur beschleunigt, die sich bereits nach der Annexion der Krim 2014 abgezeichnet hatten. Ebenso wurden jahrzehntelange Gewissheiten für Länder wie Schweden und Finnland außer Kraft gesetzt.

Die angekündigte Aufnahme der ehemals neutralen beziehungsweise bündnisfreien Länder Schweden und Finnland war einer der zentralen Beschlüsse auf dem NATO-Gipfel in Madrid im Juni 2022, nachdem beide Länder ihre Beitrittsanträge einen Monat zuvor gestellt hatten. Die Entscheidung dafür war durch eine breite Unterstützung in der Bevölkerung und einen raschen parteiübergreifenden Konsens in den Parlamenten herbeigeführt worden. Finnland war in dem Prozess die treibende Kraft, Schweden verhielt sich aufgrund seiner 200 Jahre lang gepflegten Neutralität lange Zeit zurückhaltend.

Ohne weitere Blockaden wie die türkische, die am Vorabend des NATO-Gipfels mit einer Übereinkunft zwischen der Türkei, Schweden und Finnland zunächst ausgeräumt werden konnte, könnten beide Länder bereits in sechs Monaten aufgenommen werden. Die Chancen dafür stehen gut: Anfang August hatten bereits 23 von dreißig Staaten die Ratifizierung abgeschlossen. Als Enhanced Opportunity Partners (Mitglieder der Partnerschaft für erweiterte Möglichkeiten, EOP) arbeiteten Schweden und Finnland schon seit Anfang der 1990er-Jahre eng mit der NATO zusammen (im Fall von Schweden sogar deutlich länger). Ihr Beitritt zu dem Bündnis wird die sicherheitspolitische Lage in der Ostsee und der Arktis verändern und vereinfacht die Verteidigungsplanung insbesondere für das Baltikum. Geostrategisch wird Nordeuropa nun ein kohärenter Raum, der mit Ausnahme von Kaliningrad und Sankt Petersburg unter dem Schutz der NATO steht.

Dänemark, mit Grönland und den Färöer-Inseln ein langjähriger zuverlässiger Partner der NATO, hatte sich noch im Juni 2022 in einem Referendum für eine engere Verteidigungszusammenarbeit auch innerhalb der Europäischen Union ausgesprochen und somit seinen noch aus dem Jahr 1993 stammenden sicherheitspolitischen Vorbehalt aufgegeben.

Norwegen hatte als NATO-Staat stets eine Balance zwischen militärischer Abschreckung und guter regionaler Nachbarschaft mit Russland befürwortet. Eine dauerhafte Präsenz von NATO-Einheiten im eigenen Land hatte es nie zugelassen. Für Norwegen steigt nun allerdings durch die geografische Nachbarschaft zur russischen Kola-Halbinsel mit dem strategisch wichtigen Hafen Murmansk das Risiko einer Konfrontation mit Russland im Zuge der Aufrüstung der russischen Nordflotte. Putin erwähnte während einer Marineparade in Sankt Petersburg Ende Juli 2022 ausdrücklich Russlands Anspruch auf seine Seegrenzen in der Arktis.

In Moskau mehren sich zugleich Stimmen von Kreml-Politikern, die das 2010 mit Norwegen geschlossene Abkommen über die Seegrenze der Inselgruppe Svalbard (Spitzbergen) und die gegenseitige Zusammenarbeit bei der Fischerei im Nordmeer infrage stellen. Als Vorwand gilt die angeblich schlechte Versorgung der russischen Minenbetreiber auf Svalbard, ohne dabei zu erwähnen, dass die Mehrheit der Bergbauarbeiter aus dem Donbas stammende Ukrainer sind und eine Lebensmittelversorgung problemlos über Murmansk erfolgen könnte. Svalbard steht seit dem Spitzbergen-Vertrag von 1920 unter norwegischer Verwaltung, erlaubt aber Signatarstaaten wie Russland wirtschaftliche Tätigkeiten, in diesem Fall das Betreiben eines (wenn auch unwirtschaftlichen) Bergwerks.

Die Verteidigungszusammenarbeit zwischen den Nordischen Ländern mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der NATO hatte sich bereits in den Jahren zuvor deutlich verstärkt. Alle fünf Nordischen Länder traten 2014 der von Großbritannien angeführten Joint Expeditionary Force ( JEF) bei, einer multinationalen Expeditions- und schnellen Eingreiftruppe, mit dem Ziel, die Interoperabilität zu verbessern und mehr Abschreckung zu erzielen. Aktiv beteiligt im Rahmen der EU-Verteidigungsinitiative für die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) waren seit 2017 Finnland, Schweden und Norwegen; Dänemark kann jetzt nach Rücknahme des Vorbehalts folgen. Auch die Nordische Verteidigungszusammenarbeit (Nordic Defense Cooperation, NORDEFCO) hat nach der Krim-Annexion 2014 starken Auftrieb erhalten und ihren Schwerpunkt auf den Ausbau der Territorialverteidigung sowie die Interoperabilität zwischen den nordischen Ländern gelegt.

Mit dem Beitritt Finnlands erhält das NATO-Gebiet eine über 1.300 Kilometer lange Grenze zu Russland. Als eines der flächenmäßig größten Länder Europas mit nur 5,5 Millionen Einwohnern verfügt Finnland über modern ausgestattete Streitkräfte, außergewöhnlich gute operative Kenntnisse über Russland und besondere Fähigkeiten zur Kriegsführung in klimatisch schwierigen Regionen wie der Arktis. Noch im Dezember 2021 hatte Finnland 64 moderne F-35-Kampfflugzeuge in Auftrag gegeben; dies lässt die Verteidigungsausgaben des Landes auf über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen.

Die schwedische Regierung hatte bereits Ende 2020 beschlossen, die Rüstungsausgaben bis 2025 um vierzig Prozent sowie die Personalstärke der Armee auf 90.000 zu erhöhen. Die Verteidigungsausgaben sollen nun, nach Beginn des russischen Angriffskriegs, weiter aufgestockt werden, sodass sie spätestens 2028 das Zwei-Prozent-Ziel erreichen werden.

Schweden verfügt über eine hochentwickelte Rüstungsindustrie sowie eine kompetente militärische Aufklärung, geprägt von langjähriger Zusammenarbeit mit den USA und Großbritannien. Die Entscheidung, die Verteidigung der Insel Gotland zu verbessern, war bereits vor dem russischen Angriffskrieg im Februar getroffen worden. Im Konfliktfall rechnet man aufgrund der besonderen Lage der Insel im südlichen Ostseeraum mit einer russischen Invasion.

Schweden und Finnland haben eine lange Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen mit dem Nachbarn. Vom Ende des 15. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts führte Schweden etliche Kriege gegen Russland, nicht zuletzt im Nordischen Krieg gegen das russische Zarenreich unter Peter dem Großen, der 1721 mit einer Niederlage endete und dazu führte, dass Schweden seinen Status als europäische Großmacht verlor. In diesem Zusammenhang ist eine Rede Putins Anfang Juni 2022 bemerkenswert, in der er sich in der Nachfolge von Peter dem Großen wähnte. Der Zar habe sich russische Gebiete aus Schweden damals lediglich zurückgeholt. Seitdem habe sich in der Weltpolitik nur wenig geändert, und Russland werde an seinem Vorgehen von damals weiter festhalten.

Finnland wurde 1917 mit seiner Befreiung von der Dominanz des russischen Zarenreiches unabhängig. Die Erfahrungen, die Finnland im Winterkrieg 1939/40 und nach 1941 gegen die Sowjetunion machte, prägten seitdem die nationale Sicherheitsagenda und Verteidigungsstrategie des Landes.

Moskaus Krieg gegen die Ukraine wirkt wie Sprengstoff auf die Balance im hohen Norden, denn bislang konnte der Westen über den Arktischen Rat, gegründet 1991, in der Region gut mit Russland zusammenarbeiten. Es ging dabei um Umweltschutz, wissenschaftliche Kooperation, die Rechte der indigenen Bevölkerung sowie die friedliche und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen in der Arktis. Sicherheitsfragen waren dabei bewusst ausgeklammert.

Mit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde diese Zusammenarbeit im Arktischen Rat, in dem Russland derzeit den Vorsitz hat, ausgesetzt. Auch wissenschaftliche Projekte zwischen den Universitäten und Forschungseinrichtungen wurden auf Eis gelegt. Der einst lebhafte Grenzverkehr zwischen Nordnorwegen und der russischen Region von Murmansk ist stark zurückgegangen, auch wenn Einreisevisa für Bewohner des russischen Nordens trotz heftiger Kritik weiter ausgestellt werden.

 

Gabriele Baumann, geboren 1963 in Berlin, Leiterin des Regionalprogramms Nordische Länder, Konrad-Adenauer-Stiftung, mit Sitz in Stockholm (Schweden).