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Frankreichs politische Lage

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Es ist vermutlich übertrieben, zu sagen, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Beginn seines Wirkens davon geträumt hat, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen – die deutsch-französischen Beziehungen jedoch stellte er sich offenkundig wie ein Fest vor. Sein Werben mit Blick auf Berlin für große europäische Initiativen, seine Hoffnung auf Unterstützung durch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel waren der Kern eines neuen außenpolitischen Entwurfs, der sich mit dem routinierten Stillstand der Verhältnisse nicht länger abfinden wollte. Im Ergebnis jedoch, und darum geht es hier, wurde wenig bis nichts erreicht, gemessen an den kühnen Plänen. Und was für das deutsch-französische Verhältnis und die Außenpolitik gilt, das stimmt auch für fast alle anderen Politikfelder, die Macron einst so frisch und frei zu beackern begann.

Zu sagen, dass er gescheitert sei, hieße, allzu melodramatisch zu formulieren. „Entzaubert“ trifft es besser, Ernüchterung passt zu den Vorgängen, die sich abgespielt haben, in deren Verlauf ein großer Hoffnungsträger zu einem demokratisch auf Normalmaß gestutzten Politiker wurde. Dass er nun am Ende das System zu sprengen scheint, das ihn selbst hervorbrachte, steht noch nicht abschließend fest, es wäre allerdings das bittere Ende einer strahlenden Karriere. Wie konnte es so weit kommen?

 

„Jahr des französischen Stolzes“

Mitte Januar 2024 trat Macron gut gelaunt vor die Presse und zählte alle Ereignisse auf, die Frankreich im Jahresverlauf ins Zentrum des Weltinteresses stellen würden: Der 80. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie stand an, die Olympischen Spiele, die Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame. „Es wird ein Jahr des französischen Stolzes“, verkündete der Präsident, unter der vergoldeten Stuckdecke des Festsaals des Élysée-Palastes stehend, über ihm Kronleuchter so groß wie Gestirne. Wochenlang hatte Macron ein „Rendezvous“ mit der Nation versprochen, das sich dann allerdings als banale Pressekonferenz entpuppte, in der viel von „Kühnheit“, „Aktion“ und „Schlagkraft“ die Rede war, ja sogar von der „demografischen Wiederbewaffnung“ Frankreichs.

Es war ein Versuch der Autosuggestion. Macron bildete sich ein, das Blatt, wie so oft zuvor, wenden und die sich ankündigende schmachvolle Niederlage seiner Partei bei den Europawahlen durch ein paar berührende Bilder von uralten Veteranen an den weiten Stränden der Normandie verhindern zu können.

Zu diesem Zeitpunkt hatten ihn bereits drei Warnungen aus dem Finanzministerium erreicht, dass man zu optimistische Rechnungen angestellt hatte. Gemessen an der Wirtschaftsleistung, werde die Neuverschuldung nicht bei den in Europa als Obergrenze vereinbarten drei Prozent liegen – sondern eher doppelt so hoch, bei sechs Prozent. Den Vorschlag eines Nachtragshaushalts soll der Präsident mit den Worten abgelehnt haben, dass man die Franzosen so kurz vor den Wahlen nicht verängstigen dürfe.

Geholfen hat es ihm nicht. Sein Jahr des französischen Stolzes ging am Abend des 9. Juni abrupt zu Ende. Bei den Europawahlen hatte knapp die Hälfte der französischen Wähler für euroskeptische Kandidatinnen und Kandidaten gestimmt, vierzig Prozent für einen Rechtspopulisten. Die Karte Frankreichs war in das Marineblau von Marine Le Pens Rassemblement National (RN) getaucht. In 93 Prozent der Wahlkreise ging die rechtsnationale Partei als klarer Sieger aus der Wahl hervor. Nur Paris, die Großstädte und ihre unmittelbaren Vororte bildeten eine Ausnahme.

 

Gespalten wie selten zuvor

Frankreich wirkte kaum je so gespalten wie an diesem Tag. Es war, grob gesagt, zweigeteilt in urbane Besserverdiener hier und eine abgehängte Provinzbevölkerung da. Außerdem gedrittelt in Rechtspopulisten, Linke bis Linksextreme und eine schwächelnde Mitte. RN-Spitzenkandidat Jordan Bardella forderte noch am Wahlabend Konsequenzen. Wenige Minuten später kündigte Macron die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen an.

Hat sich Macron wirklich eingebildet, dass ihm die eilig einberufenen Neuwahlen neuen politischen Handlungsspielraum geben könnten? Oder wollte er gar den RN siegen sehen, um die an Professionalität mangelnde Partei drei Jahre lang vorführen zu können? Nahm er es zumindest sehenden Auges in Kauf? Macron hat die Politik von Anfang an wie ein Pokerspiel betrieben. Und mit seiner Entscheidung für Neuwahlen hat er sich, um im Bild zu bleiben, zum ersten Mal gründlich verzockt. Es trat sich nicht die „Klärung“ der Verhältnisse ein, die er in Aussicht stellte – vielmehr verfestigte sich die bereits bestehende Verwirrung und Instabilität.

Er hätte es besser wissen können. Bereits bei seiner eigenen Wiederwahl 2022 war Macron von der Wählerschaft gerupft worden. In der Stichwahl erzielte er im direkten Duell mit Le Pen nur noch 58 Prozent – von denen geschätzt die Hälfte nicht für ihn stimmten, sondern gegen seine Konkurrentin. Macrons Wiederwahl war eine Wahl wider Willen.

Diese demokratische Malaise, für einen Kandidaten stimmen zu müssen, nur um Schlimmeres zu verhindern, bestätigten die Parlamentswahlen im Juni 2022. Dem RN gelang es, die Zahl seiner Mandate zu verzehnfachen, während Macron die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verlor. Seine in Renaissance umbenannte Partei La République en Marche (LREM) stellte eine Minderheitsregierung, die ganze 23-mal auf den Verfassungsartikel 49.3 zurückgreifen musste, um Gesetze per Verordnung in Kraft zu setzen.

 

Schwierige Regierungsbildung

Die Neuwahlen haben an der Grundkonstellation nichts geändert. Gewiss: Ein veritabler Sieg samt Mehrheit der Rechtspopulisten, wie sie ihn selbst erhofft hatten, wurde noch einmal verhindert. Aber der RN erstarkt stetig und hat nun mit 126 von 577 Abgeordneten im Parlament eine Art Sperrminorität. Auch deshalb gestaltete sich die Regierungsbildung außergewöhnlich schwierig. Bündnisse mit Le Pen sind tabu, aber der politische Betrieb Frankreichs, an die Stabilität eines Mehrheitswahlrechts gewöhnt, fremdelt ganz grundsätzlich mit der Kompromisskultur, die für die Bildung von Bündnissen notwendig wäre. Es wird nicht nach Gemeinsamkeiten, sondern nach Abgrenzung gesucht.

Ausgeschlossen wurde, außer von ihnen selbst, jedwedes Wahlbündnis mit der neu vereinten Linken. Die Wahlplattform von Sozialisten (Parti socialiste, PS), Grünen, Kommunisten und den Linksextremisten des „Unbeugsamen Frankreich“ (La France insoumise, LFI) vereinigte sich, trotz enormer ideologischer Gegensätze nicht zuletzt in außenpolitischen Fragen, zu einer „Neuen Volksfront“ (Nouveau Front Populaire). Sie trug immerhin entscheidend dazu bei, einen Sieg der Rechtspopulisten zu verhindern.

War es das letzte Mal, dass der in Frankreich sogenannte front républicain, die Brandmauer gegen den Rechtspopulismus, gehalten hat? Aus heutiger Sicht wirkt das wahrscheinlich. Drückt sich im Ergebnis der Wunsch nach anderen, pluralistischeren Formen der Repräsentation in Frankreich aus? Auch das scheint offensichtlich: Die Zeiten einer vertikalen, quasi monarchistischen Machtausübung gehen zu Ende.

Nun ist Michel Barnier seit Anfang September 2024 Premierminister. Der ehemalige Brexit-Chefunterhändler der Europäischen Union mag zu den erfahrensten Politikern Frankreichs gehören, er ist allerdings ein Regierungschef von Gnaden der Opposition. Ohne eigene Mehrheit liegt das Schicksal seiner Regierung in der Hand der Rechtspopulisten. Ein Misstrauensvotum der Linken, dem sich Fraktionschefin Le Pen anschließen könnte, genügte – und schon wäre Barniers Regierung Geschichte.

Dabei steht der konservative Barnier vor einer unmöglichen Mission. Eine Gesamtschuldensumme von mehr als drei Billionen Euro lastet auf Frankreich; das entspricht 110 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das Geld ist also dramatisch knapp. Barnier muss sechzig Milliarden Euro im Jahr 2025 einsparen. Aber wie?

Die nötigen Einsparungen stehen im radikalen Gegensatz zu den Versprechen sowohl der rechts- als auch der linkspopulistischen Fraktionen. Sie laufen sogar den Überzeugungen Macrons zuwider, der sieben Jahre lang eine Angebotspolitik betrieben hat, die Frankreich wettbewerbsfähiger und für Investoren attraktiver werden ließ, am Ende jedoch ohne eine Vergemeinschaftung der Schulden in Europa nicht finanzierbar war. Wie Barnier in dieser Konstellation politisch lange überleben will, ist im Moment ein Rätsel.

 

Ursprüngliche Idee zu Staub zerfallen

Und Macron? Kann er seine zweite Amtszeit unbeschadet zu Ende bringen? Als er vor sieben Jahren in den Élysée-Palast einzog, erschien er vielen wie der langersehnte Retter eines verkrusteten Zwei-Parteien-Systems. Sein Sieg und die Art und Weise, wie er errungen wurde, hatten den politischen Betrieb gesprengt. Die klassischen politischen Familien erlitten einen Schlag, von dem sie sich bis heute nicht erholt haben. Die konservativen Les Républicains, Schwesterpartei der CDU, wurden erst stark dezimiert und spalteten sich am Ende gar über die Frage, wie man sich zur erstarkenden Rechtsextremen verhalten wolle. Das gesamte Parteiensystem Frankreichs wurde zwischenzeitlich totgesagt. Aber tatsächlich ist nun der Macronismus am Ende.

Macrons ursprüngliche Idee einer Politik der Mitte, einer nationalen Versöhnung, ist zu Staub zerfallen. Viele seiner einstigen Weggefährten haben sich von ihm abgewandt, zuletzt sein einstiger Premierminister Gabriel Attal. Seine treuen Anhänger führen an, dass sich die Umstände von Anfang an gegen ihn gerichtet hätten – die Gelbwesten-Krise, die Corona-Pandemie, die neuen Kriege. Solche Konstellationen sind zweifellos Gift für einen ehrgeizigen Reformer. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Macron noch ein solcher ist.

Die Geschichte wird wohl dereinst gnädiger mit ihm umgehen, als viele seiner Landsleute das heute tun. Für den Moment wirkt es so, als habe da einer die Verhältnisse zum Tanzen gebracht, die Party allerdings ist längst vorbei. Macron, der Europäer, hat anfangs viel, dann vor allem Symbolisches bewirkt. Macron, der Franzose, hat eine Systemkrise riskiert, jedoch ohne erkennbaren Gewinn. Macron, der Treiber der deutsch-französischen Freundschaft, hat rechts des Rheins kein passendes Pendant gefunden, vermochte aber auch offenkundig nicht zu überzeugen. Dafür bleiben ihm theoretisch noch drei Jahre. Praktisch wirkt er an manchen Tagen bereits heute wie ein erlahmter Held nach dem Abstieg vom Olymp.

 

Martina Meister, geboren 1964 in Berlin, seit 2015 freie Frankreich-Korrespondentin für „Die Welt“ und „Welt am Sonntag“, Paris.

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