Jedes Mal, wenn man mich in den letzten Jahren fragte, was Adenauers Sekretärin mache, habe ich geantwortet, dass der Begriff „Sekretärin“ weit untertrieben sei, Anneliese Poppinga habe vielmehr für meinen Großvater quasi die Rolle gespielt, die Johann Peter Eckermann für Johann Wolfgang von Goethe übernahm.
Anneliese Poppinga, am 3. Oktober 1928 geboren und am 16. April 2015 verstorben, nahm 1958 als fast Dreißigjährige ihre Tätigkeit im Vorzimmer Konrad Adenauers auf. Als Mitarbeiterin des Auswärtigen Amtes brachte sie Auslandserfahrungen aus London und Tokio mit. Ihre Anstellung als Au-pair-Mädchen in London zur Finanzierung ihres Geschichtsstudiums war bereits von ihrer Anstellung an der Deutschen Botschaft in London abgelöst worden.
Im Vorzimmer Konrad Adenauers erarbeitete sie sich schnell eine herausragende Position und begriff, welche Chancen sich daraus für sie persönlich ergeben könnten und welche Verantwortung mit ihrer Rolle verbunden war: Sie schrieb Tagebuch und hörte dem Kanzler aufmerksam zu. Die Gespräche mit ihr führten dazu, dass Adenauer ihre organisatorischen und intellektuellen Qualitäten immer mehr zu schätzen lernte und sie bat, auch in seinem Ruhestand ab Ende 1963 für ihn zu arbeiten. Sie war es, die ihn nicht nur für den Plan gewann, seine Memoiren zu schreiben, sondern ihn dabei auch begleitete und motivierte, das Manuskript zu Ende zu führen.
Konrad Adenauer hatte seine Stärken nicht im Verfassen von Texten, auch wenn er hin und wieder Artikel und Beiträge schrieb: Das Schriftstellerische war nicht „seine Sache“. Daher unterstützte ihn Anneliese Poppinga durch Rekonstruktionen des genauen Ablaufs aller Tage seiner Kanzlerschaft und schuf so ein Gerüst für sein Memoirenwerk. Mit ihrer Hilfe konnte Adenauer sein Gedächtnis aktivieren und die von ihr herbeigeschafften Akten noch einmal durcharbeiten. So entstanden vier Bände, die die Zeit ab 1945 erfassen. Diese Memoiren wurden zu einem überwältigenden Erfolg.
Die von Adenauer als „Memoirenfron“ empfundene Arbeit dauerte bis an sein Lebensende am 19. April 1967. In dieser Zeit war Anneliese Poppinga seine wichtigste Gesprächspartnerin und treue Mitarbeiterin. Ihr ist es zu verdanken, dass auch Privates – etwa in Dialogform – festgehalten wurde und so Erinnerungen Adenauers an seine Jugend-, Schul- und Studentenzeit, seine Eltern und die weitere Familie bewahrt wurden, die sonst unwiederbringlich verloren gegangen wären (Meine Erinnerungen an Konrad Adenauer, Stuttgart 1970).
Wir Nachfahren sind Anneliese Poppinga nicht nur für ihre hervorragende Unterstützung des Kanzlers während seiner letzten fünf Berufsjahre dankbar, sondern vor allen Dingen für ihr Engagement als gewissenhafte Zeitzeugin und Antriebskraft für die Niederschrift der Memoiren.
Auch nach Adenauers Tod, über den sie erst vor wenigen Jahren noch einmal ausführlich geschrieben hat (Adenauers letzte Tage, Stuttgart/Leipzig 2009), war sie im Geiste Konrad Adenauers wirksam, indem sie seine Kinder gleich nach seinem Tod dazu bewogen hat, das Wohnhaus Adenauers in Rhöndorf zu erhalten und eine nationale Gedenkstätte zu errichten – die erste für einen Politiker in Deutschland überhaupt.
Anneliese Poppinga nahm nach dem Tode Adenauers ihr Geschichtsstudium in München wieder auf und schloss es mit der Dissertation „Konrad Adenauer – Geschichtsverständnis, Weltanschauung und politische Praxis“ (Stuttgart 1975) ab, bevor sie die erste Geschäftsführerin der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Rhöndorf wurde. Mit ihrem genauen Gedächtnis und ihren großen Kenntnissen, aber auch mit ihren persönlichen Einsichten und ihrem energischen Willen, prägte sie die Adenauer-Gedenkkultur und wurde zu seiner unerbittlichen Nachlassverwalterin, seiner maßgeblichen Interpretin. Sie bewies ihre Deutungshoheit über Adenauers Politik durch weitere Buchpublikationen und – nach ihrem Eintritt in den Ruhestand – durch ihre Mitgliedschaft im Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus. Die Bundesrepublik Deutschland und die Französische Republik ehrten sie mit Ordensverleihungen.
Der Familie Adenauer kam sie in dieser langen Zeit immer näher, besonders Adenauers Töchtern, die ihren Vater abwechselnd in seinen Urlaub, vor allen Dingen nach Cadenabbia, begleiteten und Anneliese Poppinga dabei immer wieder erlebten. Anneliese Poppinga nahm nach ihrer Tätigkeit für den Bundeskanzler keine andere berufliche Karriere mehr auf. So hat sie nahezu ihr ganzes Berufsleben und die Zeit ihres Ruhestandes diesem einen Politiker gewidmet, meinem Großvater, und die lebendige Erinnerung an ihn wesentlich mitbegründet.
Konrad Adenauer Jr., geboren 1945 in Bad Honnef, nach dem Studium der Rechtswissenschaften 1980 Ernennung zum Notar, Notariat in Köln bis 2015, Enkel Konrad Adenauers.