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Noch mehr Bildungsverlierer durch Lehrermangel?

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Selten ist eine Diskussion so vergiftet geführt worden wie die Debatte über erste Notmaßnahmen gegen den Lehrermangel. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) hatte am 27. Januar 2023 im Auftrag der Kultusminister eine Stellungnahme mit ersten, rasch wirksamen Schritten vorgelegt, um den Ländern die Möglichkeit zu geben, auf drohende Engpässe vorbereitet zu sein. Die Vorsitzenden der SWK wurden daraufhin mit unflätigen Äußerungen einzelner Lehrer und ihrer Verbände überschüttet, die Verbände und Lehrergewerkschaften liefen Sturm gegen die zeitlich befristet gedachten Zumutungen des Papiers. Den Kultusministern als Auftraggebern war es gelungen, die Wissenschaftler der SWK zu Legitimationsbeschaffern äußerst unpopulärer Maßnahmen – wie etwa der Aufstockung der Teilzeitdeputate – zu machen, obwohl die Vorschläge weitgehend aus den Kultusministerien selbst hätten kommen können.

Angesichts eines für 2025 prognostizierten Lehrermangels zwischen 25.000 und 70.000 Lehrkräften ist die Not groß: Es fehlen gut ausgebildete Lehrer, hochprofessionelle pädagogische Fachkräfte. In Stadtstaaten wie Berlin liegt der Anteil der Quereinsteiger schon in der Grundschule bei siebzig Prozent. In den weiterführenden Schulen fehlen vor allem Lehrer für MINT-Fächer und Musik.

Der absehbare Lehrermangel trifft auf eine extreme Leistungskrise im Elementarbereich und auf eine Risikogruppe von Grundschülern in der Größenordnung von zwanzig Prozent und mehr, die ohne basale Kompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen die vierte Klasse beenden. Das bedeutet, dass die Bildungsbiographie eines Fünftels der Kinder nach der vierten Klasse bereits besiegelt ist: Sie sind unfähig, eine weiterführende Schule zu besuchen, wenn ihre Kompetenzdefizite nicht aufgeholt werden. In Berlin liegt der Anteil der Risikoschüler teilweise bei über vierzig Prozent. Sie bräuchten dringend gut qualifizierte Lehrer und einen hervorragenden Unterricht. Denn es ist längst bekannt, dass gerade die schwächsten Schüler am stärksten auf gezielte Anleitung beim Lernen angewiesen sind. Der Staat erfülle weder seinen Bildungsauftrag, noch gelinge es den Grundschulen, „den Anspruch auf allgemeine Bildung für alle Kinder gleichermaßen zu gewährleisten“, urteilt deshalb die SWK in ihrem 200 Seiten umfassenden Grundschulgutachten aus dem Jahr 2022.

 

Absehbare Misere

 

Hinzu kommen die Corona-Schuljahre mit viel zu viel Unterrichtsausfall. Es gibt Schüler, die in dieser Zeit – unabhängig vom familiären Hintergrund – regelrecht den Anschluss verloren haben. Verschärft wird der Lehrermangel überdies durch zwei große Flüchtlingswellen aus dem Jahr 2015 und 2022 (als Folge des Ukrainekriegs) mit einem ungeahnten und nicht vorhersehbaren Schülerzuwachs. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ab 2026 setzt das System zusätzlich unter Druck. Dass er womöglich ein leeres Versprechen bleibt, zeigte sich im Februar 2023 im Landkreis Ammerland im Nordwesten Niedersachsens, wo eine Grundschule wegen akuten Lehrermangels nur noch vier Tage in der Woche unterrichten lassen wollte, bis das Kultusministerium die Notbremse zog und Vertretungslehrer zuwies. Wenn die Kultusminister angesichts der multiplen Probleme im Bildungswesen mit größter Unschuldsmiene behaupten, der Lehrermangel hänge einzig und allein mit der demografischen Entwicklung zusammen, ist das allenfalls die halbe Wahrheit. Der Lehrermangel war absehbar, er wurde schöngerechnet und ignoriert. Die Ursprünge der Misere reichen bis in die 1950erund 1960er-Jahre zurück. Schon 1964 warnte Georg Picht vor einer „Bildungskatastrophe“: „In wenigen Jahren wird man, wenn nichts geschieht, die schulpflichtigen Kinder nach Hause schicken müssen, weil es für sie weder Lehrer noch Klassenräume gibt. Es steht uns ein Bildungsnotstand bevor, den sich nur wenige vorstellen können.“ Diesen apokalyptischen Visionen des Birklehof-Schulleiters und Philosophen aus Hinterzarten lagen Daten der nicht gerade hoch im Kurs stehenden Kultusministerkonferenz (KMK) zugrunde, die 1963 vorgelegt worden waren, um die demografische Entwicklung und deren Folgen für die Schulpolitik besser abschätzen zu können.

In den 1970er-Jahren sorgte die sogenannte Bildungsexpansion für einen erhöhten Lehrerbedarf. Immer mehr Abiturienten begannen, ein Lehramtsstudium aufzunehmen, zugleich wurden immer weitere Universitäten eröffnet. Um 1980 ging der Bedarf an Lehrern zurück, weil die Nachfrage gesättigt war. Dennoch bildeten Hochschulen und Studienseminare weiterhin zusätzliche Pädagogen aus. Das baden-württembergische Kultusministerium forderte in den 1980er-Jahren in jedem Semester alle Lehramtsstudenten brieflich auf, das Studienfach zu wechseln. Bereits Ende der 1980er-Jahre waren die ersten solchermaßen Abgeschreckten schon wieder gesucht, weil ihr vermeintlich übersättigtes Fach zum Mangelfach geworden war.

 

Quereinsteiger und Pensionäre als „Lückenfüller“?

 

In den Folgejahren kam es faktisch zu einem Einstellungsstopp: Selbst Referendare mit einem sehr guten Abschluss bekamen keine Stelle und wechselten in andere Berufe. Noch Ende der 1990er-Jahre rieten einzelne Kultusministerien vom Lehramtsstudium ab.

Der Geburtenrückgang der Wendejahre hatte in den neuen Ländern dafür gesorgt, dass es zu viele Lehrer im System gab. Anstatt sie aber als Vertretungsreserve zu halten, wurden sie entlassen und suchten sich andere Betätigungsfelder. Gleichzeitig wurden immer weniger Lehramtsreferendare ausgebildet. Der Deutsche Lehrerverband veröffentlichte 2009 ein Memorandum zum Lehrermangel und rechnete vor, dass in den kommenden zehn Jahren von 800.000 aktiven Lehrern 300.000 in den Ruhestand gingen. Die Lücken ließen sich nur mit Quereinsteigern und Pensionären schließen, so hieß es schon damals. Zugleich warf das Memorandum der Politik vor, sich trickreich den Lehrermangel wegzurechnen: durch die Kürzung der Wochenstundentafel um eine Stunde. Damit wurden drei Prozent des Unterrichts- und Lehrerbedarfs verschleiert, auch durch die durchschnittliche Vergrößerung der Klassen um einen Schüler. Um das Missverhältnis zwischen einer hohen Nachfrage nach Lehrkräften bei geringem Angebot auf dem Lehrerarbeitsmarkt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, greifen die Kultusministerien seit einiger Zeit verstärkt auf Quereinsteiger zurück. Und ganz wie vom Lehrerverband 2009 vorgeschlagen, ruft die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK heute wieder Pensionäre dazu auf, freiwillig in den Schuldienst zurückzukehren. Aber auch die Aufstockung der Deputate Teilzeitbeschäftigter stand damals bereits ebenso auf der Liste wie attraktive Seiteneinsteigerprogramme für Universitätsabsolventen mit einer professionellen Weiterqualifizierung.

Einige Länder haben reagiert: Sachsen-Anhalt verpflichtete seine Lehrer, seit April 2023 eine Stunde pro Woche mehr zu unterrichten. In Mecklenburg-Vorpommern dagegen dürfen ältere Lehrer weniger arbeiten. Brandenburg senkte die Anforderungen für Bewerber und erfand eine neue Berufsbezeichnung: Bildungsamtfrau oder -mann, ein Bachelor soll dafür reichen – wenigstens nicht für die Oberstufe. Baden-Württemberg und viele andere Länder hatten trotz der Notlage weiterhin ihre befristet beschäftigten Lehrer über den Sommer 2022 in die Arbeitslosigkeit entlassen, um sie womöglich im neuen Schuljahr wieder anzuheuern. Diese Praxis wurde mancherorts allerdings endlich geändert.

 

Qualität durch mehr Flexibilität

 

Um den akuten Mangel zu lindern, hat die SWK eine Aufstockung der Teilzeitdeputate gefordert und damit ganz gewiss nicht die teilzeitbeschäftigte Junglehrerin mit zwei kleinen Kindern oder die Mitvierzigerin mit einem Pflegefall zu Hause zu mehr Unterricht verpflichten wollen. Vielmehr ging es darum, diejenigen ausfindig zu machen, die ohne äußere Zwänge lediglich sechs oder zehn Stunden unterrichten und nur zwei Tage in der Schule anwesend sind. 85.000 der insgesamt 773.000 Lehrkräfte im Schuljahr 2020/21 unterrichten weniger als fünfzig Prozent. Wenn nur einige von ihnen auf ein volles Deputat aufstocken oder einige Stunden mehr unterrichten könnten, wäre der Lehrermangel geringer.

Viele Pensionäre würden gern weiter unterrichten; sie gilt es ausfindig zu machen und attraktiv zu entlohnen. Das zusätzlich verdiente Geld darf nicht auf die Pension angerechnet werden. Zu Recht hat die SWK mehr Flexibilität der Länder bei der Einstellung von Lehrern mit einem Unterrichtsfach gefordert. Ein professionell ausgebildeter Ein-Fach-Lehrer kann derzeit schon in Bremen, Hamburg, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein anerkannt werden, in den anderen Ländern jedoch nicht.

Auch Lehrer mit ausländischen Abschlüssen sollten bei ausreichenden Deutschkenntnissen leichter eingestellt werden können. Viele der eigens in Deutschland nachqualifizierten syrischen Lehrer werden nur als pädagogische Hilfskräfte an Schulen angestellt. Hinzu kommen Quereinsteiger mit Unterrichtserfahrung, etwa Musiklehrer, die sich an einer Schule bewerben, um dort mit einem halben Deputat zu unterrichten und oftmals mit Berufsanfängergehältern abgespeist werden sollen. Wenn es wirklich darum geht, Qualität im Unterricht zu sichern, müssen die Schulbehörden viel stärker den Einzelfall betrachten als ihre bürokratischen Vorschriften.

Die Nachqualifizierung von Gymnasiallehrern für Grundschulen sowie die Nachqualifikation aktiver Lehrer für Mangelfächer sind weitere Vorschläge der SWK, die in Ländern teilweise auch bereits praktiziert werden. Allerdings ist dieses Vorgehen häufig auch konfliktreich, weil die Gymnasiallehrer ihre Abordnung an andere Schularten gern zeitlich begrenzt sähen, was oft nicht möglich ist. Auf einhellige Ablehnung in der Lehrerschaft ist der Vorschlag der SWK gestoßen, Korrekturarbeiten an Studenten in höheren Semestern zu übertragen. Die Wissenschaftler haben sich dabei auf eine Studie gestützt, die Studenten ein ähnlich sicheres Urteilsvermögen wie erfahrenen Lehrern bescheinigt hatte. Doch davon wollten die Lehrer nichts wissen. Für genauso realitätsfremd haben sie die Idee erklärt, in der gymnasialen Oberstufe einen Teil der Unterrichtszeit durch individuelle und kollaborative Selbstlernzeiten zu ersetzen. Besonders wichtig wäre es, den unumstrittenen Vorschlag der SWK einzulösen, die Lehrer von Verwaltungsaufgaben zu entlasten. Doch woher soll das Personal kommen, das dafür zusätzlich an Schulen angestellt werden müsste? Wer soll die Klassenfahrten organisieren, wer die Schulsozialarbeit übernehmen? So blieb die Zusage der Kultusminister im März 2023 an dieser Stelle unverbindlich.

Lehrerverbände verweisen darauf, wie anstrengend der Unterrichtsalltag angesichts der heterogenen Schülerschaft geworden ist. Eine Werbekampagne sind die Schreckensszenarien von ausgestiegenen und ausgebrannten Lehrern sicherlich nicht. Es gibt auch viele Lehrkräfte, die mit anhaltender Freude und ohne Überlastung bis zur Ruhestandsgrenze unterrichten. Allerdings ist von ihnen kaum die Rede. Unklar ist bis heute, warum so viele Lehramtsstudenten ihr Studium abbrechen oder dann doch in anderen Berufen als im Schuldienst landen. Eine echte Hürde scheint das Referendariat mit seinen oft herrischen Ausbildern und didaktischen Moden zu sein. So gibt es zu viele Lehramtsanwärter, die von der zweiten Phase ihrer Ausbildung als von den beiden schlimmsten Jahren ihres Lebens sprechen.

Je schlechter ausgebildet Lehrer sind, desto weniger herausfordernd und kognitiv aktivierend wird ihr Unterricht sein. Entsprechend schwach sind die Lernergebnisse der Schüler. Das bedeutet: Lehrermangel darf nicht mit Niveauverlust einhergehen – eine nahezu unlösbare Aufgabe. Es wird Zeit, dass Politik, Kommunen und Lehrerverbände die Perspektive der Schüler einnehmen und das Beste aus der verfahrenen Lage machen.

 

Heike Schmoll, geboren 1962 in Villingen, 2002 Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde in Tübingen, zuständig für Schul- und Hochschulpolitik sowie Fragen der wissenschaftlichen Theologie und Verantwortliche Redakteurin „Bildungswelten“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, Berlin.

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