Frankreich leidet. Heimgesucht von verheerenden Terroranschlägen, paralysiert von wirtschaftlicher Stagnation und Massenarbeitslosigkeit, wird man die Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des französischen Modells nicht mehr los. Das Land ist mit sich selbst beschäftigt wie seit dem Algerien krieg nicht mehr.
Mit Tunnelblick sehen viele Franzosen mittlerweile in der Le-Pen-Bewegung den einzigen Ausweg aus der Krise. Was sie in die Arme des Front National (FN) treibt, sind nicht ausschließlich Überzeugung oder Enthusiasmus, sondern Trotz und Fatalismus. Nur der FN verspricht, was sie vage erwarten: dass alles anders wird.
Das Selbstvertrauen der von Marine Le Pen geführten Rechtspopulisten wurde durch zwischenzeitliche Vorkommnisse im angloamerikanischen Raum (Trump, Brexit) noch einmal gestärkt. (Dabei wird allzu gern vergessen, dass es auch Populisten linker Provenienz in Europa gibt, siehe die griechische Syriza und die italienische Fünf-Sterne-Bewegung des Beppe Grillo). Mit Wohlgefallen verfolgt man an der FN-Spitze auch das Wachstum der deutschen Populistenspezies. Nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern sandten führende Frontisten den „Patrioten von der AfD“ herzliche Glückwünsche. Im Entstehen begriffen ist, aller Logik widerstreitend, eine Internationale der Nationalisten, deren Amalgam Demokratieverachtung und autoritärer Führungsstil sind. Man kennt sich, man hilft sich. Die Liquidität des FN wird gestützt durch einen Elf-Millionen-Kredit aus Putins Russland.
„Kapitän eines Tretboots“
Für die mediengewandte FN-Parteivorsitzende Marine Le Pen waren die letzten Jahre reinstes Doping. Unter den Sozialisten ist in Frankreich nichts vor angekommen, keine der großen Reformblockaden wurde aufgelöst. Hinzu kam, dass der aktuelle Hausherr im Élysée, François Hollande, die auf das Establishment bezogene Untauglichkeitsvermutung nicht widerlegte. Hollande erholte sich von dem früh erreichten Sympathietief nie. Trotz aller Anstrengungen gelang es ihm nicht, als Steuermann der Nation wahrgenommen zu werden, er blieb nur „Kapitän eines Tretboots“. Dieses Etikett hängte ihm keineswegs ein bürgerlicher Unhold an, sondern der Genosse JeanLuc Mélenchon, der mit Oskar Lafontaine befreundete Führer des Front de Gauche.
Weil so viel auf Baisse lief, lief es gut für die Regisseure des FN. Der Punkt auf dem „i“ wäre für sie gewesen, wenn sich für die im April anstehende Präsidentschaftswahl ein Remake des Duells von 2012 gefügt hätte. Bei dieser Versuchsanordnung von Hollande gegen Sarkozy hätte Marine Le Pen realistische Chancen gehabt, als Siegerin aus dem ersten Wahlgang hervorzugehen, und wer weiß, was dann. Doch dazu wird es nicht kommen. Die Vorwahlen bei den Konservativen machten Nicolas Sarkozy und mit ihm Marine Le Pen einen Strich durch die Rechnung.
Die Vorwahlen („primaires“) waren Schritt Numero zwei im ohne viel Optimismus gestarteten Erneuerungsprozess der republikanischen Rechten. Begonnen hatte er mit der Umbenennung der Partei. Aus der Union pour un Mouvement Populaire (UMP, „Union für eine Volksbewegung“) wurden Les Républicains (LR, „Die Republikaner“). In Frankreich, wo die Verpackung nicht bloß in der Patisserie eine große Rolle spielt und wo die Parteien, im Unterschied zu Deutschland, ohne die Gravität einer Lebensgemeinschaft von der Wiege bis zu Bahre auftreten, sind Änderungen im Design nicht unüblich. Allerdings bescherte die „Umtopfung“ den Républicains keine nennenswerte Schubkraft. Anders die „primaires“: Sie waren vor allem aufgrund der Offenheit – abstimmen durften nicht nur Parteimitglieder, zur Teilnahme genügten die Unterschrift unter eine „Charta des Wechsels“ und zwei Euro Gebühr – ein mit großer Publizität verfolgtes Wagnis.
Die Republikaner bestanden das Demokratieexperiment mit Auszeichnung. Mehr als vier Millionen Französinnen und Franzosen beteiligten sich an der Auslese unter sieben Kandidaten. Die hohe Partizipation hatte sicher mit der nicht grundlosen Erwartung, man werde auf diese Weise aktiv an der Kreation des künftigen Staatspräsidenten mitwirken, zu tun. Drei TVDebatten der Bewerber vor und zwischen den Wahlgängen mobilisierten zusätzlich. Ins Auge fiel, dass bei den kämpferischen und zugleich weitgehend sachlich geführten Debatten die Klärung inhaltlicher Positionen nicht zu kurz kam. Man konnte sich eine Meinung bilden und erlebte mit, dass demokratischer Wettbewerb auch anders geht als von Trump und Clinton vorgeführt.
Wahlprognosen und Pferdewetten
Die faustdicke Überraschung des ersten Wahlgangs war die von niemandem vorhergesagte klare Distanzierung Nicolas Sarkozys (nach dem Sieg der „Brexiter“ über die „Reminders“ und der gleichfalls scheinbar vom Himmel gefallenen Niederlage Hillary Clintons gegen Donald Trump ist spätestens jetzt die Frage erlaubt, was Wahlprognosen noch von Pferdewetten unterscheidet). Man hatte Sarkozy schon allein wegen der Beherrschung des Parteiapparats eine Kandidatur bei der Stichwahl zugetraut. Indessen scheiterte der ExPräsident schon im Ansatz bei dem Versuch, es dem aus der Verbannung von Elba ausgebrochenen Napoleon gleichzutun und Frankreich zurückzuerobern. Besonders schmerzlich war für ihn, dass er vor seinem ehemaligen Premierminister die Waffen strecken musste.
Der Kantersieg Fillons über Sarkozy war nicht die einzige Überraschung. Monatelang hatte Allain Juppé als haushoher Favorit bei den Konservativen gegolten. Juppé pflegte den Stil, der normalerweise in der politischen Mitte gut ankommt: moderat, ohne allzu viele Kanten, auf Sammlung berechnet. „Rassemblement“ besitzt im französischen Politiksprech den Klang eines Zauberworts. Dagegen warb Fillon mit einem entschiedenen Reformprogramm für sich: Abschaffung der 35StundenWoche, Renteneintritt mit 65, Reduzierung des überdimensionierten öffentlichen Dienstes um 500.000 Stellen, Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozent und andere Einschnitte. In Deutschland würde man dieses Programm nicht unbedingt ultraliberal nennen. In Frankreich dagegen sicherte es Fillon eine Titelseite in der linken Tageszeitung „Libération“, die ihn mit Perücke als gallisches Double Margaret Thatchers zeigte. Aber nicht Juppé setzte sich durch, sondern Fillon.
„Catho-réac“
Der Wertkonservative führte eine mutige innerparteiliche Kampagne und wurde dafür belohnt. Er punktete auch damit, dass er sich zur Provinz und zum Katholizismus bekannte. Weder die eine noch die andere Verbindung ist in Frankreich ein garantierter Erfolgsbringer. Zwar ist „Paris“ in „la France profonde“, dem bodenständigen Frankreich, noch nie beliebt gewesen, doch in aller Regel gingen die Aufstände gegen die Zentrale furchtbar daneben – so während der Revolution, als die Girondisten gegen die „Bergpartei“ Robespierres putschten und dafür unter die Guillotine kamen. Und katholisch? Auch in diesem Punkt hat sich seit der Revolution nicht schrecklich viel geändert. Die Elite gibt sich antiklerikal. Wer das nicht tut, findet sich rasch als „cathoréac“ verortet, was im linksgrünen Navigationssystem gleichbedeutend ist mit einem Kreis der Hölle, in dem sonst nur noch die Islamisten hau sen. Die im Kulturkampf unterlegenen Katholiken zeigen denn auch politisch in aller Regel nur ein schwaches Profil. Erst bei den landesweiten Demonstrationen gegen die HomoEhe gaben sie ein Lebenszeichen von sich.
Was Fillon bei den Vorwahlen zweifellos half, war sein „Selfie“ als Kandidat der Rechtschaffenheit. Damit setzte er einen Kontrapunkt gegen Sarkozy, den ewig Skandalumwitterten. Umso furchtbarer trafen Fillons Anhang die Vorwürfe des „Canard Enchaîné“, dass der ehemalige Ministerpräsident seine Ehefrau Penelope jahrelang auf Staatskosten als Assistentin beschäftigt haben soll, und dies, ohne dass die gebürtige Engländerin eine nennenswerte Gegenleistung erbracht habe (bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe war die juristische Aufarbeitung von „Penelope-Gate“ noch nicht abgeschlossen).
Emmanuel Macron
Von einer Entzauberung Fillons als Saubermann könnte neben Marine Le Pen Emmanuel Macron profitieren. Der 39jährige frühere Investmentbanker, der sich rechtzeitig als Wirtschaftsminister Hollandes aus dem Staub machte, ist bis jetzt der Shootingstar des Präsidentschaftswahlkampfs. Praktisch aus dem Nichts aufgetaucht, hat die von Macron gegründete Bewegung „En marche“ mehr registrierte Anhänger gewonnen, als die Sozialisten besitzen. Vor allem bei jungen Leuten und in der politischen Mitte, die in Frankreich üblicherweise schwach ausgebildet ist, kommt Macron gut an. Wirtschaftspolitisch denkt er liberal, unter allen Kandidaten ist er wohl der am stärksten europäisch profilierte. In seiner geschickt geführten Imagekampagne figuriert er als der Mann, der die Hoffnung der Franzosen auf Veränderung verkörpert.
Am wenigsten entsprechen dieser Hoffnung die Sozialisten. Mutlos und uninspiriert erscheinen sie als Inkarnation des verknöcherten Status quo. Das gilt auch für Benoît Hamon, mit dem die Sozialisten in den Präsidentschaftswahlkampf ziehen. 750 Euro soll jeder Franzose als Mindesteinkommen erhalten, ohne dafür einen Finger zu krümmen, verspricht Hamon. Und die Regeln des Maastricht-Vertrags? Sie interessieren bei den Sozialisten weniger als der Schnee von gestern. Hamon warf bei den „primaires“ Manuel Valls aus dem Rennen. Diesem wurde zum Verhängnis, dass er als langjähriger Regierungschef Hollandes dem Schatten des glücklosen Präsidenten nicht entrinnen konnte. Als „sous-capitaine“ eines sinkenden Tretboots war er chancenlos.
Abstieg ohne Beispiel
Drei Monate vor der Wahl sehen die Sozialisten wie die sicheren Verlierer aus. Der Abstieg ist ohne Beispiel. Vor fünf Jahren kannte die politische Landkarte Frankreichs nur die Farbe Rot. In der „Assemblée nationale“, in den großen Städten, in den Regionen und den Departements besaß der Parti Socialiste (PS) die Mehrheit. Es schienen die Weichen für ein Jahrzehnt linker Hegemonie gestellt.
Aber die Entwicklung verlief ganz anders. Die Sozialisten kamen nie in Tritt. Seit 2012 verloren sie alles, was zu verlieren war. Die eigene Kraft hatte gerade gereicht, Sarkozy aus dem Amt zu drängen. Weiter trug sie nicht. Das soziale Modell sollte nicht angetastet werden. Darin war sich der Präsident mit seiner Partei einig. Die Strukturkrise, in der Frankreich steckt, wurde zu nächst rundweg geleugnet, obwohl die Alarmglocken schrillten. Als François Hollande die Torheit einsah, war es schon zu spät. Zu spät, zu schwankend, zu halbherzig – nach diesem Muster gestaltete sich seine ganze Amtszeit. Zuerst verprellte er die „Finanzen“, dann die gewerkschaftlichen Traditionskompanien. Hinzu kam, dass Hollande der selbst gestellten und nicht besonders ehrgeizigen Zielsetzung, ein „normaler Präsident“ zu sein, privatim ganz und gar nicht entsprach. Durch erotische Eskapaden und die eigentümliche Neigung, sein Innerstes ins Schaufenster zu stellen – zuletzt in Gestalt einer von ihm geförderten Buchveröffentlichung mit dem entlarvenden Titel „Un président ne devrait pas dire ça“ („So darf ein Präsident nicht reden“) –, betrieb er systematisch Selbstdemontage.
Hollande hat die ökonomischen Probleme, an denen das Land krankt, nicht geschaffen. Aber er hat zu wenig getan, sie zu lindern. Die Arbeitslosigkeit hat unter ihm noch einmal zugenommen. Bei den Jüngeren verharrt sie mit 25 Prozent auf einem staatsgefährdenden Niveau. Bürokratie und hohe Abgabenlast drücken der Wirtschaft weiterhin die Luft ab. Bei der Defizitbekämpfung bevorzugte man massive Steuererhöhungen, denen keine vergleichbaren Leistungskürzungen gegenüberstanden. Die Folge ist, dass Brüssel Paris ein weiteres Mal Absolution erteilen muss, was der von allen guten Geistern verlassene Kommissionspräsident Juncker mit dem Argument, es handele sich schließlich um Frankreich, bereits getan hat.
Um von ausbleibenden Fortschritten im innenpolitischen Kernbereich abzulenken, verlegte sich Hollande auf die Außenpolitik. Die Veränderung im Fokus hatte auch damit zu tun, dass im Verständnis des Präsidenten der „Islamische Staat“ (IS) Frankreich den Krieg erklärt hatte. Tatsächlich wurde kein Land in Europa von den Fünften Kolonnen des IS dermaßen heimgesucht wie Frankreich. Die Reaktion Hollandes war entschieden. Der Präsident und seine Regierung taten, was sie tun konnten. Schmerzlich ist jedoch die Erkenntnis, dass Frankreich seine Migrationsprobleme keineswegs so klug gemeistert hat, wie man es sich gerade im linken Spektrum lange Zeit eingeredet hatte. Die in der Idee der „nation une et indivisible“ (der „einen und unteilbaren Nation“) gründende Assimilationsstrategie (statt Integration) hat, in ähnlicher Weise wie die sterile Fuchtel des Laizismus, das Entstehen von Apartheidverhältnissen (so Ex-Ministerpräsident Manuel Valls) in der Banlieu eher noch begünstigt. Das Burkiniverbot an den Stränden der Côte d’Azur hat nicht zur Entkrampfung beigetragen und unterstreicht nur die Tatsache, dass der Grat zwischen dem Rationalistischen und dem Ridikülen schmal ist.
Weichspülen als Methode
Fest steht: In der Konkurrenz um den Einzug in den Élysée-Palast haben die Sozialisten momentan die rote Laterne. Die Konservativen stehen in der Poleposition, die ihr Kandidat allerdings verspielen könnte. Zahlreich sind die Fragezeichen. Prognosen sollte man nicht allzu viel Vertrauen schenken. Kann Emmanuel Macron seinen Höhenflug fortsetzen? Und was ist mit Marine Le Pen? Die FNVorsitzende hat den Parcours der vergangenen fünf Jahre fast fehlerfrei durchlaufen. Ihren Vater und Parteigründer JeanMarie Le Pen hat sie ausgebootet und damit die Anmutung der Bewegung nicht unwesentlich verändert. Geblieben ist es bei der kompromisslosen Abschottung nach außen, der vehementen Europafeindlichkeit, der Bewunderung autoritärer Führergestalten wie Putin und der Rhetorik der Systemverachtung. Gebrochen hat Marine Le Pen mit den wirtschaftsfreundlichen Vorstellungen der alten FN-Generation. Auf diesem Feld haben Linksfrontisten und Kommunisten mittlerweile im FN fast einen Doppelgänger.
Die Unbedenklichkeit der Parteivorsitzenden zeigt sich unter anderem darin, dass sie sich vom Personal des FN, das immer für unappetitliche Ausfälle gut ist, sogleich distanziert, wenn sie es für geboten hält – eine Praxis, die auch in der deutschen AfD gängig ist. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahl hat sie erklärt: „Ich bin nicht die Kandidatin des Front National; ich bin eine Kandidatin, die vom Front National unterstützt wird.“ Weichspülen ist die Methode, mit der sie es geschafft hat, die Reichweite der Bewegung bis tief hinein in das Wählerreservoir sowohl der Konservativen wie auch der Sozialisten auszudehnen. Tatsächlich lassen einschlägige Studien den Schluss zu, dass der FN inzwischen in allen sozialen Milieus des Landes angekommen ist. An einen Erfolg des FN mag in Berlin niemand denken. Er würde die europäische Agenda mit einem Schlag verändern. Mit einem Sieg Fillons wäre die Bundesregierung wohl am besten bedient. Für Irritation hat in Berlin allerdings die erkennbare Absicht Fillons gesorgt, an de Gaulles Schaukelpolitik zwischen Washington und Moskau anzuknüpfen. Diese Politik war schon damals nicht besonders erfolgreich. Seither hat sich die Welt gründlich verändert. Die Bipolarität gehört der Vergangenheit an. Auch das Leitbild vom Europa der Nationen wirkt – unbearbeitet – verstaubt. Die Globalisierung ist eine Tatsache, und der Standpunkt, dass Europa sich nur als Einheit behaupten wird, ist nach Trumps Einzug ins Weiße Haus noch schwerer zu entkräften. Quo vadis, Europa? Die Weichen werden im Mai in Frankreich stellt.
Günter Müchler, geboren 1946 in Wuppertal, Historiker und Politikwissenschaftler, von Mai 2004 bis Ende August 2011 Programmdirektor von Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und DRadio Wissen. Die letzten Jahre lebte Müchler in Frankreich.