Es ist sicher keine Übertreibung, die bevorstehenden Landtagswahlen als die bedeutendsten seit der Wiedergründung des Freistaates Sachsen im Jahr 1990 zu bezeichnen. Viel steht auf dem Spiel. Dem Freistaat, in dem sich in den vergangenen 34 Jahren aufgrund verlässlicher politischer Verhältnisse eine beeindruckende Entwicklung vollzogen hat, drohen nicht nur instabile politische Mehrheiten, sondern auch ein Wahlerfolg der AfD, der sie zur stärksten Kraft machen könnte, und damit eine politische Zäsur.
Die Sächsische Union, die seit 1990 ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellt, muss erstmals um ihre jahrzehntelange unangefochtene Spitzenposition fürchten. Sie liefert sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der AfD, deren sächsischer Landesverband vom sächsischen Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wird.1 Die AfD erreicht in Umfragen etwas mehr als dreißig Prozent, die CDU um die dreißig Prozent, die anderen politischen Mitbewerber liegen mit weitem Abstand, teilweise mit mehr als zwanzig Prozentpunkten, dahinter. SPD und Grüne, die seit fünf Jahren eine Regierungskoalition mit der CDU bilden, erreichen aktuell keine zehn Prozent und müssen sogar fürchten, an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Die Linkspartei, seit 1990 im Landtag vertreten, liegt deutlich unter fünf Prozent und wird aller Voraussicht nach von dem im Januar 2024 gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das erstmalig zur Landtagswahl antritt, im künftigen Landtag ersetzt. Die Freien Wähler und die FDP fallen unter „sonstige Parteien“, die in Umfragen zusammen weniger als neun Prozent der Stimmen erzielen und damit ebenfalls nicht im Landtag vertreten wären. Die Europa- und Kommunalwahlen vom 9. Juni, die von der AfD deutlich vor der CDU, die auf Platz zwei kam, gewonnen wurden, haben die derzeitige Dominanz dieser Partei in Sachsen bestätigt.2
Strategisches Dilemma der Union
Die Umfragen und die Wahlergebnisse vom 9. Juni verdeutlichen zwei Dinge. Erstens: Neben AfD und CDU spielen die übrigen Parteien mit Ausnahme des BSW in der Wählerpräferenz der Sachsen im Prinzip keine Rolle mehr. Eine deutliche Mehrheit der sächsischen Wähler lehnt diese Parteien ab, und das nicht erst laut den aktuellen Umfragewerten. Die SPD dümpelt bei Landtagswahlen in Sachsen seit nunmehr drei Jahrzehnten um die zehn Prozent. Im einst „roten Sachsen“, wie das damalige Königreich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnet wurde und das einst als Wiege der Sozialdemokratie galt, hat sich das Wählerspektrum nachhaltig verschoben und ist für Parteien links der Mitte – mit Ausnahme weniger kommunaler Hochburgen – praktisch weggebrochen.
Zweitens: Die einzige Partei, die der AfD im Wettstreit um die sächsischen Wähler wirksam Paroli bieten kann, ist die CDU. Auf sie kommt es an, und sie hat daher auch am meisten zu verlieren. Denn die für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD notwendige Fokussierung der Sächsischen Union auch auf Themenfelder, die die AfD in Sachsen bespielt, sowie die politische Auseinandersetzung über den „richtigen Weg“ der künftigen politischen Ausrichtung Sachsens bergen Chancen und Risiken zugleich. Einerseits scheinen eine klare inhaltliche Positionierung und die Rückbesinnung auf ihre (konservativen) Wurzeln – beides lange Zeit ein Garant für die außerordentlichen Wahlerfolge der sächsischen CDU – die erfolgreichste Strategie für die CDU in Sachsen zu sein, um auch nach dem 1. September 2024 stärkste politische Kraft im Land zu bleiben. Andererseits birgt dieser Ansatz für die Sächsische Union ein strategisches Dilemma, da sie nach den Landtagswahlen wieder koalitionsfähig mit anderen Parteien des demokratischen Spektrums sein muss, also auch mit der SPD oder den Grünen. Eine zu starke Abgrenzung gegenüber den bisherigen und potenziell künftigen Koalitionspartnern kann zur Unregierbarkeit und damit zu erneuten Wahlen führen, da laut sächsischer Verfassung eine neue Landesregierung innerhalb von vier Monaten nach der Landtagswahl im Amt sein muss und gleichzeitig die CDU jegliche Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen hat.
Ein Blick auf die politischen Einstellungen und Befindlichkeiten der Sachsen ist hilfreich, um die aktuellen Wahlpräferenzen der hiesigen Wähler einordnen zu können. Empirische Befunde liefert der regelmäßig im Auftrag der Sächsischen Staatskanzlei vom Markt- und Politikforschungsinstitut dimap durchgeführte Sachsen-Monitor. Er erfasst unter anderem die Zukunftserwartungen der Bürger, die politische Kultur und Gefahren für die Demokratie. Der Sachsen-Monitor 20233 dokumentiert unter anderem Folgendes:
− Der Zukunftsoptimismus in Sachsen ist deutlich zurückgegangen, und zwar sowohl bezüglich der Bewertung der Gesamtentwicklung als auch der persönlichen Lage, wobei hinsichtlich der Einschätzung der persönlichen Situation immer noch eine hohe Zufriedenheit herrscht.
− Die Gesellschaft wird mehrheitlich als ungerecht wahrgenommen.
− Der Verlust von Vertrauen in Politik, Demokratie und in Institutionen ist signifikant. Nur noch 49 Prozent der Befragten sind zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie.
− Es herrschen vorwiegend negative Einstellungen gegenüber Ausländern und Minderheiten, einhergehend mit zunehmender Akzeptanz populistischer und demokratiefeindlicher Einstellungen.
− Sechzig Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. 34 Prozent der Befragten empfinden eine stärkere mentale Nähe zu Osteuropäern als zu Westdeutschen.
Die zentralen Ergebnisse des Sachsen-Monitors 2023 korrelieren mit den unter großen Teilen der Bevölkerung in Sachsen wahrnehmbaren Ohnmachtsgefühlen gegenüber politischen Entscheidungen der regierenden Parteien, die mit negativen Auswirkungen auf die eigenen Lebensumstände perzipiert werden. Diese Ohnmachtsgefühle, die im Kern nicht nur dem Erbe der Sozialisation in der DDR, sondern auch den Erfahrungen während der Transformationszeit in den 1990er-Jahren geschuldet sind, richten sich seit einigen Jahren immer stärker gegen die repräsentative Demokratie und die sie tragenden Parteien. Das Ventil, über das sich eine vielfach in Wut übergehende Ohnmacht entlädt, ist eine mittlerweile offen zur Schau gestellte Präferenz für populistische und extremistische Parteien.
Dialogorientierter Politikansatz
Trotz dieser überaus herausfordernden politischen und gesellschaftlichen Situation ist die Lage alles andere als hoffnungslos – und das aus mehreren Gründen.
Das demokratische Parteienspektrum hat den klaren Willen, einen Wahlsieg der extremistischen und populistischen Kräfte in Sachsen zu verhindern. Dafür bedarf es eines auf die Bürger ausgerichteten, dialogorientierten Politikansatzes, der Diskussionen zulässt, kontroversen Themen nicht ausweicht und anderen Sichtweisen Raum gibt. Sachliche, lösungsorientierte Politik, die nicht in erster Linie ideologischen und missionarischen Ansprüchen das Wort redet und damit die Bürger überfordert, trägt ebenso zum Wiedererstarken des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der Demokratie bei wie ein Verzicht auf die Behauptung, Entscheidungen seien alternativlos und müssten daher nicht erörtert werden. Der dialogorientierte Ansatz des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer zeigt, dass ein solches Verständnis von Politik erfolgreich sein kann. Seine Zustimmungswerte bei den sächsischen Wählern sind hoch und geben Anlass zur Annahme, dass sich das letztlich auch auf die Wahlentscheidung auswirken wird.
Aller gesellschaftlichen Polarisierung zum Trotz existiert in Sachsen zudem eine aktive Bürgergesellschaft, die sich für das Gemeinwesen engagiert. Das Vereinswesen ist vielfältig, und eine große Mehrheit der Bürger lebt gern in Sachsen. Ihnen ist die Entwicklung im Land weder egal, noch möchten sie einer pessimistischen Grundstimmung das Wort reden, wie es bei Populisten und Extremisten üblich ist. Das zeigt sich auch bei den zahlreichen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus in ganz Sachsen, die seit Beginn des Jahres 2024 stattfinden und von einem breiten Bündnis gesellschaftlicher Gruppen getragen werden.
Die Attraktivität Sachsens, sei es für ausländische Unternehmen, Fachkräfte, Studenten oder Touristen, ist groß. Nicht wenige Menschen sind beeindruckt vom kulturellen Reichtum, von der breiten Unternehmenslandschaft und der Aufbauleistung, die seit 1990 vollbracht wurde. Dessen sind sich auch die Sachsen bewusst. Und sie werden diese Entwicklung im entscheidenden Moment nicht aufs Spiel setzen.
Ronny Heine, geboren 1974 in Karl-Marx-Stadt, seit Juli 2023 Landesbeauftragter und Leiter Politisches Bildungsforum Sachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen: „Sächsischer AfD-Landesverband als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft“, 08.12.2023, www.medienservice.sachsen.de/medien/news/1071656 [letzter Zugriff: 29.04.2024].
2 Wahlergebnisse unter https://wahlen.sachsen.de/ [letzter Zugriff: 18.06.2024].
3 dimap – das Institut für Markt und Politikforschung GmbH: Ergebnisbericht Sachsen-Monitor 2023 für die Sächsische Staatskanzlei, Bonn 2023, www.staatsregierung.sachsen.de/sachsen-monitor-2023-8897.html [letzter Zugriff: 29.04.2024].