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Am Scheideweg zwischen Demokratie und Diktatur

Ein Zuruf vom Euromaidan

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Seit mehr als einem Monat nehmen im Zentrum von Kiew Millionen Ukrainer ihr Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit friedlich in Anspruch. Es begann als eine Versammlung, die im Vorfeld des Gipfeltreffens zur östlichen Partnerschaft im November 2013 das Assoziationsabkommen der Ukraine mit der Europäischen Union unterstützte. Längst hat sich daraus eine Demonstration für den Respekt vor der Würde des Menschen und gegen die Brutalität der Polizei sowie gegen das korrupte Verhalten der Behörden entwickelt. Bemerkenswert ist die Abwesenheit Viktor Janukowitschs, des Präsidenten der Ukraine. Er wandte sich von seinem Volk ab, als er abrupt das Assoziationsabkommen aufgab und stattdessen einen undurchsichtigen und erniedrigenden Handel mit Russland einging. Zu allem Überfluss gingen die Behörden am Morgen des 30. November mit unerhörter Gewalt gegen die Demonstranten vor. Dabei weigerte sich Janukowitsch, Millionen von Ukrainern anzuhören, die sich nicht nur einen höheren Lebensstandard wünschen, sondern insbesondere die Achtung ihrer Menschenrechte einfordern. Die Ukrainer haben Besseres verdient. Das ist der Grund, weshalb ich meine Kandidatur für das Amt des Präsidenten der Ukraine angemeldet habe.

 

Nur taube Ohren

Mein ganzes Leben habe ich danach gestrebt, bei allem, was ich tue, der Beste zu sein. Jetzt gebe ich meine Karriere als Boxweltmeister im Schwergewicht auf, um mich ganz auf die Politik konzentrieren zu können. Die Ereignisse in der Ukraine sind viel zu wichtig, als dass man passiv zuschauen könnte. Die Aufforderung an alle Menschen guten Willens, ihrem Land beizustehen, ist in der Ukraine nie dringlicher gewesen als heute.

In meinem Land öffnet sich eine Kluft zwischen einer starrsinnigen Regierung, die sich weigert zuzuhören, und friedlichen Bürgern, die angehört werden wollen. Wir müssen einen Weg finden, wie sich die Ukraine an die europäische Gemeinschaft demokratischer Nationen annähern kann. Ein „Zurück in die Zukunft“, also zu einem – mit einer dünnen westlichen Lackschicht kaschierten – neosowjetischen Totalitarismus darf es nicht geben.

Als Führer der Opposition und Parlamentsabgeordneter habe ich meinen Landsleuten zugehört und unermüdlich versucht, mit der Regierung Janukowitsch einen Weg aus der aktuellen schweren politischen Krise auszuhandeln. Leider hat Janukowitsch für die Forderungen des ukrainischen Volkes nur taube Ohren. Es gibt jedoch eine Möglichkeit für die Ukrainer, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden: Die Antwort wären vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.

Als Janukowitsch am 30. November mit Gewalt gegen friedliche Demonstranten vorging, büßte er einen großen Teil seiner Legitimität als Präsident ein. Man darf auch nicht vergessen, dass die Bereitschaftspolizei unter seiner Verantwortung am 1. Dezember 2013 Protestierende und Journalisten brutal verprügelte und am 11. Dezember 2013 versuchte, die Protestbewegung „Euromaidan“ zu zerschlagen. Ebenfalls kam es zu einer Welle von Verfolgungen und gewalttätigen Übergriffen auf Bürgerrechtler. Ich denke, viele von Ihnen haben die Bilder gesehen, die zeigen, wie brutal die investigative Journalistin Tetjana Schornowil verprügelt worden ist. Diejenigen, die diese abscheulichen Taten begingen, genießen bislang völlige Straffreiheit. Nur durch Neuwahlen für das Präsidentenamt und das Parlament kann das ukrainische Volk eine Regierung erlangen, die es achten und der es vertrauen kann!

Damit im Frühjahr 2014 Neuwahlen abgehalten werden können, muss die jetzige Regierung zurücktreten und den Weg für eine Übergangsregierung frei machen. Dies ist auch erforderlich, um den zu befürchtenden Wahlbetrug und den Einsatz administrativer Manipulationen durch die Regierung zu verhindern. Wie wir erst kürzlich bei fünf Sonderwahlen zum Parlament feststellen mussten, waren die Unregelmäßigkeiten und Betrügereien massiv, gut organisiert und systematisch.

Meine Mitstreiter und ich haben hart daran gearbeitet, das Vertrauen und die Unterstützung des ukrainischen Volkes zu gewinnen. Wenn ich gewählt werde, werde ich mein Möglichstes tun, um sicherzustellen, dass die Ukrainer in einem Rechtsstaat mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft und einem hohen Lebensstandard leben können. Ich werde die Korruption und die alles erstickende Bürokratie bekämpfen, damit die Ukrainer ihre Träume verwirklichen und ihre Chancen ausschöpfen können. Nicht zuletzt soll die Ukraine niemals die „kleine Schwester“ irgendeines Landes sein, sondern ein zuverlässiger, gleichwertiger Partner für alle.

 

Der Eskalation entgegenwirken

Zunächst aber gilt es, für die aktuelle politische Krise eine Lösung zu finden. Jeden Tag gehen ganz normale Ukrainer zum Platz der Unabhängigkeit in Kiew, um ihrer Forderung nach einem besseren Leben Ausdruck zu verleihen. Ihre Stimmen werden von Tag zu Tag lauter. Sie hoffen, auf die Unterstützung der Vereinigten Staaten und anderer demokratischer Regierungen zählen zu können. Moralische Unterstützung und Solidarität reichen hier nicht aus. Es ist Zeit zu handeln, um jedem weiteren Einsatz von Gewalt durch die ukrainischen Behörden vorzubeugen und sie daran zu hindern, eine Welle von Massenverfolgungen gegen die demokratischen Kräfte auszulösen.

Der Westen kann auch jetzt noch etwas bewirken, denn er verfügt über genügend Hebel auch politischer Art, um der Eskalation entgegenzusteuern. Morgen könnte es bereits zu spät sein, denn die Ukraine steht vor einer schicksalhaften Entscheidung zwischen demokratischer Erneuerung und Diktatur.

Ich habe im Laufe meiner Karriere vielen beeindruckenden Gegnern gegenübergestanden. Erst kürzlich stand ich zusammen mit anderen Demonstranten der Bereitschaftspolizei von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ich fühlte – wie immer – keine Furcht, sondern stattdessen eine Entschlossenheit, diesen Kampf zu gewinnen, der vielleicht der schwierigste meines Lebens ist: den Kampf für die europäische Zukunft der Ukraine.
 

Vitali Klitschko, geboren 1971 in Belowodskoje bei Frunse (Kirgisische SSR), heute Bischkek (Kirgisistan), Vorsitzender der Partei „Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen“ (UDAR) und Präsidentschaftskandidat in der Ukraine.

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim.

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