Dass Joe Biden zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wird, erscheint mittlerweile denkbar, doch mehr noch als bisher ist es dieses Mal ausgeschlossen, genau dort wieder anzuknüpfen, wo Barack Obama und Joe Biden die Macht abgeben mussten. Vier Jahre Trump haben den politischen Alltag in unvorstellbarer Weise verändert. In einem Land, dem ausländische Beobachter stets ein eher penetrantes Selbstvertrauen bescheinigten, pflegen Politiker der Linken wie der Rechten eine Niedergangsrhetorik und finden ein Publikum, das solche Abgesänge hören möchte. Donald Trump erachtet den „amerikanischen Traum“ als tot, laut Bernie Sanders hat er sich in einen Albtraum verwandelt, und Elizabeth Warren findet, niemand kümmere sich mehr um die Mittelklasse, deren Einkommen schon lange stagniere. Der Stil der politischen Auseinandersetzung ist derweil kompromisslos feindselig, und die beiden großen Parteien scheinen sich bis zur Unkenntlichkeit verändert zu haben. Zugleich aber werden Art und Umfang der Veränderungen in Publizistik und Sozialwissenschaften so unterschiedlich beschrieben, dass der Beobachter wie gewohnt mit einem „Ja, aber“ reagieren kann.
Ja, vom „amerikanischen Traum“ war in den damals noch populären Wochenschauen und in den Illustrierten ebenso wie in der Wahlwerbung die Rede, als jeder arbeitswillige Mann auch ohne College-Abschluss so gut verdiente, dass er seiner Familie den Lebensstandard bieten konnte, den die Werbung versprach und dessentwegen er, psychologisch noch wichtiger, auch besser dastand als sein Vater. Viele dieser Jobs, bei denen es um verlässliche Ausführung von Routinearbeiten ging, sind verschwunden; jedoch sind sie nicht nach China gewandert, sondern durch Roboter ersetzt worden.
Die Katastrophenszenarien werden durch die allgemein zugänglichen Daten des Congressional Budget Office nicht bestätigt: Eine Lohnsteigerung um 34 Prozent in den vergangenen dreißig Jahren ist nicht spektakulär, man kann sie aber ebenso wenig als Stagnation bezeichnen; und wenn seit 2010, also seit der Finanzkrise, Monat für Monat mehr Arbeitsplätze entstanden als verschwunden sind, kann es sich bei der kontinuierlichen, wenn auch bescheidenen Lohnentwicklung nicht generell um geringere, schlechter bezahlte Jobs handeln. Ökonomen führen diese und andere Einwände ins Feld und verweisen darauf, dass 73 Prozent aller Amerikaner im Alter von vierzig Jahren, also etwa in der Mitte ihres Lebens, ein höheres Einkommen als ihre Eltern erzielen – und das liegt nicht nur daran, dass „die Reichen immer reicher“ werden. Von den Quintilen (Zwanzig-Prozent-Stufen der Einkommensschichtung), die man nach amerikanischer Gewohnheit unterscheidet, profitieren die beiden untersten mit 86 Prozent beziehungsweise 76 Prozent Zuwachs deutlicher, wobei noch nicht berücksichtigt ist, dass Steuern und Transferleistungen die Einkommen des oberen Fünftels um ein Viertel schrumpfen und die des unteren um zwei Drittel wachsen lassen. Doch wie üblich bewirken solche Zahlen gegen die Krisenrhetorik wenig, und hinter den Beschäftigungs- und Einkommensdaten taucht mit etwa vier von insgesamt über 55 Millionen erwerbsfähigen Männern die kulturell und politisch problematische Gruppe derer auf, die gar keinen Job suchen.
Herrschaft der Aktivisten
Die seit 2016 diskutierte Frage, ob es die „Abgehängten“ sind, etwa diese Aussteiger, bei denen Trumps ethnonationalistische und andere protektionistische Parolen verfangen, oder ob deren Wirkung weit darüber hinausreicht, durchzieht auch Ezra Kleins Buch. Obwohl die Titelfrage („warum ‚wir‘ polarisiert seien“) auf eine allgemeine Erscheinung anspielt, beginnt es doch mit dem Hinweis auf eine abgrenzbare Gruppe: Eigentlich gebe es zwischen 2016 und den vorigen Wahlen seit 2004 nur den Unterschied, dass weiße Wähler ohne College-Abschluss zuletzt in den entscheidenden Staaten überrepräsentiert waren.
Hauptsächlich aber versucht Klein, nachzuzeichnen, wie das klassische, an Interessen orientierte Politikverständnis durch Identitätspolitik abgelöst wurde. Selbst deutlich links angesiedelt, bemüht er sich, jeden denkbaren Einwand gegen seine Vermutungen vorwegzunehmen und institutionelle Faktoren, wie zum Beispiel Reformen und deren unbeabsichtigte Nebenwirkungen, von psychologischen Erklärungen zu unterscheiden. Zunächst schildert er in einem Rückblick die kooperative Politik der 1950er- und 1960er-Jahre und die zunehmende Kritik daran. Damals standen manche konservativen Demokraten rechts von den Republikanern, und viele Republikaner waren (im amerikanischen Sinne) liberaler als linke Demokraten. Gesetze tragen oft die Namen je eines Demokraten und eines Republikaners, die sie vorantrieben, und manchmal ist einem Gesetz ein sachfremdes Zugeständnis an einen Bundesstaat angefügt, ein „earmark“, mit dem die Zustimmung eines Senators erreicht wurde, der sich dafür zu Hause feiern lassen konnte.
Solches „Do ut des“ galt nicht als anrüchig, da Politik schließlich „local“ und „transactional“ war. Doch wenn es etwa um die Auswahl von Kandidaten ging, wurde schon damals das viel ältere Bild vom „verräucherten Hinterzimmer“ bemüht. Klein zitiert ein Memorandum amerikanischer Politikwissenschaftler, das es 1950 auf die Titelseite der New York Times schaffte: Danach litten die Parteien unter einer zu großen internen Meinungsvielfalt und arbeiteten allzu leicht zusammen, was die Wähler orientierungslos lasse. Gefragt seien kontrastierende Profilierung der Parteien und Demokratisierung des politischen Betriebes.
Inzwischen wurde die Teilnahme an Vorwahlen – zuletzt sogar durch Briefwahl – so erleichtert, dass sie den jeweiligen Parteien entgleiten, auf Parteitagen wurde der mäßigende Einfluss ehemaliger Amtsträger, der sogenannten Superdelegates, beschnitten, „earmarks“ sind abgeschafft, und die Parteigliederungen werden von Aktivisten beherrscht, die nicht erwarten, dass Abgeordnete etwas für die Region herausholen, sondern dass sie der ideologischen Agenda der Basis folgen. Es gibt auch keinen Zweifel mehr, wofür die Parteien stehen, und im Kongress gehört ihre Zusammenarbeit der Vergangenheit an.
„Big Sort“
Die „verräucherten Hinterzimmer“, von denen inzwischen schon mit einer gewissen Nostalgie gesprochen wird, stehen aber keineswegs nur für die gute alte Zeit, denn das System der „transactional politics“ beruhte auch darauf, dass die Demokraten des Nordens so lange eine gewerkschaftsnahe Politik betreiben durften, wie sie ihren südlichen Parteigenossen und deren Politik der Rassentrennung nicht in die Quere kamen. Die „Dixiecrats“ besetzten im Süden jahrzehntelang mehr als neunzig Prozent aller Wahlämter. Der daraus folgende „Solid South“ war die Voraussetzung einer Mehrheit der Demokraten in nationalen Wahlen, und die Geschäftsgrundlage (gelegentlich als „Faustian deal“ bezeichnet) war dadurch abgesichert, dass die Delegierten des Südens auf Parteitagen eine Sperrminorität bildeten und ein Präsidentschaftskandidat aus dem Norden einen „Running Mate“ aus dem Süden benötigte.
Es gebe Schlimmeres als die politische Polarisierung, die mit dem Ende dieser unhaltbaren stillen Abmachung begann, kommentiert Klein. Mit dem Civil Rights Act von 1964, den Präsident Lyndon B. Johnson im Senat nur mit der Mehrheit der Republikaner gegen ein Drittel seiner Demokraten durchsetzen konnte, war die Einheit des Südens Vergangenheit, und es begann stattdessen der „Big Sort“, die Selbstsortierung der politisch Interessierten. Konservative des Südens entdeckten die Republikaner als Verbündete gegen Anmaßungen Washingtons, und für Liberale des Nordens hatten die Demokraten den Beigeschmack des Rassismus verloren. War damit der Anfang der durchaus erwünschten Differenzierung und Polarisierung gesetzt, so überlagerte eine aus der demografischen Entwicklung abgeleitete Selbstsicht mehr und mehr alle anderen Zugehörigkeiten. Identität, zuvor ein Kampfbegriff von Minderheiten, begann den Ausblick eines großen Teils der Weißen zu bestimmen, wobei wie üblich die tatsächliche Entwicklung vergrößert wahrgenommen wurde.
2013, als erstmals die meisten Neugeborenen nicht mehr weiß waren, der Anteil der nicht weißen Bevölkerung aber noch bei 37 Prozent lag, schätzten die meisten Teilnehmer einer Umfrage ihn bereits auf 49 Prozent – und sobald diese Marke in den nächsten Jahren erreicht ist, wird dies bei vielen wohl nicht als die Botschaft ankommen, die Weißen seien noch immer die weitaus größte nicht zu vernachlässigende Gruppe. Jedenfalls stehen sich nur noch gefühlte Minderheiten gegenüber, die sich gegenseitig als Karikatur wahrnehmen. Demokraten glauben, 44 Prozent der Republikaner verdienten mehr als 250.000 Dollar im Jahr, was für ganze zwei Prozent zutrifft, und schätzen den Anteil der Senioren unter den Republikanern auf vierzig Prozent; genau das Doppelte des tatsächlichen Anteils. Republikaner dagegen glauben, 38 Prozent der Demokraten seien homosexuell (richtig wäre sechs Prozent) und vermuten, 46 Prozent seien schwarz, was nur für 24 Prozent der Demokraten zutrifft.
Klein fügt viele weitere, teils schon länger bekannte Umfrageergebnisse hinzu, die jeden entmutigen können, der sich um politische Bildung bemüht. Stellvertretend dafür mag die Wiederholung eines demoskopischen Klassikers stehen: Die Aussicht, dass der Sohn oder die Tochter einen Anhänger der anderen großen Partei heirate, irritierte 1960 ganze fünf Prozent der Republikaner und vier Prozent der Demokraten. Ein halbes Jahrhundert später reagierten 49 Prozent der Republikaner und 33 Prozent der Demokraten in dieser Weise.
Das Aber beginnt mit der Einschränkung, dass Kleins Schilderung des alltäglichen politischen Betriebs einen großen, aktiven Teil der selbst definierten Republikaner oder Demokraten erfasst, nicht jedoch die politisch weniger oder weniger dauerhaft Interessierten, also die Mehrheit der Wähler. Daher gilt jedenfalls für die Demokraten, dass man sich letztlich an der eher gemäßigten Mehrheit der Wähler orientieren muss.
Zweifellos ist die Partei weiter nach links gerückt, aber während der Medienstar Alexandria Ocasio-Cortez diese Tendenz verkörpert, waren es zentristische Demokraten, die 2018 in den Zwischenwahlen den Republikanern Sitze abgenommen haben, und deswegen haben deutlich zur Mitte tendierende Kandidaten wie Pete Buttigieg und Amy Klobuchar zugunsten von Biden verzichtet.
Schließlich zeigen Umfragen, etwa des Chicago Council on Global Affairs, dass wegen des Zustandes der beiden großen Parteien Einstellungen und Erwartungen entweder das Lager gewechselt haben oder heimatlos darauf warten, angesprochen zu werden. So finden etwa positive Meinungen über Freihandel oder den Wert von Bündnissen nur noch bei knapp der Hälfte der in zwei gegensätzliche Lager zerfallenen Republikaner und ihrer Wähler Zustimmung. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung und der selbsterklärten Wähler der Demokraten dagegen stimmt in Opposition zu Trump, aber auch zu protektionistischen Anwandlungen des linken Parteiflügels der Meinung zu, dass Freihandel mehr nutze als schade und dass Bündnisse die USA stärkten.
Der Kolumbus-Mythos
Da der Präsident in der Außenpolitik noch den größten Freiraum besitzt, besteht also Anlass, nach Amerikas Verhältnis zum Westen zu fragen, das sich nach dem Historiker Michael Kimmage, der bis 2016 im State Department arbeitete, in drei Phasen entwickelt hat. Zunächst, als Amerikaner vom Westen sprachen, wenn sie („Go West“) die Ausdehnung des Landes bis zum Pazifik meinten, nahm der Anspruch, eine bessere Version der europäischen Kultur zu sein, die Form des Kolumbus-Mythos an. „Columbia University“ und der „District of Columbia“ erinnern ebenso daran wie die „Columbian World Exposition“, die Weltausstellung, zu der die Regierung der USA 1892, 400 Jahre nach der Landung von Kolumbus, einlud.
Den Westen als geopolitisches Konzept und ideologische Einheit erzeugten die USA paradox gesprochen erst, indem sie ihm im Ersten Weltkrieg beitraten und ihn zugleich anführten. Damit begann der lange, laut Kimmage bis zu Kennedys Berliner Rede von 1962 reichende Einklang zwischen den führenden Universitäten und den politischen Eliten, denen das Studienprogramm „Western Civilization“ die Geschichte des Westens als ihre eigene vermittelte. Geradezu wehmütig begegnet man der ersten und zweiten Generation der Absolventen, wie George F. Kennan, Dean Acheson, John McCloy, Averell Harriman oder Lucius D. Clay. Kimmage führt aber auch durch den nachfolgenden kulturellen Umschwung, in dem Kolumbus seit den 1970er-Jahren schon einmal in Büchern vom Sockel gestoßen wurde und die westliche Kultur nur noch als System der Unterdrückung vorkam. Außerdem schildert er den weniger beachteten Anteil, den die konservative Kulturkritik an der Veränderung des intellektuellen Klimas hatte.
Während aber die ausdrückliche Berufung auf den Westen mit Präsidenten endet, die wie Roland Reagan oder George H. Bush noch zwischen den Kriegen aufgewachsen waren, bewegen sich entgegen Kimmages pessimistischem Buchtitel die Vorstellungen von internationaler liberaler Ordnung (Bill Clinton), Menschenrechts-Universalismus (George W. Bush) oder Institutionalismus (Barack Obama) deutlich auf westlichen Gleisen. Trump ist der einzige in dieser Reihe, der mit dem Begriff des Westens und seinen Denktraditionen nichts anzufangen weiß. So bleibt zu hoffen, dass nicht nur Michael Kimmage demnächst wieder in das State Department zurückkehrt.
Ausführliche Besprechung der Publikation von Michael Kimmage siehe Michael Zöller: „Nach Kennedy ging es bergab“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Politische Bücher, 11.08.2020.
Michael Zöller, geboren 1946 in Würzburg, Professor emeritus für Politische Soziologie und Leiter der Amerika-Forschungsstelle, Universität Bayreuth, Gastprofessor an etlichen Universitäten der USA.