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Wie Eltern das Gymnasium wahrnehmen

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Die Bildungsdiskussion der letzten Jahre, ausgelöst durch die PISA-Ergebnisse und die bildungspolitischen Empfehlungen der OECD, hat aufgerüttelt. Die Frage, wie die Kinder ihren Lebens- und Berufsweg meistern sollen, steht bei den Eltern hoch im Kurs. Dabei fokussiert sich der Blick immer mehr auf einen Abschluss. Wie eine empirische Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Eltern – Lehrer – Schulerfolg, 2013) zeigt, wird für Eltern in der gesellschaftlichen Mitte das Abitur zum alleinigen Bildungsmaßstab. „Die Ansprüche werden immer höher. Die Berufe, die man früher mit Realschulabschluss gemacht hat, dafür muss man heute fast Abitur haben […]. Wir leben nun mal in einer Leistungsgesellschaft, und da muss man sich als Elternteil fragen: In welche Richtung soll mein Kind gehen?“ (Vater).

Zudem machen die Eltern die Erfahrung, dass andere Abschlüsse an Wert verlieren. „Wenn Kinder heute nicht auf das Gymnasium gehen, da wird man schon abwertend betrachtet. Hauptschule heißt ‚Deppenschule‘, und da sind nur Ausländer“ (Mutter). Aus Sicht der Eltern der sozialen Mittelschicht ist sowohl die Hauptschule als auch die Zusammenlegung von Hauptund Realschule zur „Realschule plus“ beziehungsweise Mittelschule oder Oberschule negativ konnotiert. Die Gründe liegen nach Ansicht der Eltern im schlechten sozialen Umfeld und in den Beschränkungen der späteren Berufschancen des Kindes. Daher bleibt das Gymnasium für die Eltern der gesellschaftlichen Mitte die angestrebte Schulart.

Die Mehrheit der Eltern und Lehrer spricht sich nach einer Allensbach-Befragung vom 16. Juni 2012 für das Gymnasium aus. Daher kommt bereits in der Grundschule – in der Wahrnehmung vieler Eltern und auch Lehrer – der Entscheidung für die weiterführende Schule eine zentrale Weichenstellung für die Lebenschancen des Kindes zu. Mit dem Gymnasium wird die Erwartungshaltung verbunden, dass das Kind gefördert wird, eine homogene Schülerschaft vorfindet und dass das Abitur den Schlüssel für den weiteren beruflichen Lebensweg darstellt. Allerdings hat sich mit der Einführung von G8 die Einstellung hinsichtlich des Gymnasiums bei der Mehrheit der Eltern verändert. Die Unzufriedenheit der Eltern im Westen Deutschlands mit G8 ist groß. Die Kritik entzündet sich vor allem am Selbstverständnis des Gymnasiums, das die Mehrzahl der Eltern als eine Art „Lernstoffvermittlungsagentur“ wahrnimmt, aber nicht mehr als Bildungseinrichtung. Für ein Wiederholen oder Einüben des Stoffes ist im regulären Unterricht keine Zeit mehr, sodass die Vertiefung und das Üben des Stoffes zu Hause mit Unterstützung insbesondere der Mutter stattfinden.

 

Mütter und Schulerfolg

Das Familienleben wird aus Sicht der Eltern von der Schule nachhaltig geprägt. Vor allem Mütter in der gesellschaftlichen Mitte unterstützen ihre Kinder nachmittags, um die fehlende Übungskultur auszugleichen. „Das Schulsystem hat das so festgelegt, dass die Eltern mithelfen müssen. Anders schaffen die Kinder das nicht mehr“ (Mutter). Diese Entwicklung hat Konsequenzen für das Selbstverständnis von Müttern und deren berufliche Situation. „Ich kenne eine Reihe von Müttern, die alle studiert haben und zu Hause bleiben, um sich nachmittags um die Schule ihrer Kinder zu kümmern. Das kann doch nicht sein“ (Mutter). Angesichts dieser aus Sicht der Mütter aktiven Unterstützung ihrer Kinder, die das Gymnasium besuchen, ist ihre Unzufriedenheit mit dem Gymnasium – vor allem mit G8 – groß. Aus ihrer Sicht wird die Vertiefung des Lernstoffes an die Eltern delegiert und diese Unterstützung zum Teil von den Lehrern aktiv eingefordert. Die verkürzte Gymnasialzeit hat – so die Kritik – vor allem eine Konsequenz: stures Lernen.

Eltern beklagen, dass die verkürzte Gymnasialzeit zu einer Ausdehnung der Schule in den familiären Nachmittag führt und Hobby, Freizeit und spontanes Verabreden sowie grundsätzlich jedes außerschulische Engagement auf der Strecke bleiben. Der von vielen Eltern beklagte Unterrichtsausfall oder die Krankheit des Kindes führen in vielen Familien bereits zu verstärktem häuslichem Druck, das versäumte Wissen aufzuholen. Aus Sicht der Eltern hat die Schulpolitik ein falsch verstandenes Leistungsprinzip zum Dogma gemacht. „Wenn ich sehe, wie die Kinder nach Hause kommen und welchem Druck sie standhalten müssen, da frage ich mich eigentlich immer mehr: Muss das eigentlich so sein, und wo ist die Kindheit?“ (Mutter).

 

Kaum zu bewältigende Stoffmengen

Viele Eltern sind verunsichert, ob sie ihren Kindern überhaupt noch Werte wie „Leistung“, „Anstrengung“ und „Ehrgeiz“ vermitteln sollen. Während Eltern in den süddeutschen Bundesländern eine kaum zu bewältigende Stoffmenge mit einer Kultur des ständigen Prüfens und Abfragens beklagen, die zu einem „Bulimie-Lernen“ führt, das den Lernstoff kurzfristig abruft, um ihn danach zu vergessen, beklagen Eltern anderer Bundesländer, dass ihre Kinder den Leistungsstand und die Erwartung an Leistung mangels Vorgaben nicht einschätzen können. Aber auch hier führt die gymnasiale Schulzeitverkürzung zum Mehrengagement der Eltern für die Schule ihrer Kinder, da eine Vertiefung im Unterricht nicht stattfindet.

Im Vergleich zu ihrer eigenen Schulzeit stellt die heutige Elterngeneration eine große Veränderung fest. Die Fokussierung auf Noten und Schulerfolg hat es zu ihrer Schulzeit nicht gegeben, und eine mehr oder weniger regelmäßige Unterstützung durch die Mutter war eher die Ausnahme als die Regel. Dies hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Das Verhältnis der Eltern zur Schule hat sich grundlegend gewandelt. Das hängt einerseits mit dem gestiegenen Bildungsstand der Eltern und der geringen Kinderzahl in den Familien zusammen, andererseits mit dem gestiegenen Anspruch der Eltern auf einen möglichst optimalen Bildungsweg ihres Kindes. Schule hat aus Sicht der Eltern eine Schlüsselfunktion für die Lebenschancen und den Lebensverlauf ihrer Kinder. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ein guter Schulabschluss für 75 Prozent der Eltern sehr wichtig ist.

Allerdings verliert die Mehrzahl der Eltern durch die Reformierung des Gymnasiums mehr und mehr das Vertrauen in das öffentliche Bildungssystem. Eltern beklagen die schlechte Ausstattung der Schulen, die zu großen Klassen, die Überforderung der Lehrer in heterogenen Klassen und das zu geringe Engagement der Lehrer. Mit dieser Kritik verbindet sich der Eindruck, dass sich Eltern zunehmend für den Schulerfolg ihrer Kinder verantwortlich fühlen und die Schulbildung ihrer Kinder selbst in die Hand nehmen. Trotz großer Kritik bleibt das Gymnasium für Eltern der Mittel- und Oberschicht die angestrebte Schulart. Bei über der Hälfte der Eltern ist der Nimbus des Gymnasiums ungebrochen.

 

Was Eltern fordern

Eltern sind allerdings keine homogene Gruppe und keine Solidargemeinschaft. Während Eltern am oberen Rand einen umfassenden Bildungsanspruch reklamieren und eher zu Privatschulen neigen, bejahen Eltern im gehobenen gesellschaftlichen Milieu Leistung und Distinktion. Die Mehrheit der gesellschaftlichen Mitte hat ein ambivalentes Verhältnis zum Gymnasium. Sie versucht, mit ihren Mitteln den Ansprüchen gerecht zu werden, ist allerdings verunsichert hinsichtlich der geforderten Leistungen. Eltern am unteren Rand sehen im Gymnasium eine Institution überzogener Leistungsanforderungen. Die Mehrheit der Eltern erhebt Anspruch auf individuelle Förderung und fordert kleinere Klassen. Vor dem Hintergrund der heterogenen Schülerschaft des Gymnasiums wünscht sich die Mehrheit der Eltern eine intensivere und nachhaltigere Wissensvermittlung im Unterricht.

Angesichts der Erfahrungen der Eltern und auch der Lehrer mit dem Schulalltag im Gymnasium stellt sich die grundlegende Frage: Was kann/soll das Gymnasium – auch angesichts der Konkurrenz durch Gemeinschafts-, Gesamt- und Sekundarschulen – zukünftig leisten?

Diese Frage treibt zurzeit Elternverbände in einigen Bundesländern um. Mit dem Ausbau der Gemeinschaftsschulen und der veränderten Lehrerausbildung, die in einigen Bundesländern angestrebt wird, sehen Elternverbände ihre Wahl- und Gestaltungsfreiheit in Gefahr und das Gymnasium durch neue Schulformen schleichend ersetzt.


Christine Henry-Huthmacher, geboren 1955 in Saarbrücken, Koordinatorin für Bildungs-, Familien- und Frauenpolitik in der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.


Literatur

Wippermann, Katja/Wippermann, Carsten/Kirchner, Andreas: Eltern – Lehrer – Schulerfolg. Herausgegeben von Christine Henry-Hutmacher, Elisabeth Hoffmann und Michael Borchard, Stuttgart 2013.

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