Das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung ist in den letzten Monaten durch ein hohes Vorkommen von Gewaltkriminalität im öffentlichen Raum, unter anderem tägliche Messerkriminalität, Gruppenvergewaltigungen und Drogenkriminalität sowie zuletzt nach den islamistischen Anschlägen in Solingen im August und in Mannheim im Mai 2024 erheblich beeinträchtigt. Durch diese Anschläge erhielt eine seit Längerem zu beobachtende Entwicklung einen zusätzlichen Schub. Eine INSA-Meinungsumfrage aus dem Frühjahr 2024 zeigt, dass die Öffentliche Sicherheit mit etwa 90 % nach wie vor eines der entscheidenden Themen für die Menschen in Deutschland ist. Nur 51 % der Befragten glauben, dass die Polizei in Deutschland aktuell in der Lage ist, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Alarmierende 43 % glauben das jedoch nicht! Neun von zehn Befragten (89 %) halten die Arbeit der Polizei in Deutschland für wichtig. Etwa zwei Drittel der Befragten sind der Meinung, die Polizei werde nicht genügend von der Politik unterstützt: 28 % erachten die Unterstützung als ausreichend, 62 % als unzureichend.1
Für die Zukunft erwarten die Deutschen keine nachhaltige Verbesserung der Sicherheitslage. So stellte der Munich Security Report in einer von Oktober bis November 2023 laufenden Erhebung folgende Frage: „Stimmen Sie der Aussage zu, dass Deutschland in zehn Jahren sicherer sein wird?“ 47 % der befragten Deutschen antworteten mit „Nein“, 38 % mit „Weder/Noch (bleibt wie bisher)“. Lediglich 15 % der befragten Deutschen antworteten mit „Ja“.2 Die negative Einschätzung der Bevölkerung belegen die Auswertungen der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die aktuelle Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) zur Messerkriminalität, die Vielzahl der Vergewaltigungen und die Bedrohungen, die von Extremismus und Terrorismus sowie von Cybercrime und Organisierter Kriminalität ausgehen. Im Bereich „Islamismus“ und „islamistischer Terrorismus“ sprechen die Sicherheitsbehörden zurzeit von einer „TikTokisierung“ und einem neuen, größeren Täterspektrum.
Das Ausmaß der Bedrohung der Öffentlichen Sicherheit war seit Bestehen der Bundesrepublik auch deshalb noch nie so groß, wie es aktuell der Fall ist, weil verschiedene Bedrohungen und Akteure die Öffentliche Sicherheit gleichzeitig gefährden. Qualität und Quantität der Straftaten steigen seit Jahren signifikant an. Die Qualität der Bedrohungen, beispielsweise die Gewaltbereitschaft im Bereich des islamistischen Terrorismus sowie das Vorgehen der Akteure mithilfe neuer technischer Mittel, hat erheblich zugenommen. Im Ergebnis bringt die Vielzahl der Bedrohungen die deutsche Sicherheitsarchitektur an ihre Belastungsgrenze.3
Die Polizeiliche Kriminalstatistik der deutschen Polizeien zeigt für das Jahr 2023, dass die Polizeien der Länder und des Bundes so viele Straftaten wie seit 2016 nicht mehr registriert haben. So wurden 2023 bundesweit rund 5,94 Millionen Straftaten statistisch erfasst – 5,5 % mehr als im Jahr 2022. Das BKA betont bei der Polizeilichen Kriminalstatistik, dass diese nur das Hellfeld – also die der Polizei bekannt gewordene Kriminalität – erfasst.4 Das Dunkelfeld umfasst Straftaten, die der Polizei nicht bekannt geworden sind. Das BKA weist in allen Lageberichten auf das potenziell große Dunkelfeld hin. Die Zahlen der PKS bilden also nur das Hellfeld (die „Spitze des Eisbergs“) ab und sind tatsächlich – mit dem Dunkelfeld – höher, und das in manchen Bereichen (beispielsweise bei Sexualdelikten, Cybercrime und Organisierter Kriminalität) sogar wesentlich. Im Vergleich zu 2019 – dem letzten Jahr ohne coronabedingte Einschränkungen (2019: 5.436.401 Fälle) – ist die Fallzahl 2023 sogar um 9,3 % höher.5 Hinzu kommt, dass 2023 insgesamt 3.469.752 Straftaten aufgeklärt wurden, was einer Aufklärungsquote von lediglich 58,4 % entspricht.
Zunahme bei Schusswaffengebrauch und Messerangriffen
Gemäß der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundesministeriums des Innern und für Heimat wurde 2023 in Deutschland in 4.419 Fällen mit einer Schusswaffe gedroht (8 % häufiger als im Vorjahr), in 4.687 Fällen wurden Schusswaffen tatsächlich eingesetzt (+5,5 %). Die Gewaltkriminalität stieg 2023 um 8,6 % auf 214.099 Fälle an. Die Delikte Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen stiegen auf 2.282 Fälle, und die gefährliche und schwere Körperverletzung um 6,8 % auf 154.541 Fälle.6
Im Vergleich zum Berichtsjahr 2019 (vor der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Lockdowns) nahm die Gewaltkriminalität 2023 um 18,3 % zu, Vergewaltigungen, sexuelle Nötigungen und sexuelle Übergriffe in besonders schweren Fällen (einschließlich Tathergänge mit Todesfolge) stiegen um 29,3 % (!), Raubdelikte um 24,4 % (2019: 36.052 Fälle), gefährliche und schwere Körperverletzung um 16,1 % (2019: 133.084 Fälle).7
2023 ereigneten sich – im Hellfeld erfasst – mindestens 8.951 Messerangriffe in Deutschland. Dazu kam die enorm hohe Zahl von 1.114.817 Straftaten der „Straßenkriminalität“. Anstiege sind hier vor allem bei den Delikten „sexuelle Belästigung §184i StGB [Strafgesetzbuch]“ (+10,5 % auf 19.307 Fälle), „sonstige Raubüberfälle auf Straßen, Wegen oder Plätzen“ (+18,0 % auf 19.074 Fälle) sowie „gefährliche und schwere Körperverletzung auf Straßen, Wegen oder Plätzen“ (+12,9 % auf 68.899 Fälle) zu erkennen.8
„Messerangriffe“ im Sinne der Erfassung von Straftaten in der PKS sind Tathandlungen, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird. 8.951 Messerangriffe der BKA-Statistik bedeuten 24,5 Messerangriffe mit gefährlicher oder schwerer Körperverletzung in Deutschland pro Tag. Das ist ein Allzeithoch! Hinzu kommen gemäß der PKS des BKA allerdings noch Messerangriffe bei Raubdelikten in 4.893 Fällen, was einen Anstieg um 11 % gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Addiert man die 8.951 Angriffe mit den 4.893 Fällen von Raubdelikten mit Messereinsatz, ergeben sich 13.844 Taten und damit 37,9 Fälle pro Tag in Deutschland, bei denen ein Mensch entweder mit einem Messer bedroht wird – auch im Rahmen von Raubüberfällen – oder mit dem Messer (schwer) verletzt wird.9 Zu beachten ist, dass die Polizeibehörden bei dieser Zahl von Messerkriminalität lediglich Messer erheben, also nicht Macheten, Spitzhacken, angespitzte oder angeschärfte Gegenstände sowie andere Hieb- und Stichwaffen. Diese Erhebung erfolgt in den Bundesländern unterschiedlich, oder es wird keine konkrete Statistik geführt, ob es sich um ein Messer, eine Machete oder eine angeschärfte Eisenstange handelt. Daraus folgt, dass die tatsächliche Zahl von Angriffen mit Hieb- und Stichwaffen noch erheblich höher liegt als durchschnittlich 37,9 Fälle pro Tag.
Allein in Berlin gab es 2023 111 Fälle von Vergewaltigungen durch mehr als zwei Täter, häufig Gruppenvergewaltigungen, erklärte der Berliner Innenstaatssekretär Christian Hochgrebe (SPD) Mitte Mai 2024 auf eine Parlamentarische Anfrage hin. Die Opfer waren unter sechs Jahre (!) bis über sechzig Jahre alt. Besonders oft betroffen waren jedoch Jugendliche im Alter von vierzehn bis sechzehn Jahren sowie Erwachsene im Alter von 25 bis dreißig Jahren. Der Anteil ausländischer Tatverdächtiger lag bei 54 %. Der jüngste Täter war unter zwölf Jahre alt. Sechzehn Gruppenvergewaltigungen fanden in Berliner Parks statt.10
Im Jahr 2023 gab es in Deutschland insgesamt rund 126.000 Straftaten – im Hellfeld – gegen die sexuelle Selbstbestimmung, sogenannte Sexualdelikte, die damit einen historischen Höchststand in Deutschland erreicht haben.11
Die repräsentative BKA-Umfrage Sicherheit und Kriminalität in Deutschland – SKiD 2020. Bundesweite Kernbefunde des Viktimisierungssurvey des Bundeskriminalamts und der Polizeien der Länder zeigte bereits 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Ausgangsbeschränkungen, dass sich weniger als die Hälfte der Bevölkerung (46 %) nachts in öffentlichen Verkehrsmitteln sicher fühlte. Unter Frauen war dieser Anteil (33 %) deutlich geringer als unter Männern (60 %). Um sich vor Kriminalität zu schützen, meidet ein erheblicher Teil der Bevölkerung nachts bestimmte Orte (44 %) oder die Nutzung des ÖPNV (37 %) – dies gilt vor allem für Frauen (58 % beziehungsweise 52 %). Der Großteil der Bevölkerung (77 %) hält die Polizei zudem für überlastet. Ebenso empfindet mehr als ein Drittel (39 %) die Polizeipräsenz im öffentlichen Raum als nicht ausreichend.12 Ein neuer Viktimisierungssurvey des BKA ist für 2025 angekündigt und wird sehr wahrscheinlich alarmierende Einschätzungen und Zahlen zeigen, die ebenfalls belegen, wie sehr unsere Öffentliche Sicherheit bedroht ist.
Vertrauenskrise des politischen Handelns
Der Spiegel berichtete am 26. Juni 2024 über die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage vom Mai 2024 und titelte „‚Neuer Tiefpunkt‘ in puncto Vertrauen: Mehr als zwei Drittel der deutschen Bürger halten den Staat für außerstande, wichtige Themen wie die Flüchtlings- oder Bildungspolitik lösen zu können“. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz räumte „eine Vertrauenskrise“ ein: 70 % der Befragten halten den „deutschen Staat für überfordert“. Nur noch 25 % glauben demnach daran, dass der deutsche Staat seine Aufgaben noch erfüllen kann. Für überfordert halten die Befragten den deutschen Staat demnach vor allem in der Asyl- und Flüchtlingspolitik, der Bildungspolitik sowie bei der öffentlichen Sicherheit.13
Bei dem Gewaltphänomen der Messerkriminalität, das in vielen Fällen drastische Folgen für die Opfer nach sich zieht – Tod, schwerste Verletzungen mit körperlichen und psychischen Folgen –, vermittelten Politikerinnen und Politiker, aber auch ein großer Teil der Medien zu lange den Eindruck, es handele sich um sogenannte „Einzelfälle“. Eine klare Strategie der politisch Verantwortlichen zur Eindämmung dieser Kriminalitätsform fehlt noch immer.
Die sich seit Jahren täglich ereignenden Fälle von Messerkriminalität, Gruppenvergewaltigungen, Überfällen sowie die zahlreichen Delikte extremistischer Gewalt in Deutschland sollten dazu führen, dass wir realistisch auf die Fakten und Zahlen schauen und dies nicht idealistisch tun, wie es im politischen Diskurs und in den Medien leider immer noch zu beobachten ist.
Es ist dringend notwendig, dass die Gesellschaft, Politikerinnen und Politiker sowie die Menschen in Deutschland die vielfältigen Bedrohungen, denen unsere Öffentliche Sicherheit ausgesetzt ist, realistisch betrachten und diskutieren. Und die Sicherheitsbehörden müssen die Fähigkeiten und Mittel erhalten, um wirksame Maßnahmen gegen diese Gefahren ergreifen zu können.
Stefan Goertz, promovierter Staatswissenschaftler, Professor für Sicherheitspolitik, Schwerpunkt Extremismus- und Terrorismusforschung, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei, Lübeck.
Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.
1 „Wie die Deutschen ticken: Polizei ist wichtig, wird aber nicht ausreichend unterstützt“, in: The European, 10.03.2024, www.theeuropean.de/wissenschaft/hermann-binkert-innere-sicherheit-ist-ein-top-thema-aber-polizei-wird-ungenuegend-geschuetzt [letzter Zugriff: 09.09.2024].
2 Matthias Janson: „Deutsche blicken pessimistisch auf Sicherheit des Landes“, in: Munich Security Report, 13.02.2024, https://de.statista.com/infografik/31737/befragte-die-denken-dass-ihr-land-in-den-naechsten-10-jahren-sicherer-werden-wird/ [letzter Zugriff: 09.09.2024].
3 Vgl. Stefan Goertz: Öffentliche Sicherheit in Gefahr?, Stuttgart 2024, Kapitel 1.
4 Vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat: Polizeiliche Kriminalstatistik 2023. Ausgewählte Zahlen im Überblick, Berlin 2024, S. 7.
5 Vgl. ebd., S. 9–15.
6 Vgl. ebd., S. 12–15.
7 Vgl. ebd., S. 12–15.
8 Vgl. ebd.
9 Vgl. ebd., S. 15.
10 Vgl. „Statistik des Grauens. Berlin zählt 111 Gruppenvergewaltigungen in einem Jahr“, in: Die Welt, 28.05.2024, www.welt.de/vermischtes/kriminalitaet/article251726450/111-Gruppenvergewaltigungen-in-Berlin-im-vergangenen-Jahr.html [letzter Zugriff: 09.09.2024].
11 Vgl. Statista: Sexualdelikte in Deutschland, 28.06.2024, https://de.statista.com/themen/800/sexual-und-drogendelikte/#topicOverview [letzter Zugriff: 09.09.2024].
12 Vgl. Bundeskriminalamt: Sicherheit und Kriminalität in Deutschland – SKiD 2020. Bundesweite Kernbefunde des Viktimisierungssurvey des Bundeskriminalamts und der Polizeien der Länder, Wiesbaden 2020, S. VI–IX.
13 Vgl. „Forsa-Umfrage: 70 Prozent der Bürger halten Staat für überfordert“, in: Der Spiegel, 26.06.2024, www.spiegel.de/politik/deutschland/deutschland-70-prozent-der-buerger-halten-staat-fuer-ueberfordert-forsa-umfrage-a-ea1175ab-d979-4e5c-9adb-39b2dc059d44 [letzter Zugriff: 09.09.2024].