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"Anonymous" ist eine totale Absage an die klassische Politik

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Sie standen am Swimmingpool; ein loser Haufen von Menschen, die einander fremd waren und schon bald die Schlagzeilen weltweit dominieren würden. Und noch bevor sie ahnen konnten, dass aus ihnen ein „Kollektiv“ werden würde, noch bevor sie sich auf den Namen Anonymous geeinigt hatten, hatten sie bereits ihre Form des Protests gefunden: Es war eine Blockade.

Anonymous, das sind jene Aktivisten, die über Jahre hinweg die internationale Politik mitgestalten wollten – und in ihrer Hochphase gleichzeitig das FBI und den amerikanischen Geheimdienst NSA aufschreckten. Während die NSA vor Cyber-Attacken durch Mitglieder von Anonymous warnte, engagierte das FBI einen Spitzel, um die Gruppe auszuheben. In der Zwischenzeit legten sich Anonymous-Mitglieder mit der Sekte Scientology, dem Bezahldienst PayPal, dem Online-Laden Amazon und der amerikanischen Tea-Party-Bewegung an – um nur einige der Gegner zu nennen. Und die Art, wie sie ihren Protest und ihre Aktionen geplant haben, dürfte ohne Vorbild sein. Angefangen hat es an einem Swimmingpool.

„Habbo Hotel“ ist eine Online-Community. Die Spieler können dort künstliche Avatare erstellen, also Figuren bauen und entscheiden, welche Haut- und Haarfarbe, Frisur und Kleidung diese haben sollen. Anschließend checken die Spieler in das virtuelle Hotel ein und verbringen hier ihre Zeit. Das Zielpublikum dieses Spiels sind Teenager, die zwischen zwölf und achtzehn Jahre alt sind.

Am 12. Juli 2006 stürmen Tausende Spielfiguren das Hotel. Sie sehen alle gleich aus: schwarze Hautfarbe, Anzug, Afrohaare. Warum das so ist, ist bis heute unklar. Sicher sagen kann man nur, woher diese Spieler kommen und worauf sie es abgesehen haben. Sie blockieren den Pool, sodass keiner der regulären Spieler baden gehen kann. Warum, ist unklar. „For the lulz“, sagen Anonymous-Mitglieder heute: Damit sie lachen können. Es gibt keinen rationalen Grund. Das Online-Spiel muss mehrfach abgebrochen werden, weil die Moderatoren die Lage nicht in den Griff kriegen.

 

Mobilisierung kritischer Massen

Diese Blockade ist eine erste Erkenntnis. Das, was sich hier gezeigt hat, ist die Mobilisierung einer kritischen Masse, die dazu in der Lage ist, beliebige Strukturen lahmzulegen. Sie muss sich nur organisieren. Im Fall von Anonymous passierte das über eine Seite im Internet, die für Unbeteiligte sämtliche Klischees des anonymen Mobs bestätigt. Sie heißt 4chan – die Seite besteht aus vielen Bildern und kurzen Texten. Auf 4chan gibt es mehrere Unterforen – das berüchtigtste davon heißt /b/; die Einträge verschwinden nach fünfzehn Minuten. Die Bilder hier verstoßen gegen jeden guten Geschmack. Rassismus, Frauenfeindlichkeit, obszöne Sprüche, Bilder aus Pornos, Beschimpfungen: Außenstehende halten es hier nicht besonders lange aus.

Die Beiträge werden standardmäßig unter dem Namen „Anonymous“ erstellt. Der spätere Name des Kollektivs ist also eine Referenz auf ihren Ursprungsort. Zu einer Zeit, in der sich das Internet immer mehr dahin entwickelt, dass Menschen sich mit ihrem echten Namen auf Webseiten anmelden müssen, soll dieses Hochhalten von Anonymität einen Grundgedanken des Internets verdeutlichen: Es sei möglich, sich im virtuellen Raum von gesellschaftlichen Konventionen loszusagen.

Gleichzeitig ist 4chan die Brutstätte von vielen Formen der Internetkultur. Die Art, wie heute im Internet Witze gemacht werden – und die zahlreiche Seitenbetreiber reich gemacht hat –, sie wurde auf 4chan etabliert.

Ein Beispiel dafür wären sogenannte Meme. Das Wort selbst geht zurück auf den Biologen Richard Dawkins, und das Konzept besagt, dass Ideen ähnlich wie egoistische Gene funktionieren und sich fortpflanzen wollen. Um ein Beispiel zu nennen: Es hat sich eine Form des Geschichtenerzählens entwickelt, die anhand von schlecht gezeichneten Comics funktioniert. In sechs Bildern wird erzählt, wie eine nicht näher benannte Person scheitert, egal, was sie macht. Die anonymen Nutzer posten dieses Comic hunderttausendfach, jedes Mal ist es eine Abwandlung der Geschichte. Die Figur bekommt einen Namen – „Epic Fail Guy“, übersetzt etwa: der Typ, der grandios scheitert. Die Community schreibt diese Geschichte, und in einem dieser Comics findet

„Epic Fail Guy“ eine Maske – warum ausgerechnet diese Maske fortan in allen weiteren Bildern benutzt wird, ist unklar. Es ist aber jene Maske, die die Mitglieder verwenden werden, wenn sie später ihre Bekennervideos drehen oder sich zu Demonstrationen im analogen Raum verabreden.

 

Unter der Maske von Guy Fawkes

Die Maske zeigt Guy Fawkes, einen katholischen Offizier, der am 13. April 1570 in York geboren wurde und mit sechzehn Jahren zum Katholizismus konvertierte. 1605 versuchte er in Reaktion auf die Verfolgung von Katholiken, das Parlament in England mit einem Sprengstoff-Attentat in die Luft zu jagen. Die Geschichte wurde 2006 in einem Kinofilm aufgegriffen. In „V wie Vendetta“ versucht eine Einzelperson, sich gegen ein dystopisches System, einen autoritären Staat zu wehren. In einer finalen Szene kommt es zu einem Aufstand der Bevölkerung: Die Menschen tragen allesamt die Guy-Fawkes-Maske. Dass Anonymous sich also für Guy Fawkes entschieden hat, ist als bewusste politische Entscheidung zu werten. Die Mitglieder von Anonymous und 4chan sind generell der Auffassung, dass das Internet durch staatliche Regulierung zum dystopischen Raum wird, in dem Großkonzerne und Staaten ihre Politik oktroyieren können. Was nicht passt, wird gelöscht – von Musikvideos bis hin zu unvorteilhafter Kritik. Anonymous setzt sich für unbedingte Informationsfreiheit ein.

Doch zu Beginn verstand sich Anonymous nicht als politisches Kollektiv. Die Gruppe wollte ihre schiere Masse nur dazu einsetzen, hin und wieder ein paar Systeme lahmzulegen und ihre Macht, zu stören, demonstrieren. Doch 2008 tauchte ein zehnminütiges Video im Netz auf: Darauf war Filmstar und Scientology-Mitglied Tom Cruise zu sehen. In einer skurrilen Rede, die offensichtlich nur für die interne Kommunikation gedacht war, begründete Cruise, warum die Anhänger der Sekte effektiv die besseren Menschen seien. Scientology selbst war es peinlich, dass dieses Video in die Öffentlichkeit gelangte, und forderte alle Seiten auf, das Video zu löschen. Für Anonymous war das ein willkommener Anlass, zu demonstrieren, was es bedeutet, wenn etwas ins Internet gelangt. Sie luden das Video erst herunter und dann auf anderen Seiten erneut hoch. Durch diese Streuung verhinderten sie, dass die Botschaft von Scientology gelöscht werden konnte.

 

Massenhaft Pizza für Scientology

Gleichzeitig starteten die Mitglieder diverse Aktionen: Sie bestellten massenhaft Pizzen im Namen von Scientology und verschickten schwarze Faxe, die die Tinte des Faxgeräts in kürzester Zeit verbrauchten. Und sie veröffentlichten weitere Videos – diese Videos werden mittlerweile bei jeder Aktion hochgeladen. Im Fall von Scientology erklärt eine Computerstimme, wieso Anonymous-Mitglieder die Sekte verachten. Sie werfen ihr Einschüchterung und Scheinheiligkeit vor und nennen die Konsequenz: Alle offiziellen Internet-Seiten von Scientology sollen aus dem Netz verbannt werden. Anonymous startete sogenannte DDoS-Attacken. Hierbei erhält eine Webseite so viele Anfragen, sie zu laden, dass sie nicht mehr bedient werden kann: Sie geht in die Knie und ist von niemandem mehr aufzurufen.

4chan ist als Plattform nicht besonders gut geeignet, um zu diskutieren; daher wichen Anonymous-Mitglieder auf ein Chat-System namens IRC aus. Die Aktionen gegen Scientology wurden hierüber diskutiert. Wer die Chat-Protokolle liest, erkennt mitunter nur schwer, dass hier tatsächlich Menschen miteinander reden. Wenn sich tausend Menschen in einer Konversation befinden, verläuft diese anarchisch. In diesen Chaträumen wird Anonymous schließlich zu einer politischen Organisation. Ihre Mitglieder verabreden sich zu Demonstrationen vor Scientology-Kirchen, ihr Protest gegen die Sekte geht jahrelang weiter.

 

Wikileaks und Aktivismus light

Als 2010 eine Organisation namens Wikileaks knapp 250.000 Botschaftsdepeschen veröffentlicht, ist das exakt jene Informationsfreiheit, die auch eine Organisation wie Anonymous gutheißt. Sie verspricht sich davon eine Politik, die sich nicht mehr auf Hinterzimmer-Gespräche berufen kann, sondern die ihre Entscheidungen auch öffentlich kommunizieren muss. Wikileaks veröffentlichte auch ein Video, das zeigte, wie US-Militäreinheiten 2007 in Bagdad aus einem Hubschrauber wahllos in eine Menge schossen und dabei Journalisten und Zivilisten töteten. Diese Veröffentlichung beschleunigte die Aufklärung des Vorfalls, da die US-Behörden sich weigerten, Auskunft zu erteilen.

Doch Wikileaks erfährt Gegendruck, sowohl durch die Regierung als auch durch Firmen wie Mastercard und PayPal. Diese weigern sich, Überweisungen an die Organisation durchzuführen – Wikileaks finanziert sich vor allem über Spenden. Die Weigerung wird von den Betroffenen als Versuch angesehen, die Organisation finanziell auszutrocknen. Mitglieder von Anonymous gehen zum nächsten Schritt über: Sie haben ein Computerprogramm entwickelt, das es für nicht-versierte Sympathisanten auf Knopfdruck ermöglicht, Webseiten zu attackieren: herunterladen, Adresse eingeben, Seite überfordern. Ein Aktivismus light, der nach deutschem Recht strafbar ist. Gleichzeitig unterstützten sie auch Oppositionelle in Tunesien: Während der Umwälzungen im arabischen Raum wurden Oppositionsgruppen von Regierungen ausspioniert. Mit einer besonderen Infrastruktur ist es möglich, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Anonymous-Mitglieder haben Wissen und Mittel weitergeleitet. Internet und Zensur sind die beiden Kernthemen der Bewegung, und 2010 beginnt ihre Hochphase.

Sie attackieren Webseiten, verschaffen sich illegal Zugang zu Rechnernetzen von Zeitungen und IT-Sicherheitsunternehmen, entwenden Dokumente von Computern des FBI. Die Chat-Diskussionen werden jetzt in separate Räume verlagert. Diejenigen, die ahnen, wie man Netzwerkschranken umgeht, sprechen sich über neue Ziele ab. Sie wählen eine Form des Protests, gegen den Regierungen nicht ankommen können. Im politischen Sinne kann man hierbei nicht von einem Dialog sprechen: Es werden schlicht zu erfüllende Forderungen erhoben. Anonymous erklärt Feindschaften und geht gegen seine Feinde vor.

 

Vom FBI zerschlagen

Das erklärt auch, mit welcher Wucht das FBI gegen Anonymous vorgegangen ist. Ein Kernmitglied verriet durch Unachtsamkeit seinen Standort, das FBI schnappte sich den Mann und drohte ihm mit Haft. Es machte ihm ein Angebot: Er verrät seine Kumpane, die Behörde kommt ihm bei der Haftdauer entgegen. Mit einem Spitzel in Spitzenposition dauerte es nicht lange bis zur ersten Verhaftungswelle – für die Mitglieder ein Schock, wähnten sie sich doch in der Sicherheit der Anonymität. Das FBI bewies ihnen das Gegenteil. Nach dieser Aktion hat das Netzwerk von Anonymous effektiv an Schlagkraft verloren. Zwar existiert das Kollektiv auch heute noch weiter, aber seine Macht ist gebrochen.

Die zentrale Koordination existiert nicht mehr, es gibt lediglich noch Splittergruppen. Mal gehen Menschen unter dem Banner Anonymous gegen den Ku-Klux-Klan vor, mal verwenden sie aber auch den Namen Anonymous, um gegen deutsche Medien zu agieren. Während der Ukraine-Krise zum Beispiel wurden sämtliche Facebook-Seiten, die sich russlandkritisch äußerten, mit Kommentaren überhäuft, sodass eine effektive Kommunikation unmöglich war. Redakteure erhielten Drohbriefe, ihre Telefone klingelten tagelang nonstop.

 

Totale Absage an klassische Politik

Was von Anonymous übrig bleibt, ist die totale Absage an klassische Politik. Es geht nicht darum, einen Interessenausgleich zu betreiben, vielmehr soll die eigene Position durchgesetzt werden. Regierungen weltweit zeigten sich, so die Sichtweise von Anonymous, wiederholt internetfeindlich. Das Verhalten gegenüber Wikileaks oder das Ausschalten des Internets im arabischen Raum seien hierfür nur zwei Beispiele. Die Position von Anonymous werde in den politischen Diskurs nicht aufgenommen. Folglich werde sie abseits klassischer Politik über andere Wege kommuniziert.

Auch wenn Anonymous heute keine größere Rolle mehr zu spielen scheint: Durch ihr aggressives Auftreten hat die Organisation die Aufmerksamkeit des Mainstream auf sich gezogen. Viele der netzpolitischen Diskussionen und der Debatten um Datenschutz im Netz, die heute geführt werden, sind nun im Kontext ihrer Vorboten, der Protestaktionen von Anonymous, zu sehen. Die Bewegung hat keine Form entwickelt, die sich etablieren könnte, sie ist aber in der Zeit ihres Wirkens, vergleichbar mit der APO der 1960er-, 1970er-Jahre, effektiv gewesen. Der Ball liegt jetzt im Feld des Gegners: dem der klassischen Politik.

 

Hakan Tanriverdi, geboren 1984 in München, freier Journalist unter anderem für das Digital-Ressort von Sueddeutsche.de, twittert unter @hakantee. Sein Schwerpunkt sind Netz- und Technologie-Themen.

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