Einer Sache ist sich Hans Werner Sinn gewiss: Ohne einen Schuldenerlass und eine reale Abwertung durch Deflation in den Eurokrisenländern – allen voran Griechenland, aber nach wie vor auch Portugal und Spanien – wird es nicht gelingen, das Eurofinanzsystem, das sich weiterhin in einem Krisenmodus befindet, wieder zu stabilisieren.
So sicher wie heute war sich Sinn – seines Zeichens einer der streitbarsten deutschen Ökonomen des vergangenen Jahrzehnts – jedoch nicht immer. Sehr freimütig räumt er gleich in der Einführung zu seinem im Oktober 2015 erschienenen Buch Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel ein, dass er vor zwanzig Jahren, als auf dem Gipfel von Madrid im Dezember 1995 der Euro endgültig beschlossen wurde, nicht auf die warnenden Stimmen der älteren und erfahrenen Ökonomen hören wollte: „Ich war ein junger Theoretiker, der an die Einhaltung der Regeln glaubte, und ich muss zugeben, dass ich mich als überzeugter Europäer von erhabenen Gefühlen forttreiben ließ, statt den Skeptikern das ihnen gebührende Ohr zu gewähren“ (Seite 2), konstatiert Sinn rückblickend.
Die Eurozone – ein Scherbenhaufen?
Heute weiß er es besser. Als Kernproblem der Eurokrise beschreibt er die institutionelle Architektur des Eurosystems und die daraus resultierende Aufweichung der nationalen Budgetbeschränkungen der jetzigen Krisenländer, zu denen er Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien und Zypern – die GIPSIZ-Länder – zählt. Aus seiner Sicht erinnert die Eurozone heute an einen Scherbenhaufen, über den man von Krise zu Krise stolpere. Das Tragische für den deutschen Ökonomen ist dabei, dass ein Ende dieser Rettungsschleife noch nicht in Sicht ist.
Faktenreich, detailliert und datenbasiert analysiert er zahlreiche Faktoren, die seit 2007 zur Krise im Euro Währungsraum führten. Sinn beschreibt den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der südeuropäischen Länder und dokumentiert sämtliche Rettungsmaßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) und der europäischen Staatengemeinschaft. Er greift in seiner Analyse, die mehr als 400 Seiten des 500-seitigen Buches ausmacht, vielfach auf Forschungsergebnisse zurück, die er in den vergangenen Jahren als Präsident des ifo Instituts in München gewonnen hat. Das führt natürlich dazu, dass der informierten Leserschaft das eine oder andere bereits bekannt ist – zum Beispiel die von ihm in die Öffentlichkeit gebrachten und in der Wissenschaft heftig diskutierten Target Salden.
Sinn macht als Brandbeschleuniger der Eurokrise die inflationäre Kreditblase aus, die sich durch die Einführung des Euro in den südeuropäischen Krisenstaaten über-Jahre entwickelt hat und die dazu führte, dass sich Löhne und Preise relativ zu den nordeuropäischen Ländern immer weiter erhöhten. Dadurch büßten die GIPSIZ-Länder deutlich an Wettbewerbsfähigkeit ein. Ein Zustand, den sie früher durch das Instrument der Abwertung der eigenen nationalen Währung behoben hätten, das ihnen aber nun durch die Einführung des Euro nicht mehr zur Verfügung stand. Folglich stiegen die Leistungsbilanzdefizite der GIPSIZ-Länder kontinuierlich an, finanziert über ausländische Kapitalimporte. „Solange die Kapitalmärkte bereit waren, die Defizite zu bezahlen, schien noch alles gut zu gehen. Doch als sich die Kapitalmärkte ab dem Sommer 2007 und dann beschleunigt in der Folge der amerikanischen Finanzkrise zunehmend verweigerten, begann die Krise“ (Seite 157).
Sinn zeigt auf, wie die EZB nach Ausbruch der Krise als „weißer Ritter“ (Seite 196) damit beginnt, mit zunehmender Intensität den Ausfall der privaten Kapitalströme zu kompensieren und dadurch eine Refinanzierungspolitik in Gang setzt, die sich perpetuiert. Er deutet es als Ironie der Geschichte, dass die EZB mit ihrer Politik eine noch größere Kapitalflucht auslöste als die, die sie zu verhindern versuchte, weil sie den Kredit, der von der nationalen Notenbank kam, immer billiger machte. Im Ergebnis lagen „zu viele Milliarden im Schaufenster, zu viel private Haftung wurde auf öffentliche Schultern verlagert, zu viele Risiken wurden eingegangen und zu viel Kapital floss über die Grenzen“.
Deflation in den Krisenstaaten
Sinn analysiert diese zum Teil dramatische Entwicklung recht anschaulich. Weist ein Land Leistungsbilanzdefizite auf, lebt es über die eigenen Verhältnisse und ist somit von Kapitalimporten abhängig. Das mag kurz- und vielleicht auch mittelfristig gut gehen, langfristig aber nicht. Der einzige Weg, den Sinn zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit der Krisenstaaten innerhalb der Währungsunion sieht, wäre eine spürbare Deflation, also eine reale Abwertung in den Krisenstaaten. Die andere Möglichkeit, eine Inflationierung (reale Aufwertung) in den europäischen Kernstaaten und damit vor allem auch in Deutschland, weist er mit Verweis auf das „tief in der deutschen Psyche verwurzelte Trauma der Hyperinflation zwischen 1915 und 1923“ (Seite 180) als nicht gangbaren Weg zurück. Im Übrigen werde am Beispiel Japans deutlich, dass es bei sehr niedrigen Zinssätzen extrem schwierig sei, expansive geldpolitische Impulse zu induzieren. Da die Abwertungsnotwendigkeit in Griechenland, Portugal und Spanien jedoch zwischen zwanzig und dreißig Prozent läge, verwirft er auch den Weg einer realen Abwertung durch Deflation, da dies an den „Grundfesten einer Gesellschaft“ (Seite 181) rütteln würde, woran diese „womöglich zerbrechen und im Chaos versinken“ (Seite 482) könnte.
An zahlreichen Stellen des Buches unterstreicht Sinn, wie wichtig ihm die europäische Idee ist, die er in Anlehnung an Helmut Kohl als großes Friedensprojekt einstuft. Und so ist es mehr als nachvollziehbar, dass Sinn nicht ein „Alles-oder-nichts“-Ansatz“ vorschwebt, sondern vielmehr eine „atmende Währungsunion“ – also ein System, das nach einem Austritt, der Abwertung der daraus resultierenden neuen Währung, einem Schuldenschnitt und einer sich anschließenden wirtschaftlichen Erholung eine Rückkehroption kennt. Die Botschaft heißt: Der Patient lebt, er bedarf jedoch einiger tief greifender operativer Eingriffe (eigene Währung, Abwertung, Strukturreformen) und einer anschließenden Rehabilitation.
Sinn trägt akribisch und systematisch Fakten zusammen, die mit der Eurokrise in Verbindung stehen, und bringt die Ergebnisse in einen eindrucksvollen Zusammenhang. Er wird zu Recht als einer der führenden deutschen Ökonomen angesehen, auch wenn man nicht in jedem Punkt seine Ansichten teilen muss.
Hans Reckers, geboren 1953, ehemaliges Mitglied des Vorstandes der Deutschen Bundesbank, seit November 2015 Staatssekretär der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung des Landes Berlin.