Verdient hatte Bonn das nicht: Die Zeit, in der die Bundesrepublik Deutschland von Bonn aus regiert wurde, war eine gute Zeit für die damalige Bundesrepublik. Eine Zeit, in der sie sich nach den schrecklichen deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, dem tiefsten Fall der Deutschen in ihrer Geschichte, einen Platz im Kreis der zivilisierten Nationen zurück erarbeitete, in der Welt das Vertrauen der Partner und im Innern Stabilität, Prosperität und eine gefestigte politische Kultur gewann. Ich war selbst achtzehn Jahre politischer Akteur in diesen Bonner Jahren der Republik, bevor die glücklichsten Entwicklungen der jüngeren deutschen Geschichte, der Fall der Mauer und die Deutsche Einheit, uns vor wichtige Entscheidungen stellten – darunter jene Entscheidung vor nunmehr 25 Jahren, welche Stadt in Deutschland künftig Sitz von Parlament und Regierung sein sollte.
Der Deutsche Bundestag hatte im November 1949 beschlossen, dass die leitenden Bundesorgane „ihren Sitz in die Hauptstadt Deutschlands, Berlin, [verlegen], sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind“. Das galt auch vierzig Jahre später, als nach 1989 eben dies möglich wurde.
Kräfte des Festhaltens waren gewaltig
Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, aber die Kräfte des Festhaltens an Bonn waren damals in der Tat gewaltig. Vor der Debatte im Bundestag am 20. Juni 1991, in der über die Hauptstadt-Frage abgestimmt werden sollte, schien es eine sichere Mehrheit für Bonn zu geben. Ich habe dann in meiner Rede an die Abgeordneten appelliert, die verständlichen Sorgen und Bedenken des Tages und der betroffenen Region, auch solche der persönlichen und familiären Lebensplanung, zu überwinden und weitere Perspektiven ins Auge zu fassen. Im Grunde ging es darum: Kann man sich nach einer solchen Jahrhundertfügung wie der gewonnenen Einheit und mit dem Blick auf die deutsche Geschichte seit 1945 ein Deutschland ohne einen Regierungssitz Berlin überhaupt vorstellen? Vor allem empfand ich damals, Deutschland brauche jetzt Bewegung, Mut, sichtbaren Neuanfang, ein starkes Zeichen der neuen Einheit und des Willens, diese Einheit zu leben und zu vertiefen.
Es gab nicht nur kleinliche Einwände gegen den Umzug. Es gab bedenkenswerte Argumente, ernstzunehmende Sorgen. Der Name Berlin stand auch damals nicht nur für eine Stadt. Er stand darüber hinaus für die Erinnerung daran, dass Deutschland in seinen historisch dunkelsten Zeiten von Berlin aus regiert worden war – und das, obwohl unter den Berlinern weder Nationalsozialisten noch Kommunisten und Sozialisten aus eigener Kraft Mehrheiten für die beiden deutschen Diktaturen hatten gewinnen können. Manche fragten sogar: Wann sei Deutschland von Berlin aus denn je politisch verantwortlich regiert worden? Nationalismus und Militarismus, Großmannssucht, Wilhelminismus und Untertanengeist – die Wiederkehr all dessen in Berlin schien vielen möglich. Doch der Geschichte entflieht man nicht, wenn man ihre Schauplätze meidet.
Verkümmerung des Föderalismus?
Manche meinten, eine Entscheidung für Berlin würde die anderen deutschen Städte und Regionen nachhaltig schwächen und zur Verkümmerung des deutschen Föderalismus führen. Verkümmerung oder nachlassendes Selbstbewusstsein kann ich allerdings bis heute nicht beobachten, wenn ich an meine Treffen mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten oder den Finanzministerkolleginnen und -kollegen der Länder denke. Es gab auch die Sorge, Deutschland verabschiede sich mit Berlin statt Bonn von der bundesstaatlichen Vision für Europa und entscheide sich für ein nationalstaatliches und damit gegen ein immer stärker vereinigtes und geeintes Europa. So argumentierte etwa Peter Glotz in der Debatte im Bundestag am 20. Juni 1991.
Ich denke inzwischen, dass solche Fragen und Haltungen weniger mit der Stadt zu tun haben, in der regiert wird, als mit politischen Entwicklungen und mit Problemen und Herausforderungen, die sich uns stellen, mit den großen Trends wie Globalisierung, Digitalisierung, weltweitem Wettbewerb und mit historischen Kontinuitäten, die von einem Wechsel des Regierungssitzes am Ende doch nicht ausschlaggebend berührt werden. Welches Europa wir wollen, hat mehr mit den Notwendigkeiten gemeinsamer Wettbewerbsfähigkeit und gemeinsamen Eintretens für unsere Werte in der Welt zu tun. Da wird zunehmend unabweisbar, dass Europa nicht als loser Verbund stets neu und mühsam sich zusammenraufender Nationalstaaten in der sich immer stärker globalisierenden, digitalisierenden und damit zunehmend beschleunigenden Welt des 21. Jahrhunderts wird bestehen können, sondern nur integriert, stark und einig.
Und der Vitalität des Föderalismus in Deutschland konnten schon zuvor die historischen Zäsuren nicht wirklich dauerhaft etwas anhaben. So waren 1990, nach vier Jahrzehnten sozialistischer Leugnung und Verdrängung, die Länder auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch immer lebendig in den Köpfen und Herzen der Menschen, und sofort wurde wieder Landespolitik gemacht.
Mehr Verantwortung in Europa und der Welt
Was sich in Deutschland seither verändert hat, politisch, sozial, kulturell, in der Mentalität des Landes, hat sich weniger durch einen neuen Regierungssitz, sondern viel stärker durch eine neu sich zusammenfindende Gesellschaft verändert. Aber, wie gesagt, jene Befürchtungen waren im Vorhinein, 1991, nicht einfach von der Hand zu weisen. Umso dankbarer dürfen wir sein, dass sie sich nicht bewahrheitet haben. Wir haben den zivilen und nachdenklichen politischen Stil der Bonner Jahre in das vereinigte Deutschland und nach Berlin als dem neuen Regierungssitz der Bundesrepublik weitergetragen und uns gleichzeitig weiterentwickelt: zu mehr Verantwortung in Europa und der Welt – als Erfüllung einer Pflicht, die mit der in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewachsenen Bedeutung Deutschlands einhergeht.
Die „Gründungshauptstadt“
Auf Berlin als Stadt hat sich die Entscheidung, die wir damals für sie als Regierungssitz trafen, positiv ausgewirkt. Die Stadt wurde mit dem Regierungsumzug insgesamt noch einmal interessanter, als sie es ohnehin schon war, und es kamen schnell Menschen und Strukturen hierher, die Berlin guttaten. Seit Jahren erlebt die Stadt eine dynamische Entwicklung. Nicht nur ihre Bevölkerung wächst konstant. Auch ihre Wirtschaft legt in den letzten Jahren stärker als der bundesweite Durchschnitt zu. Berlin ist nicht nur Regierungssitz, sondern auch „Gründungshauptstadt“. Die Stadt gilt als einer der spannendsten Standorte für die junge digitale Wirtschaft neben dem Silicon Valley. Und auch ganz ohne Statistik kennt jeder in Berlin das Gefühl und spürt jeder auf den Straßen die Begeisterung aus aller Welt: „Hier muss man sein!“ Für diese Entwicklung war unsere Entscheidung vom 20. Juni 1991 sicher nicht der schwächste Ausgangsimpuls.
Wolfgang Schäuble, geboren 1942 in Freiburg, Mitglied im Präsidium der CDU Deutschlands, war von 1989 bis 1991 und von 2005 bis 2009 Bundesminister des Innern, seit 2009 ist er Bundesminister der Finanzen. Seine Rede vor dem Deutschen Bundestag gilt als entscheidend für den „Hauptstadtbeschluss“ vor 25 Jahren.