Asset-Herausgeber

Über gewonnene und geraubte Freiheiten eines queeren Autors

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Ich wurde 1997 in Kasachstan geboren, einem Land, das Russland sowohl in seinem Wesen als auch in der gesellschaftlichen Ordnung sehr ähnelt. Ich denke, in Russland als queeres Kind aufzuwachsen, unterscheidet sich kaum von meinen Erfahrungen in Kasachstan. Das zeigt wohl auch mein Buch Die Lüge, das in Russland spielt, in dem ich aber meine Kindheit und Jugend in Kasachstan verarbeite. In meiner Kindheit gab es genauso wie bei russischen Kindern die Bücher von Nikolai Nossow[1] und Agnija Barto[2], das Gedicht „Was ist gut und was ist schlecht?“[3], das Abendprogramm des Russischen Kabelfernsehens und einen Trickfilmsender für Kinder.

Als Kind spielte ich mit einem Nachbarjungen namens Sascha. Er hatte irgendwelche psychischen Probleme, deswegen sagten die Erwachsenen, er sei „geistig zurückgeblieben“, ich aber genoss die Zeit mit ihm, weil Sascha als Einziger aufrichtig daran glaubte, dass ich ein Junge war. Andere Kinder ließen sich nicht so leicht hinters Licht führen, aber Sascha stellte keine unnötigen Fragen. Er sprach mich einfach mit dem Namen und dem Pronomen an, die ich ihm sagte. Wir waren fünf oder sechs Jahre alt, und Sascha sollte noch für lange Zeit der einzige Mensch bleiben, von dem ich mich vollständig akzeptiert fühlte. In den darauffolgenden fünfzehn Jahren vermisste ich solche Menschen in meinem Leben sehr.

Heute empfinde ich es als eine große Erleichterung, dass die Kindheit vorüber ist. Als Kind war ich so unglücklich, wie ich es als Erwachsener niemals war. Vollkommen allein, ohne Zugang zu Information und ohne einen einzigen Menschen, der so wäre wie ich. Dafür mit einem „schmutzigen“ Geheimnis, das ich vorhatte, mein Leben lang für mich zu behalten. Ich dachte, ich würde vor Scham sterben, wenn jemand erfährt, dass ich ein Junge sein möchte. Ich stellte mir vor, wie ich nach außen hin ein normales Leben führen und mein Geheimnis vor allen hüten würde, bis ich sterbe.

Manchmal drangen irgendwelche Bruchstücke durch Zufall in mein Informationsvakuum: Ich weiß noch, wie ich im Alter von etwa sieben Jahren einen amerikanischen Dokumentarfilm sah (heute wundert es mich, dass so etwas überhaupt im russischen Fernsehen laufen konnte, mittlerweile ist das russische Fernsehen von queeren Themen vollständig bereinigt). Es ging um ein Transmädchen in meinem Alter oder sogar jünger. Sie fühlte sich so schlecht, dass sie versucht hatte, sich den Penis mit einer Schere abzuschneiden. Ich erinnere mich bis heute an die Bilder aus dieser Dokumentation und an das Gesicht eines Mannes, der dort interviewt wurde, weil ich zum ersten Mal dachte: „Das bin ich. Ich bin genauso. Ich möchte mich als Ganzes abschneiden und wegwerfen.“

Nachdem ich als Teenager gelernt hatte, das Internet zu nutzen, waren meine ersten Suchanfragen bei Google: „Ich will ein Junge sein“, „Ich fühle mich wie ein Junge“, „Kann man ein Junge werden?“ Damals war das Internet noch nicht allzu aufgeklärt, aber immerhin fand ich ein paar Halbwahrheiten, wenn auch in der falschen Terminologie. Danach verstand ich ungefähr, wer ich war, und kam zu dem Schluss: „Nein, so kann ich nicht sein.“ Und versuchte, alles schnell wieder zu vergessen. Denn das Internet hatte mir erklärt, dass ich ein sehr merkwürdiges, seltenes Wesen sei, für das es nur zwei Wege gebe: auf den Operationstisch oder aus dem Fenster.

Beides gefiel mir nicht. Ansonsten fand ich keine Antworten auf meine Fragen, zumal ich nicht wusste, wo ich sie suchen sollte. Da waren keine Filme, keine Bücher, keine Menschen. Mit zwölf Jahren sah ich Brokeback Mountain und verstand überhaupt nichts – das alles hatte nichts mit mir zu tun.

Ich litt unter einem Zustand, von dem ich nie etwas gehört hatte. Ich schämte mich für diesen Zustand. Ich fühlte mich dadurch auch nicht besonders, was Teenagern angeblich gefällt. Vielmehr versuchte ich, in der Masse aufzugehen: Ich ahmte die Hobbys, die Verhaltensweisen und den Kleidungsstil anderer Jugendlicher nach, schaffte es damit aber allenfalls nur zu einer äußerlichen „Normalität“. Bei dem Gedanken daran, dass ich das mein Leben lang tun muss, wollte ich lieber sterben. Mit vierzehn wusste ich genau, von welchen Häusern unserer Stadt man herunterspringen könnte – ich hatte über Mitschüler herausgefunden, bei welchen das Dach nicht abgeschlossen wird. Von einer „sorglosen Jugend“ keine Spur.

Mit achtzehn zog ich nach Russland, in die Großstadt Nowosibirsk. Dort ging es mir besser. Bemerkenswert, dass ich gerade in Russland zum ersten Mal seit der Freundschaft mit dem Nachbarjungen Sascha die Erfahrung machte, akzeptiert zu werden. „Schau, wir haben queere Zentren“, sagte Russland, „hierher kommen Leute, die genauso sind wie du.“ Russland hatte queere Zentren, queere Psychologen, queere Menschen, alles, was ein queeres Herz begehrt. Alles, was ich in Kasachstan nie gesehen hatte. Ich kam endlich an Informationen, und mir wurde klar, wie lächerlich banal meine Sorgen gewesen waren. Sorgen, die ich mit vielen Menschen auf der ganzen Welt teilte. Damals begann ich auch zu schreiben, und zwar Bücher, die ich selbst gern gelesen hätte. Diese Bücher sagten nicht: „Ich zeige dir, wie es geht“, sondern: „Mit dir ist alles okay. Du bist nicht seltsam und nicht schmutzig, du musst deine Bekannten nicht darüber ausfragen, wie du auf ein zum Herunterspringen geeignetes Dach kommst.“

So empfing mich Russland vor acht Jahren. Nein, es war nicht perfekt, die homophoben Gesetze gab es bereits (das erste, das die sogenannte homosexuelle Propaganda gegenüber Minderjährigen verbietet, wurde 2013 verabschiedet). Dennoch schien mir zunächst alles nach Freiheit zu streben. In Russland hatte ich meine ersten Freunde, die mich so akzeptierten, wie ich war. Es gab die ersten sicheren „sozialen Blasen“, in denen ich mich wie in einer perfekten Welt der Akzeptanz und Freiheit fühlen konnte. In Russland wurden Menschen auf meine queere Geschichte aufmerksam, und so wurde ein Buch daraus. In Russland wurde ich für Literaturpreise nominiert. In jenem Russland, von dem ich noch ein kleines Stückchen erlebt habe, ging ich in das staatliche Gorki-Theater und lernte dort Menschen kennen, die ich in meiner Kindheit im Fernsehen gesehen hatte. Sie sprachen mich mit meinem richtigen Namen und dem richtigen Pronomen an, zeigten auf den Aushang für die große Bühne: „Mikita Franko, Autor eines queeren Romans“ – auch das war Russland. Und jetzt ist es zusammengebrochen.

Im Sommer 2023 habe ich das Land verlassen mit dem Gefühl, eine Ruine zu verlassen. Manchmal verblüfft mich die Plötzlichkeit der eingetretenen Veränderungen: Es hat weniger als zwölf Monate gedauert, um 2022 in so etwas wie 1937 zu verwandeln. Aber dann wird mir klar: Nichts daran war plötzlich, eines folgte nach dem anderen, ich habe es nur nicht wahrgenommen. Ich habe das Dima-Jakowlew-Gesetz[4] verpasst. Es war das erste Gesetz, das Menschenrechte verletzte, aber ich war damals ein fünfzehnjähriger Teenie und interessierte mich für Russland nicht mehr als für die Pyrenäen. Ein halbes Jahr später folgte das Gesetz über die „homosexuelle Propaganda“ – aber was ging das mich an? Ich hatte mein eigenes Leben in einem anderen Land. In meinem Land tangierten uns Schülerinnen und Schüler weder die russischen Gesetze noch die Annexion der Krim oder der Rubelkurs. Das interessierte eher unsere Eltern, die auf uns einredeten: „In Russland ist die Ausbildung besser, nach der Schule musst du unbedingt auf eine russische Uni.“ Ich war in meine Pubertätsprobleme versunken und kümmerte mich nicht um Politik. Als ich zum ersten Mal nach Russland kam, war ich sechzehn. Ich war ein paar Tage in Sankt Petersburg und vergaß es danach wieder, es hatte mir nicht gefallen.

Sogar als ich dem Druck meiner Eltern nachgegeben hatte und zum Studieren nach Nowosibirsk gezogen war, lehnte ich lange Zeit sowohl die Stadt als auch das Land ab. Ich fühlte mich als großer Patriot und ließ keine Gelegenheit aus, um anzumerken, dass in Kasachstan alles besser sei. Physisch befand ich mich zwar in Russland, aber geistig blieb ich in Kasachstan und fuhr immer nach Hause, wenn ich es konnte. Zu sagen, „Ich lebe in Russland“, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen.

Erst 2020, als mein Roman Die Lüge erschien, bemerkte ich, dass in meiner Selbstbeschreibung zum ersten Mal das Wort „Russland“ auftauchte. In Russland wurde ich zum Schriftsteller. Von da an begann ich mich für das Land zu interessieren, das mir die Schlüssel zu meiner Zukunft gegeben hatte. Das dachte ich zumindest damals. Ich konnte ja nicht ahnen, dass dieses Land sie mir zwei Jahre später wieder wegnehmen würde.

Im Dezember 2022 wurde in Russland ein weiteres Gesetz zum „Verbot von homosexueller Propaganda“ verabschiedet, das sich nicht mehr auf Minderjährige beschränkt und in dessen Folge alle queeren Bücher verboten wurden, auch meine.

Seit Juli 2023 verbietet ein Gesetz die Geschlechtsangleichung von Transmenschen; damit beraubt es sie der Möglichkeit, das Geschlecht im Pass ändern oder medizinische Eingriffe vornehmen zu lassen. Noch im gleichen Monat habe ich Russland verlassen, bin in mein Heimatland Kasachstan zurückgegangen und habe für mich entschieden, nicht nach Russland zurückzukehren, solange der Krieg nicht vorbei ist, solange dieses Regime nicht gefallen und alle homo- und transphoben Gesetze nicht aufgehoben sind. Aber vor allem, solange Russland nicht seine Schuld vor der Ukraine für dieses irrsinnige Blutvergießen eingesteht und um Vergebung bittet. Ich habe entschieden, dass Russland für mich nicht als Lebensort in Frage kommt, es tut mir zu sehr weh, dem Land beim Verrotten zuzusehen.

Allerdings möchte ich daran glauben, dass nicht das Land, sondern das verbrecherische Regime verrottet und dass jenes Russland, das ich kurz gesehen habe – das sich nach Freiheit sehnte, das zuhörte und akzeptierte, das mutige Bücher verlegte und das in der Sprache des Friedens und nicht des Krieges sprach –, wieder zum Leben erwacht, sobald dieses Regime zusammenbricht.

Mikita Franko, geboren 1997 in Pawlodar (Kasachstan), Schriftsteller.

Übersetzung aus dem Russischen: Maria Rajer, Berlin

 

Zum Weiterlesen

Franko, Mikita: Die Lüge. Aus dem Russischen übersetzt von Maria Rajer, Hoffmann und Campe, Hamburg 2022.

Das Buch wurde 2020 in Russland erstveröffentlicht – mit der Kennzeichnung, dass es an Jugendliche unter achtzehn Jahren nicht verkauft werden durfte. Das im Beitrag erwähnte „Verbot von homosexueller Propaganda gegenüber Minderjährigen“ hatte diese Kennzeichnung bereits mit seiner Verabschiedung im Jahr 2013 gesetzlich vorgeschrieben.

 

[1] Nikolai Nossow war ein sowjetischer Kinderbuchautor und Regisseur. International bekannt wurde er vor allem mit seinen Kinderbüchern über den Knirps Nimmerklug und seine Freunde.
[2] Agnija Barto war eine sowjetische Dichterin, Kinderbuch- und Drehbuchautorin.
[3] Kanonisches Gedicht von Wladimir Majakowski über gesellschaftliche Werte, das Kinder in der Sowjetzeit und nicht selten auch in den Nachfolgestaaten in der Schule gelernt haben.
[4] Nachdem die USA im Dezember 2012 mit dem „Magnitsky Act“ mehrere russische Beamte, die sie für den Tod des Juristen Sergej Magnitski verantwortlich hielten, auf eine Sanktionsliste gesetzt hatten, reagierte Russland noch im gleichen Monat mit der Verabschiedung des DimaJakowlew-Gesetzes. Es sah vor, amerikanischen Eltern die Adoption russischer Waisenkinder zu verbieten. Es wurde nach Dima Jakowlew benannt, einem zweijährigen russischen Adoptivkind, das 2008 aufgrund fahrlässiger Tötung in den USA starb. Das umstrittene Gesetz löste nicht nur in der russischen Bevölkerung Protest aus, da politische Auseinandersetzungen auf Kosten bedürftiger Kinder ausgetragen wurden.