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Die Coronakrise und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft

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Die Coronakrise wirft mit Blick auf die Europäische Union (EU) viele Fragen auf: Ist die Kritik an den Institutionen der EU berechtigt? Welche Möglichkeiten und Kompetenzen hat die EU für die Krisenbekämpfung, und wie hat sie diese Kompetenzen bisher genutzt und kommuniziert? Lassen sich bereits Erkenntnisse gewinnen und Lehren ziehen? Welche Auswirkungen und Herausforderungen hat die Krise für die bald beginnende deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020?

Die Corona-Pandemie stellt die politischen Ebenen vor besondere Herausforderungen, da sie einerseits länder- und kontinentübergreifend ist, sich andererseits jedoch regional starke Unterschiede in Intensität und Verlauf ergeben. Somit sind zum einen politische Maßnahmen gefordert, die dem Prinzip der Subsidiarität folgen; zum anderen bedarf es multilateraler Maßnahmen. Die Pandemie hat dabei viele Spannungsfelder offengelegt. Zunächst herrschten Reaktionsmuster vor, die dem Prinzip der Subsidiarität folgten. Die Absage von Großveranstaltungen, Schulschließungen oder allgemeine Ausgangsund Kontaktsperren wurden nach und nach in unterschiedlicher Art und Weise in fast ganz Europa eingeführt. Diese Maßnahmen stellten und stellen drastische Einschnitte der Freiheiten und Rechte der Bürger dar und liegen zu Recht in der Kompetenz der nationalen oder regionalen Regierungen.

Gleichzeitig führten EU-Mitgliedstaaten an den Binnengrenzen vielfach wieder Grenzkontrollen ein; in einigen Fällen wurden Grenzen vorübergehend geschlossen. Das Schengen-Abkommen wurde damit ausgehebelt. Obwohl es sich um ein europäisches Abkommen handelt, geschah dies seitens der einzelnen Mitgliedstaaten und zunächst ohne Einbeziehung der EU-Institutionen. Zwar erlauben die Abkommen in streng definierten Ausnahmesituationen Grenzkontrollen und -schließungen. Allerdings sollten diese koordiniert und einheitlich geschehen. Die anschließende Kritik an der Europäischen Union war groß; weniger kritisch wurde das Verhalten der nationalen Regierungen betrachtet. Während sich mancher Regierungschef als entschlossener Krisenmanager zu inszenieren vermochte, wirkten die Spitzen der EU-Institutionen wie Randfiguren.

Am 17. März 2020 gelang es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel, eine Einigung der Mitgliedstaaten herbeizuführen, gemeinsam und koordiniert die Schengen-Außengrenzen für dreißig Tage zu schließen. Sie verkündeten diese Einigung gemeinsam in einer Pressekonferenz und konnten auch mit ihrer Krisenkommunikation wieder ein Stück Vertrauen in ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Trotz dieses politischen Erfolgs bleibt die Lage an den Binnengrenzen unübersichtlich; einheitliche Regelungen für die Bürger und die Wirtschaft wären wünschenswert. Mit Blick auf diese Situation hätte man sich zu Beginn der Krise ein klareres Handeln seitens der EU gewünscht; dennoch greift eine einseitige Schuldzuweisung zulasten ihrer Institutionen zu kurz, da diese maßgeblich auf die Zusammenarbeit und Bereitschaft der Mitgliedstaaten angewiesen sind. Da die Coronakrise einmal mehr die Problematik der Schengen-Binnengrenzen in Krisenzeiten offenbart hat, sollte der Modus Operandi zur Gestaltung des Grenzmanagements innerhalb der Schengen-Zone auf den Prüfstand gestellt werden.

 

Beschaffung medizinischer Güter

Ein weiterer Politikbereich, den die Coronakrise in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat, ist die Beschaffung von medizintechnischem Material. Insbesondere kleinere Mitgliedstaaten haben schlechtere Konditionen, da sie keine hohen Stückzahlen einkaufen. Die EU begegnet dieser Schwierigkeit bereits seit Längerem mit der „Vereinbarung über die gemeinsame Beschaffung“. Die EU-Kommission übernimmt laut Vereinbarung eine koordinierende Rolle dabei, benötigte Geräte und Materialien zu beschaffen; Käufer der Waren sind letztlich aber die EU-Mitgliedstaaten.

In der Coronakrise hat die EU bisher vier Ausschreibungen auf den Weg gebracht, um die Beschaffung medizinischer Güter für die Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Das Konzept und die durchgeführten Ausschreibungen sind zweifelsohne richtig und ein Beispiel dafür, dass die Staatengemeinschaft als Zusammenschluss stärker sein kann, als es die einzelnen Nationalstaaten allein sind. Dennoch steht auch die EU in einem starken Wettbewerb, und da das Material zeitnah benötigt wird, kann das positive europäische Handeln kritische Engpässe nicht vermeiden. Dass private Speditionsunternehmen durch ihre Geschäftspartner aus China schneller und effektiver an hochwertige medizinische Schutzkleidung kommen und die Versorgung von europäischen Großstädten davon abhängt, ist angesichts der Ernsthaftigkeit der Krise nicht hinnehmbar. Es bedarf neben einer koordinierenden Rolle der EU bei der Beschaffung künftig auch einer koordinierenden Rolle bei der heimischen Produktion von Medizinprodukten.

 

Deutsche Ratspräsidentschaft muss neu priorisieren

Der Bereich, in dem die Europäische Union jedoch zweifelsohne eine tragende Rolle einnehmen wird, ist die Hilfestellung zur wirtschaftlichen Erholung. Einzelne Maßnahmen dazu hat die EU bereits beschlossen, langfristige Strategien werden aktuell diskutiert. Hierbei wird der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 eine besondere Bedeutung zukommen.

Der Vorsitz im Rat der Europäischen Union wechselt im Halbjahresrhythmus von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Die Präsidentschaft sorgt dafür, dass die systematische Arbeit des Rates vorangetrieben wird; sie hat im Allgemeinen drei Hauptaufgaben: Erstens leitet und moderiert sie die Arbeitsprozesse und Sitzungen des Rates, wozu etwa 200 Arbeitsgruppen und Ausschüsse zählen. Sie nimmt dabei eine konsensorientierte, Streit schlichtende und Brücken bauende Rolle ein – im EU-Jargon die Rolle des „honest broker“. Zweitens vertritt die amtierende Präsidentschaft den Rat gegenüber den anderen EU-Institutionen, hauptsächlich dem Parlament und der Kommission. Drittens vertritt die dem Rat vorsitzende Regierung die Europäische Union – gemeinsam mit dem Hohen Vertreter – auf internationaler Ebene. Dies umfasst die Vertretung gegenüber Drittstaaten, aber auch gegenüber internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder der Welthandelsorganisation.

Ratspräsidentschaften sind zweifelsohne ein zweischneidiges Schwert. Einerseits bieten sie der jeweiligen nationalen Regierung eine seltene Gelegenheit, im EU-Kontext eine Führungsrolle einzunehmen, wichtiges Agenda-Setting zu betreiben und sich dabei öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. Der Zeitraum der Präsidentschaft ist mit sechs Monaten sehr überschaubar, was im Zuge des Lissabon-Prozesses bereits zu einer breiten Debatte über Sinn und Unsinn des Präsidentschaftssystems geführt hatte – insbesondere, weil manche Beobachter hier auch Zielkonflikte mit der Einführung des Amtes des ständigen Präsidenten des Europäischen Rates (heute Belgiens ehemaliger Premierminister Charles Michel) sahen. Man beließ es schließlich dabei, führte aber die sogenannten Trio-Präsidentschaften neu ein. Dies bedeutet, dass immer drei Vorsitz-Perioden zusammen einen übergreifenden Zeitraum bilden, in dem gemeinsam langfristigere Prozesse vorangetrieben werden.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 steht angesichts der Coronavirus-Pandemie vor neuen Herausforderungen, besonders logistischer Natur. Michael Clauß, Deutscher Botschafter und Leiter der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der Europäischen Union, warnte Anfang April angesichts der dramatisch veränderten Lage in einer öffentlich gewordenen Verschlusssache Berlin bereits eindringlich vor den Schwierigkeiten. Thematisch müsse man sich neu ausrichten, das Krisenmanagement rücke in den Vordergrund, viele andere Themen müssten hintanstehen. Besondere Probleme werde außerdem die Logistik bereiten, da mit Blick auf Social-Distancing-Maßnahmen nur eine sehr begrenzte Anzahl von Sitzungssälen zur Verfügung stünden. Geeignete, abhörsichere Videokonferenztechnologie stünde nur in sehr begrenztem Ausmaß zur Verfügung, sodass das Programm der deutschen Ratspräsidentschaft massiv reduziert werden müsse und es gelte, neu zu priorisieren.

 

„Wirtschaftliche Ertüchtigung Europas“

Normalerweise hätte die deutsche Ratspräsidentschaft verschiedene Schwerpunkte gehabt: Einer davon wird der Mehrjährige Finanzrahmen (MFR) auch unter den veränderten Bedingungen bleiben; umso mehr, als mittlerweile unstrittig ist, dass auch Deutschland zur Krisenbewältigung mehr in den Haushalt wird einzahlen müssen und zugleich die Aufgabe hat, den von der Kommission nun genauer zu definierenden Wiederaufbaufonds (Recovery Fund) politisch auszugestalten.

Mit den weiteren Schwerpunkten der Präsidentschaft hatte man sich seitens der Bundesregierung aus vielfältigen Gründen lange zurückgehalten: Einerseits wollte man die aktuelle kroatische Ratspräsidentschaft nicht beeinträchtigen; andererseits deshalb, weil sich die EU-Kommission noch im legislativen Zyklus befand und erst mit der Veröffentlichung des ersten Arbeitsprogramms im Januar klar wurde, welche Projekte die Kommission im Einzelnen verfolgen würde. Neben dem MFR wären der Brexit, die Konferenz zur Zukunft Europas und das Thema „Europäische Souveränität“ Leitthemen geworden. Unter letzterem sind auch die digitale Souveränität und ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis zu China zu verstehen. Im Rahmen der Präsidentschaft war zum Beispiel ein großer EU-China-Gipfel geplant. Der Plan beinhaltete insgesamt, der Ratspräsidentschaft ein Branding der Nachhaltigkeit zu geben.

Zumindest bei Letzterem wird es vermutlich bleiben. Im Übrigen wird die Präsidentschaft zwangsläufig anders als ursprünglich geplant gestaltet. Dies hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits bestätigt: „Die deutsche Ratspräsidentschaft wird anders ablaufen, als wir uns das vorgenommen hatten. Und sie wird von der Frage der Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen ganz klar geprägt sein. Das heißt, wir müssen sehen, dass wir für die wirtschaftliche Ertüchtigung Europas etwas tun, dass wir für den sozialen Zusammenhalt etwas tun, dass wir an die Zukunft denken – und das sind die Klima- und Umweltfragen“ (Podcast Die Kanzlerin direkt, 25. April 2020).

Ende April 2020 verständigte sich das Bundeskabinett auf vier vorläufige Prioritäten für die Präsidentschaft. Priorität haben demnach das kurzfristige Krisenmanagement sowie der wirtschaftliche Wiederaufbau. Hierunter wird nach wie vor der Mehrjährige Finanzrahmen gefasst sein, der für die Jahre 2021 bis 2027 gelten wird. Seine Gestaltung wird sich als schwierig erweisen, da man sich auf der einen Seite einigen muss, wie viel die einzelnen Mitgliedstaaten einzahlen. Es ist ebenfalls zu bedenken, dass die Finanzierungslücke, die das Vereinigte Königreich hinterlässt, geschlossen werden muss und einigen wirtschaftlich starken Mitgliedern sogenannte Rabatte gewährt werden. Auf der anderen Seite muss man sich neu einigen, wie die Haushaltsgelder ausgegeben werden sollen. Bei den bisherigen EU-Haushalten flossen jeweils etwa vierzig Prozent der Ausgaben in Agrarsubventionen und Kohäsionsfonds. Diese Verteilung steht nun auf dem Prüfstand.

 

Krise als Chance

Der zweite Schwerpunkt wird auf den nicht verschiebbaren Dossiers liegen, wie etwa auf den auslaufenden Fischereiquoten, aber auch auf den künftigen Beziehungen zum Vereinigten Königreich. Unter Priorität drei werden Themen zusammengefasst, die ursprünglich auf der Präsidentschaftsagenda gestanden hätten: unter anderem die Themen Green Deal und Digitalisierung. An vierter Stelle stehen sonstige Themen, die derzeit diskutiert werden, aber noch nicht abschließend feststehen. Auf manche wird man gegebenenfalls verzichten. Normalerweise richtet jede Ratspräsidentschaft verschiedene informelle, themenspezifische Ratstreffen aus, bei denen sich die Fachminister als Gastgeber präsentieren können. Bei der deutschen Präsidentschaft war eine Reihe solcher Treffen von den Ministerien dezentral in Deutschland geplant. Zum jetzigen Zeitpunkt ist unwahrscheinlich, dass diese Treffen stattfinden können. Je nach Verlauf der Pandemie wird die Bundesregierung beim Ablauf der Präsidentschaft Flexibilität und Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen müssen.

Die Coronavirus-Pandemie hat der Europäischen Union einmal mehr vor Augen geführt, dass sie Schwierigkeiten hat, ad hoc in den Krisenmodus umzuschalten. Hieran gilt es zu arbeiten, und der deutschen Ratspräsidentschaft kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Noch wichtiger wird die Rolle Deutschlands aber mit Blick auf die Bewältigung der wirtschaftlichen Krisenfolgen. Selbst wenn die Coronabekämpfung die Ratspräsidentschaft in Planung, Inhalt und Ablauf unerwartet auf den Kopf gestellt hat, sollte in der derzeitigen Situation eine Chance gesehen werden – sowohl für die Europäische Union als auch für Deutschland.

 

Hardy Ostry, geboren 1970 in Ziegenhain (Schwalmstadt), Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Leiter des Europabüros Brüssel der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Ludger Bruckwilder, geboren 1988 in Wesel, Referent im Europabüro Brüssel der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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