Wie wichtig ein erfolgreicher Schulabschluss ist, wissen mittlerweile alle Eltern. Eltern aus der Mittelschicht ziehen daraus Konsequenzen und organisieren Hausaufgabenhilfe, Nachhilfe oder andere Unterstützungsmaßnahmen. Eltern aus den unteren sozialen Schichten fehlen hingegen dazu oftmals die Ressourcen. Der zunehmende Wunsch der Eltern, ihre Kinder zu fördern, hängt zusammen mit der veränderten Stellung und Bedeutung der Kinder in den Familien, mit der geringen Kinderzahl in den Familien sowie mit der zunehmenden Bedeutung von Bildung.
Hinter dem Fördergedanken steht die Vorstellung, dass die Potenziale der Kinder durch (spielerische) Förderangebote besser zur Entfaltung kommen, wobei diese Potenzialentfaltung zum allgemeinen Leitwert wird. Die richtige Frühförderung, die Suche nach der optimalen Schule und die Nutzung der Zeitfenster für die Sprachentwicklung schlagen sich in dieser allgemeinen Tendenz nieder. Das fleißige, angepasste Kind ist aus der Mode gekommen. Das kreative, nicht angepasste, begabte Kind ist dagegen angesagt. Kreativität, flexibles Denken, Aufgeschlossenheit für Neues sind nicht nur die von der Wirtschaft erwarteten Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts. Sie sind auch Merkmale eines hohen Intelligenzquotienten (IQ). Dabei ist ein hoher IQ außerhalb der Norm. Das begabte Kind ist somit Ausdruck einer Sehnsucht vieler Eltern nach dem besonderen Kind.
Unterstützt wird diese Sehnsucht durch die Erkenntnis populärer Hirnforscher, die erklären, dass jedes Kind hochbegabt sei und dass eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) keine Störung darstelle. Dabei wird der Begabungsbegriff sehr weit interpretiert. „Manche haben eine analytische Begabung, andere für Sensibilität oder die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, für Kirschkernspucken oder Bäumeklettern“, sagt etwa der Neurologe Gerald Hüther. „Lernprozesse sind am effektivsten, wenn man sie entlang der Begabung aufbaut.“
Nur zwei Prozent der Deutschen sind hochbegabt
Als intellektuell hochbegabt gelten Menschen mit einem IQ von mindestens 130. Statistisch betrifft das zwei Prozent der Deutschen. Den Wunsch vieler Eltern, ein kognitiv besonders begabtes Kind zu haben und es intensiv zu fördern, sehen Fachleute mit großer Sorge. Das betrifft auch die Angebote und Maßnahmen einer ganzen Förderindustrie, die Eltern zunehmend verunsichern.
Pädagogen schätzen das Streben vieler Eltern vor allem aus der Mittelschicht nach dem hochbegabten Nachwuchs ebenfalls als problematisch ein. Durch überhöhte Erwartungen können Kinder unter Leistungsdruck geraten und schlimmstenfalls sogar depressiv werden. Nach Schätzungen des Berufsverbands für Kinder- und Jugendärzte leidet mittlerweile jedes fünfte Kind unter einer ausgeprägten Form von Schulangst. Die zunehmenden Schul- und Versagensängste haben jedoch noch tiefer liegende Ursachen. Die zunehmende Bedeutung eines erfolgreichen Schulabschlusses und ein verstärkter Leistungsdruck, der mittlerweile viele Familien erreicht, führen dazu, dass Eltern sich mitverantwortlich fühlen für den Schulerfolg ihrer Kinder. Die Folge ist die Entpflichtung der Kinder von Alltagsaufgaben in der Familie und die Konzentration auf das Lernen, etwa für ein erfolgreiches Abitur.
Dass Eltern sich mit den Aufgaben ihrer Kinder „überidentifizieren“, dass sie ihre Kinder über Gebühr belohnen, wenn sie ihre Aufgaben erfolgreich bewältigt haben, und dass sie sie deshalb ständig „überkontrollieren“, zeichnet sogenannte „Helikoptereltern“ aus. Aber – sie erschweren damit eine eigenständige Entwicklung ihrer Kinder. „Helikoptereltern“ kreisen ständig über ihren Kindern, um sie im Notfall retten zu können, sie sind in Kindergärten und Schulen längst keine Randerscheinung mehr. Selbst wenn sie weiterhin eine Minderheit bilden, setzen sie durch ihre Erwartungshaltung und ihr Anspruchsdenken doch neue Maßstäbe unter den Eltern.
Verständnis von Kind und Kindheit heute
Die Sehnsucht nach dem besonderen Kind ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass es in den Familien weniger Kinder gibt, sie ist auch Ausdruck eines veränderten Verständnisses von Kindsein und Kindheit überhaupt.
Kinder haben heute ein Recht auf ihre Kindheit und auf eine autonome Entwicklung. Kinder werden als Subjekte anerkannt. Sie genießen Rechte; Pflichten werden ihnen immer weniger zugemutet. Die Beziehungen zu ihnen werden vor allem partnerschaftlich gestaltet. Die mit der Erziehung zur Selbstständigkeit des Kindes einhergehende Lockerung von Disziplinierungszumutungen hat jedoch neben dem befreienden auch möglicherweise einen labilisierenden Effekt. Wie die Familiensoziologin Yvonne Schütze vermutet, bewirkt das vermehrte Engagement der Eltern für die Selbstständigkeit der Kinder tendenziell das Gegenteil: Kinder können sich demnach kaum noch allein beschäftigen, da sie seit Säuglingszeiten daran gewöhnt sind, dass ständig jemand zur Verfügung steht, der sich ihnen widmet.
Was Kindern und Jugendlichen heute zunehmend fehlt, ist die Freiheit von Ansprüchen. Autonomie stellt für Kinder heute eine große Aufgabe dar, weil Eltern in nahezu allen Lebensbereichen ihrer Kinder dabei sein wollen. Auch deshalb ziehen sich Kinder und Jugendliche in die sozialen Netzwerke zurück. Dort wähnen sie sich endlich ungestört.
Hinzu kommt ein zweites Paradox: Das Kind nimmt eine zentrale Stellung in der Familie ein, es vermittelt Eltern Lebenssinn und Freude. Nicht selten wächst den Kindern eine unangemessene, der Selbstständigkeitsentwicklung eher zuwiderlaufende Verantwortung für ihre Eltern zu. Von Kindern wird heute nicht nur erwartet, dass sie glücklich sind, sondern auch, dass sie ihre Eltern glücklich machen. Zum Glück der Eltern gehört heute auch eine erfolgreiche Schullaufbahn und ein nicht angepasstes, besonderes mit Begabung versehenes Kind.
Begabung und Herkunft
Soziale Herkunft prägt den Bildungsverlauf der Kinder. Das war ein zentrales Ergebnis der PISA-Studien der vergangenen Jahre. Bisher wird in der bildungspolitischen Diskussion vor allem die Schule dafür verantwortlich gemacht. Mit dem Ausbau des Förderunterrichts und der Ganztagsschulen sowie der Fokussierung auf ein längeres gemeinsames Lernen erhoffen sich viele Schulpolitiker eine größere Chancengerechtigkeit und damit eine größere Chance für Kinder aus sozial schwachen Familien, ihr Potenzial zu entfalten.
Dabei findet der familiäre Aspekt wenig Beachtung. Die Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung Eltern – Lehrer – Schulerfolg (2013) zeigt sehr deutlich die Unterschiede zwischen Kindern, die von ihren Eltern gefördert (und zum Teil überfordert) werden, und Kindern, die weitgehend sich selbst überlassen sind. Ob Kinder von Anfang an die Anerkennung ihrer Eltern finden und Zuwendung erfahren oder ob ihnen diese verweigert wird und Kinder sich selbst überlassen sind, ist für ihre kognitive Entwicklung von wesentlicher Bedeutung. Je unsensibler Mütter mit ihren Kindern umgehen, je weniger Aufmerksamkeit sie ihrem Säugling schenken, desto weniger entwickelt sich später der IQ des Kindes, desto schwieriger ist es für diese Kinder, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Das ist entscheidend für das spätere Lernverhalten in der Schule.
Bereits mit drei Jahren verfügen Kinder aus bessergestellten Familien im Schnitt über einen doppelt so hohen Wortschatz wie ihre Altersgenossen aus einfachen Familien. Auch können sie komplexere Satzgefüge verstehen und haben ein ausgeprägteres Verständnis für Zahlen, Größen und Formen.
Diese Kompetenzunterschiede, die in dem Forschungsprojekt BiKS (Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter) festgestellt wurden, können nach Meinung der Forscher auch durch den Besuch einer Kita nicht überwunden werden. Das kulturelle Kapital der Familie ist eine grundlegende Basis, die die Entwicklung und die kognitiven Fähigkeiten des Kindes wesentlich prägt. Die Schule ist nur bedingt in der Lage, die frühen unterlassenen Lernprozesse der ersten Jahre in der Familie mithilfe eines formellen Lernprogramms auszugleichen. Angesichts der großen Bedeutung des familiären Umfeldes für die Entfaltung der kindlichen Potenziale ist das hohe Engagement der Mittelschichteltern nicht überraschend.
Ist das begabte Kind „machbar“?“
Der Wunsch der Eltern, ihrem Kind die bestmögliche Entwicklung seiner Fähigkeiten zu ermöglichen, wird darüber hinaus sowohl durch die Multioptionsgesellschaft als auch durch die Wissenschaft forciert. Mit ihrem Versprechen „Alles ist möglich!“ bietet die Multioptionsgesellschaft nicht nur eine unüberschaubare Palette von Fördermöglichkeiten, sondern suggeriert den Eltern gleichzeitig die Idee der Machbarkeit. Anders als vor dreißig Jahren lösen schlechte Schulnoten heute bei Eltern die Inanspruchnahme einer Reihe von Förderinstrumenten aus. Schlechte Noten oder ein schlechter Schulabschluss werden nicht länger als schicksalhaft hingenommen. Die Verantwortung für den Lern- und Schulerfolg des Kindes sehen Mittelschichteltern auch bei sich selbst. Eine ganze Palette von Förderangeboten verspricht, die Potenziale der Kinder im kreativen, motorischen, kognitiven Bereich besser zur Entfaltung zu bringen – nicht zuletzt, um im Wettbewerb besser zu bestehen. Genauso bestärkt die Wissenschaft Eltern darin, ihre Kinder so früh wie möglich zu fördern, damit diese ihre Potenziale entwickeln können:
„Das Erlernen von Zweitsprachen [sollte] so früh wie möglich beginnen, um das Erreichen einer weit entwickelten Kompetenz zu ermöglichen.“ „Verfahren zur Feststellung des Sprachstands müssen früh, eventuell bei den bereits erfolgenden nachgeburtlichen Untersuchungen beim Kinderarzt beginnen.“
Wie stark der Erwartungsdruck gegenüber den Eltern ist, zeigen die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit nach Ansicht von Neurobiologen das Kind seine Begabung entfalten kann: „In der Kindheit müssen zwingend bestimmte Umwelterfahrungen gemacht werden. Nur dann können sich wichtige Strukturen des Nervensystems und die daran gekoppelten Verhaltensweisen in voller Ausprägung entwickeln. Werden diese kritischen Phasen nicht mit den erforderlichen Umwelteinflüssen ,bedient‘, so bleibt die neuronale Entwicklung unvollständig und bestimmte Verhaltensweisen können gar nicht oder nur eingeschränkt erworben werden. Diese Defizite sind irreversibel. Sie können später kaum ausgeglichen werden“ (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Acatec u. a.: Frühkindliche Sozialisation, Juli 2014). Insofern kommen Eltern in die Verantwortungsrolle, die Bedingungen für die Potenzialentfaltung ihrer Kinder gewährleisten zu müssen. Wer möchte sich sagen lassen, Begabungen des Kindes nicht (rechtzeitig) erkannt zu haben?
Das Bild vom hochbegabten Kind
Das medial vermittelte Bild vom hochbegabten Kind erscheint indes wenig attraktiv. Es stellt vorwiegend männliche Kinder und Jugendliche mit schlecht sitzender Frisur und Brille dar, sogenannte „Nerds“ und gesellschaftlicher Außenseiter. Ein Mädchen erscheint im Bild des hochbegabten Kindes hingegen kaum. Das ist insofern interessant, als Mädchen bessere Schulabschlüsse als Jungen haben. Doch auch in der speziellen Begabtenförderung sind Mädchen unterrepräsentiert. Während Jungen im Spitzensegment als begabt gelten, erreichen Mädchen nach allgemeiner Vorstellung ihre Leistungen durch Fleiß. Anerkennung für Begabungen und Talente beinhaltet keine Anerkennung für Fleiß. Begabte Kinder mit Migrationshintergrund sind im medialen Bild auch nicht sichtbar. Talente der Kinder mit Migrationshintergrund werden eher im Sport oder in der Musik akzeptiert. Castingshows wie „Deutschland sucht den Superstar“ sind öffentliche Formate der Talentsuche.
Das Bild vom hochbegabten Kind ist wenig positiv. Hochbegabte stechen heraus aus dem „normalen“ Umfeld. Weltabgewandtheit, Zerstreutheit und Praxisuntauglichkeit wird ihnen unterstellt. Nur der Tüftler, der originelle Bastler, ist in Deutschland akzeptiert.
Jenseits des aggressiven Förderwahns
Heute fördern fünfzehn Prozent aller Mütter und Väter in Deutschland ihre Kinder überhöht als „Helikoptereltern“. Im Umkehrschluss fühlten sich 85 Prozent aller deutschen Eltern ihrer Erziehungsaufgabe gewachsen – so der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers. Fast neunzig Prozent aller Kinder und Jugendlichen fühlen sich in ihren Familien wohl. Sie sind heute besser ausgebildet als jede andere Generation vor ihnen. Sie können auf die Unterstützungssysteme zurückgreifen, die es vor zwanzig Jahren noch nicht gegeben hat. Ein normal anregendes Elternhaus reicht nach Meinung von Pädagoginnen und Pädagogen für die Potenzialentfaltung des Kindes völlig aus. Spielerischer Umgang im Lernen von Neuem ist vielfach für das Kind hilfreicher als spezielle Kurse zur Erlangung spezieller Fähigkeiten.
Was sollen Eltern zur Entfaltung ihres Kindes tun? Eine einfache Antwort liefert der US--Neurowissenschaftler Steve Petersen, der die unumstrittenen Ergebnisse der pädagogisch relevanten Neuroforschung zusammenfasst: „Sperren Sie Ihr Kind nicht in den Schrank, lassen Sie es nicht verhungern und schlagen Sie ihm nicht mit der Bratpfanne auf den Kopf!“
Christine Henry-Huthmacher, geboren 1955 in Saarbrücken, ist Sozialpsychologin, Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sie ist Mitglied der Familienkommission der CDU und der Bundesfachausschüsse Frauen und Familie.