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Demokratien brauchen Autorität, die Frage ist nur, wie viel

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Wenn die Welt kompliziert ist, wächst die Sehnsucht danach, dass alles rundläuft und glattgeht. Den Wunsch, dass man „glücklich ist, nicht nur sich nervös plagt“, äußerte vor hundert Jahren der Schriftsteller Robert Musil – und wer würde ihm nicht beistimmen? In schweren Zeiten steigen allerdings auch die Erfolgschancen von Politikern, die einfache Antworten geben, scharfe Ansagen machen und – wie Donald Trump kurz vor seinem Amtsantritt im Jahr 2017 – erklären: „I am the only one who can fix it.“

Für den demokratischen Diskurs sind solche Politiker Gift. Von ihnen heißt es, sie verträten autoritäre Tendenzen, und es wird vor ihnen gewarnt. Vor der Bezeichnung „autoritär“ in diesem Zusammenhang möchte ich nun allerdings meinerseits warnen. Das hat wohlgemerkt nichts damit zu tun, dass ich klammheimliche Sympathien für autoritäre Regime hätte. Was mich vielmehr umtreibt, ist die Sorge, dass wir uns einen Bärendienst erweisen, wenn wir Demagogen und Autokraten als „autoritär“ bezeichnen. Denn damit fällt unweigerlich auch ein Schatten auf das Wort „Autorität“. Es wirkt verdächtig und droht auf die Seite der Demokratiegegner zu rutschen. Das aber hat die Autorität nicht verdient. Sie ist – wie sich zeigen wird – besser als ihr Ruf. Eine Demokratie, die diesen Namen verdient, muss sich auf Autorität in der einen oder anderen Form einlassen.

 

Unverhohlenes Begriffswirrwarr

 

Manche Internetlexika, die sich dem Auftrag der Jugend- und Volksbildung verpflichtet sehen, wollen davon nichts wissen. Auf der vom österreichischen Bildungsministerium geförderten Plattform www.politik-lexikon.at ist zu lesen: „Es gibt Menschen, die nur ihre eigene Meinung zulassen. Das nennt man autoritär. Auch Regierungen können so sein. […] Zum Beispiel regiert eine Diktatur autoritär.“ In dem Nachschlagewerk Das junge Politik-Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung klingt das ähnlich: „Wenn ein Mensch sich allen anderen überlegen fühlt, wenn er weder Kritik noch Widerspruch zulässt, bezeichnet man ihn als ‚autoritär‘. […] Übertragen auf einen Staat würde das bedeuten: Eine Herrschaft, eine Regierung, die autoritär handelt, hindert Parteien oder Gruppen daran, demokratisch im Staat mitzuwirken. […] Dies ist zum Beispiel in einer Diktatur […] der Fall […].“

Den Verfassern des zweiten Lexikons kam bei der Formulierung dieses Textes immerhin eine Einsicht in die Quere, die sie nicht verschweigen wollten. So haben sie eine Anmerkung ergänzt: „Das Wort ‚autoritär‘ wird meistens in negativem, ablehnendem Sinne gebraucht. Eine ‚Autorität‘ dagegen ist jemand, der wegen seiner Stellung, seiner Kenntnisse und Leistungen ein besonderes Ansehen genießt.“ Diese Aussage ist allerdings ein Armutszeugnis. Selten ist ein Begriffswirrwarr derart unverhohlen zur Schau gestellt worden. Mit wild wechselnden Bewertungen steht das böse Adjektiv „autoritär“ Seite an Seite neben dem guten Substantiv „Autorität“. Das wäre in verwandten Fällen – etwa bei „pubertär“ und „Pubertät“ – undenkbar. Dass gerade bei der Frage der Autorität eine derartige sprachliche Verwirrung auftritt, lässt den Schluss zu, dass wir mit diesem Ausdruck nicht im Reinen sind. Er löst Unbehagen oder Verunsicherung aus, die – wie man vermuten darf – vor allem politischer Natur ist. Die Demokratie hat ihre liebe Mühe mit der Autorität. Sie weiß nicht recht, was von ihr zu halten ist.

Pädagogik und Philosophie haben zu dieser Verunsicherung teilweise beigetragen. In ihrem pünktlich zum Jahrhundertbeginn 1900 erschienenen Buch Das Jahrhundert des Kindes behauptete die schwedische Reformpädagogin und Schriftstellerin Ellen Key, „das Wort Kind“ sei „nur ein anderer Ausdruck für den Begriff Majestät“, und überließ es ihren Nachfolgern, ob die Autorität geradewegs von den Eltern auf das Kind verschoben oder gleich die antiautoritäre Erziehung eingeführt werden sollte. Die philosophische Diskussion wurde vor allem von der Frankfurter Schule geprägt, die mit Thesen zu Autorität und Familie (Max Horkheimer, 1936) sowie Studien zum autoritären Charakter (Theodor W. Adorno, 1950) hervortrat und den Zusammenhang zwischen Autorität und Faschismus erforschte. Oft wird allerdings übersehen, dass die Vertreter dieser Schule den Begriff Autorität keineswegs rundweg verwarfen, sondern ihn in einem „positiven“ Sinn bewahren und verteidigen wollten.

 

Besondere Form von Machtausübung

 

Es ist an der Zeit, die Verwirrung um die „Autorität“ zu beseitigen. Zu diesem Vorhaben gehört auch – sogenannte „autoritäre“ Regime hin oder her –, ausgehend von der Demokratie einen positiven Zugang zur Autorität zu finden. Bei diesem Unterfangen hilft eine Arbeitsdefinition, die Hannah Arendt im Jahre 1956 in ihrem Essay Was ist Autorität? entwickelt hat. Sie erklärt, „die autoritäre Beziehung“ sei gekennzeichnet durch eine „Hierarchie […], deren Legitimität beide [beteiligten] Parteien anerkennen und die jedem von ihnen seinen von ihr vorbestimmten […] Platz anweist“. Zur Autorität gehört demnach eine besondere Form von Machtausübung, die an der Kooperation der Beteiligten hängt. Arendt unterscheidet deshalb auch zwischen Autorität und Gewalt. Wenn jemand sich nur mit Gewalt durchsetzen kann, wird er zwar vielleicht sein Ziel erreichen, aber seine Autorität einbüßen. Zu letzterer gehört eine Wirkung auf Menschen, die ohne physischen Zwang auskommt. Das heißt keineswegs, dass Autorität über jeden Zweifel erhaben wäre, aber sie nähert sich nach diesem Verständnis jedenfalls der Demokratie an, in der die Gewalt ja ebenfalls eingehegt ist.

Wenn jemand, der Autorität beansprucht, auf die Anerkennung anderer Menschen angewiesen ist, dann bleibt die Frage, warum sie dazu überhaupt bereit sein sollen. Eigentlich wären sie doch schön blöd, wenn sie sich darauf einließen, oder? Schließlich sind die Menschen heutzutage an Gleichheit und Augenhöhe gewöhnt. Man kann aber nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass auch und gerade in der Demokratie eine Vielzahl sozialer Beziehungen auf Autorität basieren. Genau genommen kommen insgesamt vier Typen von Autorität zum Einsatz. Sie haben, wie fast alles im Leben, Stärken und Schwächen, Licht- und Schattenseiten. Konkret heißt dies, dass die verschiedenen Typen jeweils in mehr oder weniger demokratiefreundlichen Varianten auftreten. So darf man beim Umgang mit der Autorität wählerisch sein und prüfen, ob und wann sie sich von ihrer besten Seite zeigt.

 

Stärken und Schwächen verschiedener Autoritätsvarianten

 

Institutionelle Autorität. Dauernd haben wir mit Menschen zu tun, die als Vertreter einer Institution auftreten. Man denke etwa an Zugbegleiterinnen oder Zollbeamte. Sie sind befugt, uns zu kontrollieren, und normalerweise lassen wir das bereitwillig über uns ergehen. Autorität bedeutet in ihrem Fall, dass sie offiziell autorisiert sind, ein Amt auszufüllen oder eine Aufgabe wahrzunehmen. Wir alle sind darauf angewiesen, dass sie die Ordnung sichern. So weit, so gut, so demokratisch. Man sollte jedoch nicht verschweigen, dass diese Art von Autorität auch ins Negative umschlagen kann. Dies ist der Fall, wenn diejenigen, die ein Amt ausfüllen, sich in ihrer Macht sonnen. Statt der Demokratie zu dienen, wird die institutionelle Autorität dann Teil einer verwalteten Welt. Jeder Bittsteller, der an irgendeiner Dienststelle (was für ein Wort!) von oben herab behandelt worden ist, kann ein Lied davon singen oder – wie Franz Kafka – einen Roman darüber schreiben.

Fachliche Autorität. Nicht immer wirken Vertreter institutioneller Autorität besonders kompetent in dem, was sie tun. Die Autorität wird ihnen übertragen, kommt also nicht aus ihnen selbst. Das ist bei der fachlichen Autorität oder bei der Autorität als Fähigkeit anders. Am besten lässt sich dies am Beispiel des Handwerks erfassen. Ein Wasserhahn tropft, eine Schraube greift nicht, und während die meisten stümperhaft selbst herumprobieren, machen die Könner zwei, drei Handgriffe, und alles ist gut. Die Autorität, die sie auf ihrem Gebiet verkörpern, basiert auf Erfahrung, Übung, erlernter, erarbeiteter Kompetenz. Die Meister der Kompetenz sind ins Gelingen verliebt, und das tut der Gesellschaft gut. Ihre Stärke zeigt sich am Ergebnis.

Wie bei der institutionellen, so sind allerdings auch bei der fachlichen Autorität Schwächen oder Schattenseiten zu erkennen. Als Déformation professionelle können bei den Meistern der Kompetenz Beratungsresistenz und Schlaubergerei auftreten. Für die Demokratie ist vor allem dann ein kritischer Punkt erreicht, wenn gewisse Vertreter fachlicher Autorität dazu neigen oder dazu angestiftet werden, ihre Rolle zu übertreiben. Das betrifft nicht die gerade erwähnten Handwerker, wohl aber selbst ernannte oder offiziell anerkannte Experten. In sie setzen verunsicherte Bürger gern komplett überzogene Erwartungen. Experten sollen fertige Lösungen für gesellschaftliche Probleme liefern, die doch nur im gemeinsamen Beratschlagen und Entscheiden zu bewältigen sind. Wenn fachliche Autorität an die Stelle politischer Willensbildung tritt, wenn die Entscheidungsmacht an Experten übergeht, wird die Demokratie ausgehöhlt.

Traditionale Autorität. Fragt man amerikanische Kinder nach ihren Helden, dann nennen sie oftmals ihre Großväter oder -mütter. Das liegt nicht nur daran, dass sie bei ihnen Süßigkeiten abstauben können, sondern an deren Vorsprung an Lebenserfahrung. Die Alten können Geschichten erzählen von der Welt, in die die Kinder erst hineinschnuppern. Wenn alles gut geht, können Großeltern – und natürlich auch Eltern – als Lebenshelfer fungieren. Dann genau verfügen sie über traditionale Autorität. Auch in der Politik, auch in der Demokratie ist dieser Typ von Autorität anzutreffen. Er reicht weit zurück in die Vergangenheit: Man denke nur an die Founding Fathers der USA, an Wilhelm Tell als mythische Gründungsfigur der Schweiz oder auch an symbolisch aufgeladene Orte wie die Paulskirche in Frankfurt oder den Place des Invalides in Paris. An all diesen Figuren, Geschichten und Orten bestätigt sich eine Einsicht, die Alexis de Tocqueville vor fast 200 Jahren formuliert hat: „Wenn die Vergangenheit die Zukunft nicht mehr erhellt, tappt der Geist im Dunkeln.“ Auch auf die politische Sphäre lässt sich der alte Werbespruch einer großen Elektrofirma übertragen: „Aus Erfahrung gut.“ Die traditionale Autorität kann in der demokratischen Welt für Orientierung sorgen, jedoch hat auch sie – genau wie die anderen Typen von Autorität – eine dunkle Seite. Wenn die Tradition zu viel Gewicht erhält, wenn das, was heute geschieht, zur blinden Fortsetzung alter Handlungsmuster wird, ist die Demokratie nicht mehr – wie Thomas Jefferson gefordert hat – eine Gemeinschaft der Lebenden, sondern sie verwandelt sich in eine Gemeinschaft der Toten. Beim Umgang mit traditionaler Autorität darf man wählerisch bleiben, denn schließlich ist auch die alte Generation alles andere als fehlerlos.

 

Herolde einer ganzen Welt

 

Institutionen, fachliche Fähigkeiten, Traditionen – bei all den genannten Varianten von Autorität fällt auf, dass sie versachlicht, also von Personen abgerückt wird. Manchmal liegt es im Interesse der Individuen, sich hinter der Autorität, die sie repräsentieren, zu verstecken (Bürokraten und Priester tun das gern). Aber Versachlichung und Anonymisierung haben ihre Grenzen. In schwierigen Zeiten ist nicht nur die Beachtung von Sachzwängen gefragt, sondern auch der Mut, unter unsicheren Bedingungen zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Diesen Mut demonstrieren einzelne Figuren, starke Charaktere, die über personale Autorität oder „Charisma“ (Max Weber) und damit über den vierten Typ von Autorität verfügen. Sie sind nicht nur Meister ihres Fachs, sondern Herolde einer ganzen Welt. Zugegeben: Diese Autorität ist schwer zu fassen, sie lässt sich jedoch aus der Weltgeschichte nicht herauskomplimentieren – und ist auch aus der Demokratie nicht wegzudenken. Die Strahlkraft solcher Personen geht Hand in Hand mit gesellschaftlicher Dynamik. Zu erinnern ist hier an die provokative Auskunft des großen demokratischen Juristen Hans Kelsen, der in den 1920er-Jahren – als der Führer-Begriff noch nicht kompromittiert war – die These aufstellte, dass sich die Demokratie „nicht durch den Mangel, sondern eher durch die Fülle der Führer von der realen Autokratie unterscheidet“.

Es liegt auf der Hand, dass Stärken und Schwächen, Licht- und Schattenseiten bei der personalen Autorität besonders nahe beieinanderliegen. Charismatische Figuren können ebenso im guten wie im schlechten Sinne mobilisieren. Populisten haben in den letzten Jahren alles darangesetzt, Demokratie durch Demagogie zu ersetzen. Sie verkünden vermeintlich hohe Ziele, sprechen jedoch niedrige Instinkte an. Wenn sich die Faszination für charismatische Figuren zu blinder Gefolgschaft steigert, wird die personale Autorität zur Gefahr für die Demokratie.

Was ist nun die Moral von der Geschicht’? Demokratien dürfen sich im Kampf gegen autokratische und diktatorische Regime nicht vor Autorität drücken. Sie brauchen sie auf Schritt und Tritt, in der richtigen Dosis und auf die richtige Art, um selbstbewusst, schlagkräftig und geschlossen auftreten zu können. Zum Schluss sei Hannah Arendt nochmals das Wort erteilt: „Autorität und Freiheit sind keineswegs Gegensätze, und einem Autoritätsverlust entspricht kein automatischer Freiheitsgewinn.“

 

Dieter Thomä, geboren 1959 in Heidelberg, ehemaliger Fellow und Gastprofessor unter anderem am Getty Research Institute, Los Angeles, am Wissenschaftskolleg zu Berlin, am Institute for Advanced Study, Princeton, und an der Yale University, Professor für Philosophie, Universität St. Gallen.

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