Asset-Herausgeber

Die russisch-türkischen Beziehungen in der Krise

Asset-Herausgeber

Aus Moskau und Ankara waren zahlreiche Erklärungen über ihre strategische Partnerschaft zu hören, und dennoch war ihre Beziehung bis vor Kurzem lediglich eine Partnerschaft à la carte. Die nationalen Interessen der Länder waren in vielen Bereichen identisch. Ihren Beziehungen fehlte es stets an einer strategischen Dimension – anders, als sie für die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA ungeachtet aller Gegensätze durchaus gegeben ist. Der Zwischenfall, bei dem im November letzten Jahres ein russisches Militärflugzeug von türkischen Luftstreitkräften über der türkischen Grenze abgeschossen wurde, demonstrierte allzu deutlich, wie zerbrechlich das Fundament der angeblichen russisch-türkischen Partnerschaft gewesen ist. Sie baute auf die persönliche Freundschaft der beiden „starken Männer“ an den Spitzen ihrer Staaten sowie die Spezifik des außenpolitischen Denkens.

Auf den verschiedenen Ebenen des multipolaren politischen Systems können dieselben Staaten von Zeit zu Zeit sowohl Rivalen als auch Partner auf diversen Gebieten sein. Die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei sind hierfür ein Paradebeispiel. Vor dem Abschuss des Bombers waren beide Staaten enorm wichtige Handelspartner. Das Paradox ihrer Wirtschaftsbeziehungen bestand aber darin, dass sie im Energiebereich etwa eine intensive Partnerschaft pflegten und zugleich einen harten Konkurrenzkampf führten. So wollte Russland, dass die Türkei in immer größere Abhängigkeit durch russische Gaslieferungen geriet, und versuchte deswegen, den Bau der Gaspipelines aus Zentralasien und dem kaspischen Raum – die nicht unter Moskaus Kontrolle stünden – zu verhindern. Ankara hingegen wollte seine Energiequellen stärker diversifizieren, um die Türkei dadurch zum größten Transitknotenpunkt für fossile Brennstoffe, wie beispielsweise Erdöl oder Erdgas auf dem Weg aus Zentralasien nach Europa, zu machen.

Der bilaterale Handel zwischen Russland und der Türkei entwickelte sich dabei in den vergangenen Jahren recht positiv. Der Warenumsatz belief sich 2014 auf rund 31 Milliarden US-Dollar und innerhalb der ersten neun Monate des vergangenen Jahres auf 18,1 Milliarden. Davon entfielen fünfzehn Milliarden Euro auf russische Exporte, während die Türkei Waren im Wert von über drei Milliarden Dollar nach Russland exportierte. Wenn man den Dienstleistungssektor mitberechnet, sind die Kennzahlen sogar noch besser: 2014 belief sich der gegenseitige Waren- und Dienstleistungsumsatz auf knapp 44 Milliarden Dollar. Präsident Erdoğan hatte wohl seine eigenen Vorstellungen vom wirtschaftlichen Pragmatismus und überschätzte deswegen den Stellenwert dieses Faktors für den Kreml. Diejenigen, die zumindest ein wenig mit den Grundlagen des Marxismus-Leninismus vertraut sind, würden sich wohl an die bekannte These Wladimir Lenins erinnern: „Politik ist konzentrierte Ökonomie.“ In Russland ist genau das Gegenteil zu beobachten: Die Wirtschaft wird hier zu konzentrierter Politik. Die Regierung Putin würde jederzeit einen Wirtschaftszweig zugunsten ihrer politischen Interessen opfern.

 

Gemeinsame Enttäuschung führt zusammen

In der Außenpolitik waren die Beziehungen zwischen den beiden Staaten inkonsequent. Im ersten Jahrzehnt nach dem Zerfall der Sowjetunion waren sie kühl. Die Implosion der ehemaligen Supermacht öffnete der Türkei das Tor in die postsowjetische muslimische Welt. Moskau befürchtete einen größeren geopolitischen Einfluss Ankaras nicht nur in den Regionen des Schwarzen Meeres und des Kaspischen Meeres, sondern auch im Nordkaukasus. Die Türkei sorgte sich ihrerseits über die politischen Folgen einer möglichen Dominanz Russlands, vor allem hinsichtlich der Nachbarregionen im postsowjetischen Raum.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war Russland ebenso wie die Türkei von der Politik des Westens enttäuscht. Diese Tatsache begünstigte eine intensivere Zusammenarbeit. Die Unzufriedenheit Russlands mit der Politik des Westens erreichte 2007 in der Rede Wladimir Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz ihren sichtbaren Höhepunkt. Hier brachte der russische Präsident über Jahre angestaute Gegensätze und Vorwürfe zum Ausdruck. Ankara war seinerseits enttäuscht, dass sich die Verhandlungen über die türkische EU-Mitgliedschaft in die Länge zogen. Die Politik der US-Administration unter George W. Bush in den Nachbarregionen der Türkei, vor allem der Irak-Krieg 2003, verstärkte die Instabilität in der Region und förderte so mittelbar den kurdischen Separatismus. Einige Experten meinen, die traditionelle Haltung der Türkei in Sicherheitsfragen ziele auf die Verhinderung eines „Zweieinhalbfrontenkrieges“ gegen Griechenland und Syrien an der Außenfront und gegen die Kurden an der Heimatfront. Die gegenwärtigen Spannungen im Nahen Osten zwingen die Türkei deswegen dazu, die Stabilität im großen Schwarzmeerraum anzustreben, indem sie die Gegensätze mit Russland, insbesondere im Kaukasus und in Zentralasien, auf Eis legt.

Sowohl Russland als auch die Türkei waren bestrebt, den Status quo in diesen Regionen beizubehalten, auch wenn jedes Land andere, eigene Gründe dafür hatte. Für die Türkei bedeutete der Status quo die Unterstützung der Multilateralität: Das stärke die Souveränität der Länder der Region gegen den wachsenden russischen Einfluss in der Region indirekt und eher im Stillen und fördere engere Kontakte zwischen den Kaukasus-Staaten und den euro-atlantischen internationalen Organisationen – so die Hoffnung. Ein multilaterales Netz könne auch größeren türkischen Einfluss bedeuten. Für Russland war der Status quo vor allem mit der Verhinderung einer NATO-Erweiterung in den GUS-Raum verbunden. Beide Staaten sprachen sich gegen eine Präsenz von US-Kriegsschiffen im Schwarzen Meer und gegen die Ausweitung der NATO-Operation Active Endeavour auf dieses Gewässer aus. Die Türkei und Russland riefen außerdem ein alternatives Projekt unter dem Namen Black Sea Harmony ins Leben, das de facto eine Art russisch-türkisches Kondominium werden sollte. Die Kaukasus-Krise 2008 bedeutete eine Zäsur in der türkischen Außenpolitik sowie für die russisch-türkischen Beziehungen insgesamt, die fortan neu definiert werden mussten. Die Eliten in der Türkei begriffen, dass in Eurasien ein neues, härteres Spiel begonnen hatte und dass Ankara neue Herangehensweisen benötigte, insbesondere in den Beziehungen zu Russland, das seine Ansprüche auf die Dominanz in der Region deutlich gemacht hatte. Im Gegenzug revidierte die Türkei ihre Schwarzmeerund Balkan-Identität, um ihren Einfluss auf die islamische Welt des südlichen Mittelmeerraumes auszuweiten und sich selbst als eine Schutzmacht der Sunniten zu etablieren.

 

Beziehungen auf Dauer ruiniert

Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan haben – auch das muss erwähnt werden – viele Gemeinsamkeiten als starke Politiker, die ihren Staaten wieder zu altem Ruhm verhelfen wollen. Beide halten zudem wenig von westlich-liberalen Werten, beide sind Anhänger einer lenkbaren Demokratie im Inland und einer souveränen Demokratie auf dem internationalen Parkett. Und beide haben ihre Prestigeprojekte, das eurasische in Russland und das islamische in der Türkei. Ihre Beziehungen hielten den Erschütterungen der Krise im Kaukasus und dem Ukraine-Konflikt stand, scheiterten aber an Syrien. Es war gerade Syrien und nicht die Ukraine, das Russland seinen letzten Verbündeten im Schwarzmeerraum nahm: das NATO-Mitglied Türkei – eine Ironie des Schicksals.

Die Beteiligung Russlands am Antiterroreinsatz in Syrien aufseiten Baschar al-Assads stand in einem unmittelbaren Gegensatz zu den strategischen Zielen der Türkei, der wichtigsten Schutzmacht der Sunniten. Mit anderen Worten: Russische und türkische Interessen gerieten in Syrien frontal gegeneinander. Der Konflikt um den russischen Militärjet hätte beigelegt werden können, hätte sich Erdoğan bei Russland entschuldigt. Er will aber als starke Führungsfigur in der muslimischen Welt gesehen werden und meint, sein Gesicht nicht verlieren zu dürfen. Andererseits ist Präsident Putin nicht bereit, seinem ehemaligen Freund zu verzeihen. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten sind offenbar auf Dauer ruiniert.

 

Gefahr eines Flächenbrandes

Dieser immer heftiger werdende Streit schafft für den Westen eine äußerst angespannte Atmosphäre, insbesondere für die EU und die NATO. Der EU sind gute Beziehungen zu beiden Staaten sehr wichtig. Ohne Russland kann die Ukraine-Krise nicht beigelegt werden. Von Russland hängen Stabilität und Sicherheit in Europa wesentlich ab, und es ist Teil des Antiterroreinsatzes gegen den IS. Die Türkei hingegen spielt die zentrale Rolle bei der Lösung des zurzeit größten Problems der Europäischen Union, der Flüchtlingskrise. Für die NATO birgt der Konflikt zwischen Russland und der Türkei die Gefahr, dass sie sich nach einer möglichen Eskalation darin zwiespältig verstrickt wiederfindet. Es gibt allerdings auch die Meinung, dass der Streit mit Russland die Türkei stärker an die NATO und den Westen insgesamt binden kann. In dieser Frage wird die Ausrichtung der türkischen Innenpolitik ausschlaggebend sein.

Allem Anschein nach werden die EU und die NATO versuchen, die entstandenen Spannungen abzubauen. Ohne ihre Vermittlerrolle kann der russisch-türkische Konflikt zu einem Flächenbrand werden. Russland wird weiterhin Kurden im Irak und in der Türkei unterstützen, da sie am tapfersten und am konsequentesten gegen den IS kämpfen. Die Türkei wird unterdessen den militanten Rebellen im Nordkaukasus den Rücken stärken. Das kann letzten Endes zu einer weiteren Eskalation, insbesondere in der Nähe der Meerengen des Schwarzen Meeres, führen. Das erfolgversprechendste Vorgehen wäre im Augenblick, den Konflikt einzufrieren und beide Seiten zu verpflichten, Zwischenfälle auf See und in der Luft zu verhindern.

 

Nadežda Arbatova, geboren 1950 in Moskau (Russland), Leiterin der Abteilung Europapolitische Studien am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO) der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Übersetzung aus dem Russischen: Michael Peregudov

comment-portlet