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Ein kritischer Rückblick auf die Studentenrevolte

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Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik bildeten CDU und CSU seit 1966 – und zwar bis 1969 – eine Große Koalition mit der SPD. In diese Zeit fällt die sogenannte Studentenrevolte. Manchen Kommentatoren gelten im Besonderen die Ereignisse von 1967/68 als der Beginn der modernen Bundesrepublik. Die Regierungskoalition stand durch die „68er“­Bewegung und die „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) unter zusätzlichem Druck. Die APO war ein politisches Sammelbecken, das von Linksliberalen bis zu Kommunisten reichte. „68er“ und APO zielten gegen den „CDU-Staat“: die Westbindung, den Antikommunismus, die Wiedervereinigungsmaxime, das konsequente Rechtsstaatsdenken, die Soziale Marktwirtschaft und seine durch das „C“ bestimmten Werthaltungen.1

Das alles wollten die linken Studierenden radikal ändern. In Universitätsstädten wie (West­)Berlin, Frankfurt am Main und Heidelberg fanden permanent Aktionen und Demonstrationen statt. Zentrales Thema war der in den Medien täglich präsente Vietnamkrieg, der für den „US-Imperialismus“ stand und in dem sie die Rollen von „Gut“ und „Böse“ klar verteilt sahen. Dass zur gleichen Zeit in Nigeria respektive Biafra ein Vernichtungskrieg der Zentralregierung gegen die im Süden lebende und nach Unabhängigkeit strebende Zivilbevölkerung geführt wurde, dem eine ähnliche hohe Zahl von Menschen zum Opfer fiel wie in Südostasien, fand kaum Beachtung. Günter Grass, „rechter“ Positionen unverdächtig, schrieb, in Biafra geschehe ein „Völkermord vor aller Augen“. Gab es im Hinblick auf Vietnam international verknüpfte Proteste, so war Biafra kein Thema für die „Neue Linke“, die das Bild der damaligen Proteste auch im Rückblick bestimmt.2

Diese „Neue Linke“ lehnte zwar das bestehende System ab und entwickelte ein „Sich-verantwortlich-Fühlen“ für die ganze Welt,3 allerdings politisch und moralisch selektiv. Die Grenzen zwischen der „antiautoritären“ Neuen Linken und der Alten Linken, die in der Tradition der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) stand und in der die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 1968 ihre Wiedergeburt fand, verliefen – jedenfalls in den konkreten Aktionen – fließend. Ziel der Altkommunisten war es, sich die Protestbewegung zunutze zu machen. Das ist ihr nicht gelungen: Zum einen löste die Niederschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Panzer im August 1968 erhebliche Friktionen im linken Lager aus, zum anderen fand die Protestbewegung in der Bevölkerung und gerade in der Arbeiterschaft keine Unterstützung. Kaum mehr als zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wollte sie das durch den Wiederaufbau Erreichte nicht infrage gestellt sehen. Statt Unterstützung wurde bisweilen die Forderung nach radikalen Maßnahmen gegen die Protestbewegung laut.

 

Attentat auf Rudi Dutschke

 

Erster Auslöser der Studentenrevolte war der umstrittene Staatsbesuch des Schahs von Persien, Mohammad Reza Pahlavi. Bei den Protesten wurde am 2. Juni 1967 in Berlin der friedlich demonstrierende Benno Ohnesorg erschossen. Der verantwortliche Polizeibeamte erwies sich nach 1990 als Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit. Die nach dem Tod Ohnesorgs entfachten Auseinandersetzungen erreichten im Frühjahr 1968 ihren nächsten Höhepunkt, als am 2. April 1968 Linksextremisten Brandanschläge auf Frankfurter Kaufhäuser verübten und wenige Tage später, am 11. April, Rudi Dutschke in Berlin niedergeschossen wurde. Er war die Galionsfigur der linken Studentenbewegung und ihrer führenden Kraft, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Das Verbrechen verübte ein junger Hilfsarbeiter, der sich angeblich durch die Berichterstattung der Springer-Presse dazu angestachelt sah. Es folgten schwere innenpolitische Unruhen. In München starben zwei Demonstranten, „möglicherweise durch Steinwürfe aus den eigenen Reihen“.4

Die Auseinandersetzungen fanden ihre Fortsetzung in den Protesten gegen die „NS-Gesetze“, wie die APO in denunziatorischer Anspielung auf das „Dritte Reich“ die von der Großen Koalition verabredeten Notstandsgesetze titulierte. Sie sollten alliierte Vorbehaltsrechte ablösen. Im Mai 1968 demonstrierten am Regierungssitz Bonn 40.000 Menschen. Unter ihnen waren 1.000 Studierende, die mit einem Sonderzug aus der von den Machthabern seit 1961 eingemauerten DDR anreisten, um den „antifaschistischen Kampf“ zu unterstützen. Der Bundestag verabschiedete die Notstandsgesetze in der vorgesehenen Weise. Die angebliche faschistische Gefahr blieb aus. Die Gesetze sind bis heute nicht angewendet worden.

 

Polarisierung und Freund-Feind-Denken

 

Dort, wo linke Gruppen an den Hochschulen die Selbstverwaltungsgremien beherrschten, beanspruchten sie ein „allgemeines politisches Mandat“. Die zwangsverfasste Studentenschaft sollte nicht nur zu studentenspezifischen Themen Stellung nehmen dürfen, sondern auch zu allgemeinen Themen wie den Notstandsgesetzen oder dem Vietnamkrieg. Studenten, die nicht dem linken Lager zuzurechnen waren, widersetzten sich dem, auch durch die Anrufung der Verwaltungsgerichte. Sie stellten regelmäßig die Rechtswidrigkeit des allgemeinen politischen Mandats fest.

Entgegen heute vorherrschenden Meinungen hatten an vielen Hochschulen zweifelsfrei demokratische Gruppierungen die Mehrheit in den Studentenparlamenten. Mit der linken „Basis“ war es ohnehin nicht weit her: Selbst an den Berliner Universitäten, Hochburgen der Studentenrevolte, weigerte sich im Sommersemester 1968 die Hälfte der Studierenden, den Teil des Semesterbeitrags zu bezahlen, mit dem die politische Arbeit des linken AStA finanziert werden sollte.

Unter den demokratischen Gruppen hatte bundesweit der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) die größte anhaltende Bedeutung. Daneben gab es die 1968 besonders erfolgreiche Deutsche Studenten-Union (später Sozial-Liberaler Hochschulverband, SLH) sowie lokal tätige Gruppen, die dem demokratischen Lager zuzurechnen waren. Von linker Seite wurden sie pauschal als „Rechte“ diskreditiert, obwohl es keinerlei Bezug zu Gruppen rechts der politischen Mitte beziehungsweise zur damals aktiven rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) gab: Es ging um Polarisierung, um ein Freund-Feind-Denken. Bis 1968 hatte es an vielen Hochschulen durchaus persönliche Kontakte über „Lagergrenzen“ hinweg gegeben. Diese waren jetzt kaum mehr möglich, zumal demokratische Studierende nicht nur in Wahlkämpfen Opfer linksextremer Übergriffe wurden.

Der Versuch, nichtlinke Studierende in die „rechte Ecke“ zu stellen, gehörte zu dem Vorhaben, Belege für den „Faschismus“ zu konstruieren, der angeblich noch die westdeutschen Hochschulen bestimmte. Im Besonderen seit Anfang der 1960er­Jahre – und keineswegs, wie behauptet wird, als Folge der Studentenbewegung – hatte es große Prozesse gegen NS-Straftäter gegeben. In Familien brachen Generationskonflikte auf, und manche linke Aktivisten hatten dadurch ihren politischen Weg begonnen. Die Diskussionen fanden ihre Fortsetzung in den Hochschulen. Ältere Professoren wurden „hinterfragt“, aber, wie sich zeigte, keineswegs nur, um ihre tatsächliche Vergangenheit aufzuklären.

So blieb in Bonn ein renommierter Germanist, der 1933 in die NSDAP eingetreten war und „völkische“ Texte veröffentlicht hatte, relativ unbehelligt – er hatte einen linken Studentenführer als Doktoranden angenommen. Dagegen war ein Dekan, dem die Nationalsozialisten 1940 die Lehrbefugnis entzogen hatten, NS-Vorwürfen ausgesetzt, weil er rechtlich gegen studentische Störer vorgegangen war. In Aachen konnte ein hoher SS-Offizier unter neuer Identität Ordinarius werden und bis zum Universitätsrektor aufsteigen, weil er sich betont linksliberal gab. Eine kritische Befassung gab es 1968 nicht. Erst Jahre später flog seine wahre Identität auf.

Auch ein aus heutiger Sicht scheinbar neues Phänomen existierte bereits damals an vielen Hochschulen: die Cancel Culture. So wurde ein Bonner Osteuropa-Historiker, der über die Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis 1939 lesen wollte, also von der bolschewistischen Oktoberrevolution bis zum Hitler-Stalin-Pakt, systematisch gestört und persönlich angegriffen. Entnervt brach er schließlich seine Vorlesung ab. Das Ziel war erreicht: Ein von der radikalen Linken abgelehntes wissenschaftliches Thema konnte in der Universität nicht behandelt werden.

Die Studentenzeitung der Freien Universität Berlin lobte den Steinhagel, der bei einer Demonstration auf die Polizei niedergegangen war, und forderte, einen „reaktionären“ Richter bis zum psychischen Zusammenbruch zu terrorisieren. Die verharmlosende, auch von unterschwelliger Sympathie getragene Darstellung der Studentenrevolte, die sich trotz solcher Ereignisse und Aussagen gehalten hat, kann kaum überraschen: Nicht wenige damalige Aktivisten sind journalistisch tätig geworden, auch in den öffentlich-rechtlichen Medien.

 

„Muff von tausend Jahren“?

 

Seit Mitte der 1960er­-Jahre war klar, dass die Studentenzahlen unter demografischen und bildungspolitischen Aspekten steigen würden. Daraus folgten auch erste Reformansätze an den Hochschulen. Der Wissenschaftsrat wurde bereits Ende der 1950er­Jahre aktiv; es folgten die Gründung des Deutschen Bildungsrates und 1965 in Bochum die der ersten neuen Universität.

In der Öffentlichkeit wurde jedoch vor dem Hintergrund linker Hochschulreformideen der Eindruck erweckt, seit Wilhelm von Humboldt habe sich an den deutschen Universitäten nichts geändert. Der Slogan „Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren“ war eine metaphorische Anspielung auf das „Dritte Reich“. Manche linke Reformforderung weckte Sympathien; so das Verlangen einer universitären Mitbestimmung, die als Teilhabe und als Abbau von Machtpositionen verstanden wurde. Es ging um eine Drittel-Parität, also die gleichberechtigte Teilhabe von Professoren, akademischem Mittelbau und Studenten. Eine sachliche Differenzierung war in der Regel nicht vorgesehen. Für Habilitationsverfahren etwa hätte das zur Folge gehabt, dass die fachlich qualifizierte Ebene, die Professoren, in einer aussichtslosen Minderheit gewesen wären: Das Ziel waren nicht sachbezogene Reformen, sondern der Aufbau von Machtpositionen in den Universitäten und letztlich eine andere Gesellschaft sowie ein anderer Staat.

Reformbemühungen, die als „Sacharbeit“ ironisiert wurden, fanden in der Regel keine Zustimmung der Linken. Nach amerikanischem Vorbild verliehen sie ihren Forderungen Nachdruck, unter anderem durch „Sit­ins“ und „Go-ins“. Rechtsverstöße wurden bewusst in Kauf genommen, die die gewünschten Polizeieinsätze auslösten. Ihnen folgte die Skandalisierung der angeblichen Polizeigewalt und schließlich die öffentliche Frage nach der Berechtigung von Polizeieinsätzen auf dem Universitätsgelände. Oft genug wurde die gewünschte Solidarisierung unpolitischer Studenten erreicht. Die Hochschulreformdiskussion wurde später durch Ländergesetze entschieden. Ihre unterschiedlichen Langzeitfolgen sind etwa in Berlin oder in Bayern auszumachen.

 

Wirkung trotz Scheitern

 

Auch fast zwei Generationen nach den Ereignissen von „68“ bleiben die Meinungen und Urteile kontrovers. Teile der Linken sehen die Ereignisse als zentrale, ihren Lebensweg bestimmende Erfahrung, die sie sich nicht nehmen lassen wollen. Dieses psychologische Phänomen kennen wir auch aus anderen historischen beziehungsweise politischen Zusammenhängen. Frühere Fehleinschätzungen und persönliches Fehlverhalten – etwa in der Gewaltfrage – werden meist ausgeblendet. Ralf Dahrendorf, selbst aktiver Zeitzeuge, sah in „68“ bei aller Kritik auch einen „Modernitätsschub“, der mehr Partizipation gebracht habe, und eine „Entprovinzialisierung“ der bundesdeutschen Gesellschaft. Dieser Einschätzung werden auch kritische Beobachter der „68er“­Zeit zustimmen. Allerdings hat dieser Prozess vielfältige soziokulturelle Wurzeln, die weiter zurückreichen, aber mittelbar zu den Ereignissen von „68“ beigetragen haben, so ein freieres, offeneres Lebensgefühl der jungen Menschen, das sich spätestens seit Mitte der 1960er­Jahre entwickelt hatte.

Manchen gilt heute „68“ als Ursache für den Verlust traditioneller Werte oder überhaupt als Ausgangspunkt von Entwicklungen, die als negativ empfunden werden. Solche Annahmen bedürfen der kritischen Hinterfragung. Die „Protestbewegung“, wie die linken Aktivitäten auch verstanden wurden, ist unzweifelhaft gescheitert: Der SDS löste sich 1970 auf, Teile der „Bewegung“ wandten sich der DKP zu5 und betrieben das politische Geschäft der DDR. Randgruppen wurden zu Terroristen, etwa der RAF, der Roten Zellen oder der „Bewegung 2. Juni“. Andere entwickelten ein gerade unter Journalisten verbreitetes linksbourgeoises Verhalten. Wieder andere engagierten sich in der SPD oder später den Grünen oder zogen sich aus dem politischen Geschehen zurück – und so manchen finden wir nach einem politischen Damaskus-Erlebnis in der bürgerlichen Welt wieder.

Von einer unmittelbaren Wirkung der „68er“­Bewegung kann kaum gesprochen werden. Mittelbar hatte sie ihre Wirkung in dem „sozialdemokratischen Jahrzehnt“, den Regierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt, besonders in der Gesellschafts- und der Bildungspolitik. Gerade letztere erscheint im Rückblick als ein Experimentierfeld, das den „68ern“ und ihren Epigonen überlassen wurde – im Gegensatz etwa zu den „harten“ Politikbereichen Wirtschaft oder Verteidigung.

Politisch hatten die „68er“­-Ereignisse Auswirkungen auch auf das christlich-demokratische Lager. Das zunächst reaktive Engagement junger Menschen, die konsequent für die von den Linken als „FDGO“ karikierte freiheitliche demokratische Grundordnung eingetreten sind, hat zu einer politischen und programmatischen Modernisierung von CDU und CSU beigetragen – unter anderem nachvollziehbar in dem Grundsatzprogrammprozess, der dem Ludwigshafener Programm (1978) vorangegangen ist. Es kam zu mehr Pragmatismus und einer personellen Erneuerung der Unionsparteien. Unter ihren Mandatsträgern und später auch in den administrativen Spitzenpositionen fanden sich zahlreiche Frauen und Männer, die ihre ersten politischen Erfahrungen um „68“ gesammelt hatten. Im Unterschied zu einigen Nachwuchskräften der Gegenwart haben sie belegt, dass frühzeitiges politisches Engagement mit dem Erwerb akademischer und beruflicher Qualifikationen nicht im Widerspruch stehen muss. Der deutschen Politik, im Besonderen unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl, hat das gewiss nicht geschadet. Kohl selbst hat das Engagement der „alternativen 68er“ hoch geschätzt.

 

Jürgen Aretz, geboren 1946 in Rheydt, promovierter Historiker, Staatssekretär a. D., 1968/69 Erster Sprecher des Studentenparlamentes der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn. Zahlreiche zeithistorische Veröffentlichungen, unter anderem Mitherausgeber der „Zeitgeschichte in Lebensbildern“.

 

1 Hans-Otto Kleinmann: Geschichte der CDU, hrsg. von Günter Buchstab, Stuttgart 1993, S. 31.
2 Lasse Heerten: „Der Biafra-Krieg als globales Medien- und Protestereignis“, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, 71. Jg., Nr. 31–32, 09.08.2021, S. 2.
3 Gerd Langguth: Protestbewegung am Ende. Die Neue Linke als Vorhut der DKP, Mainz 1971, S. 11.
4 Wolfgang Kraushaar: 1968. Das Jahr, das alles verändert hat, München/Zürich, 2. Aufl. 1998, S. 107.
5 Dazu schon 1971 Gerd Langguth, a. a. O., siehe En. 3.

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