In diesem Jahr feiert die CDU ihre siebzigjährige Erfolgsgeschichte. Die Gründung der interkonfessionellen, alle sozialen Schichten ansprechenden Volkspartei ist die bedeutsamste Erneuerung in der deutschen Parteiengeschichte nach 1945. Sie ermöglichte Stabilität im politischen System und Integration verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Von Anfang an haben Christliche Demokraten Verantwortung übernommen. Auf kommunaler, Landes- und Bundesebene – die europäische Ebene kam später hinzu – gestalteten sie maßgeblich den demokratischen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg und setzten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in der die CDU 46 Jahre den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin stellte, wegweisende Entscheidungen durch. Die CDU führte die Soziale Marktwirtschaft ein und sicherte die Westbindung, stieß den Prozess der Europäischen Einigung an und erreichte die Aussöhnung mit unseren Nachbarn und Israel. Am Ende eines von Kriegen geprägten Jahrhunderts gestaltete die CDU ganz entscheidend die Wiedervereinigung Deutschlands und das weitere Zusammenwachsen Europas. Wer hätte das alles erwarten können, als Deutschland nach der Katastrophe des Nationalsozialismus in Trümmern lag – auch moralisch und politisch?
Die Weimarer Republik hatte sich nicht zu einem gefestigten demokratischen Staatswesen entwickeln können. Ihr Untergang führte in die Diktatur des Nationalsozialismus und in den Zweiten Weltkrieg. Aus dieser grauenvollen Erfahrung, auch aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus heraus, entwarfen Männer und Frauen in Gestapogefängnissen, Konzentrationslagern und verschiedenen Widerstandskreisen wie dem Kreisauer Kreis die Idee einer neuen Volkspartei. Sie sollte die Spaltung der Parteienlandschaft überwinden. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft veröffentlichten überall in Deutschland Menschen ihre christlich demokratischen Gründungsaufrufe, die ersten im Juni 1945 in Köln und Berlin.
Der Mensch und nicht das System
Ziel war es, die Gegensätze zwischen den Konfessionen zu überwinden und die Grundlage allen Denkens und Handelns – das christliche Menschenbild – in den Vordergrund zu stellen. Dieses leitet aus dem Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes die unveräußerliche Würde eines jeden Einzelnen ab. Diese Würde ist unantastbar und unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Alter, Religion, politischer Überzeugung, Behinderung, Gesundheit, Leistung. Der Mensch ist Person: Er hat Verantwortung für sich selbst und die Gemeinschaft.
Dieses Verständnis vom Menschen wird begleitet von den Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit: Der Mensch ist zur Freiheit befähigt, doch endet seine Gestaltungskraft dort, wo die Freiheit eines anderen beginnt. Eng verbunden mit dem Gedanken der Solidarität, das heißt dem Eintreten der Gemeinschaft für den sich in Not befindenden Einzelnen, ist der der Subsidiarität. Danach werden Aufgaben so weit wie möglich von der kleinsten Gruppe oder untersten Ebene einer Einheit, einer Organisationsform bewältigt. Auch verlangt dieser Grundgedanke, nach den individuellen Möglichkeiten für das eigene Leben zu sorgen.
„Hilfe zur Selbsthilfe“ hat nicht dauerhafte Abhängigkeit, sondern die Befähigung zur Eigenverantwortung zum Ziel. Gerechtigkeit ist aus der gleichen Würde aller Menschen abgeleitet, bedeutet aber Gleichwertigkeit in Verschiedenheit und gleiche Chancen, nicht gleiche Ergebnisse. Nach der totalitären Erfahrung, in der der Mensch nichts und das Kollektiv alles bedeutet, steht nun der Mensch und nicht das System im Mittelpunkt politischen Handelns.
Diese Grundwerte boten Halt bei allen gesellschaftlichen Herausforderungen und Veränderungen der deutschen Politik. Sie sind der Stabilitätsanker christlich demokratischer Politik. Auch heute beruft sich die CDU in ihrem Grundsatzprogramm (2007) in der Präambel auf ebendiese Werte: „Wir orientieren uns am christlichen Bild vom Menschen und seiner unantastbaren Würde und davon ausgehend an den Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Wir streben nach dem richtigen Verhältnis der Grundwerte zueinander.“
Regionale Gründungen führen zur Volkspartei
Der Gedanke einer gesellschaftlichen und politischen Erneuerung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes setzte sich 1945 durch. Unabhängig vom Gründungsort war Konsens: Eine Wiedergeburt des katholisch geprägten Zentrums und protestantisch-nationaler Parteien galt es zu vermeiden. Auf dem „Reichstreffen“ vom 14. bis 16. Dezember 1945 in Bad Godesberg zur Koordinierung der christlich demokratischen Bestrebungen einigten sich die Vertreter schließlich auf den gemeinsamen Namen „Christlich Demokratische Union Deutschlands“. Dabei signalisierte das „U“ im Namen eine umfassende Öffnung: Als Partei der Mitte setzt sich die Union bis heute für alle Konfessionen und sozialen Schichten der Bevölkerung ein, bekennt sich zur föderalen Struktur des Staates und zu den landsmannschaftlich und regional geprägten Besonderheiten. Vertreter liberaler, konservativer und christlich-sozialer Strömungen finden in der Union gleichberechtigt ihren Platz.
In der gesamten Vorgeschichte bis zur Begründung der Bundesrepublik Deutschland übernahmen Christliche Demokraten wichtige Schlüsselaufgaben, gestalteten Länderverfassungen, errangen Erfolge bei Landtagswahlen, engagierten sich im Frankfurter Wirtschaftsrat, trugen im Parlamentarischen Rat zur Erarbeitung des Grundgesetzes bei. Die Grundsätze christlichen Staats- und Gesellschaftsverständnisses eröffneten eine geistig-moralische Orientierung für einen Neuanfang. Schließlich gewann die Union mit Konrad Adenauer an der Spitze die erste Bundestagswahl 1949 und formte die westlich orientierte, repräsentativ-parlamentarische Demokratie in Deutschland.
Gleichzeitig hatten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und später in der DDR Christliche Demokraten nicht die Chance, am Aufbau eines freiheitlich-demokratischen Staates mitzuwirken.
Die Sowjets setzten Parteivorsitzende ab und erzwangen die Anpassung an den Kurs der SED. Führungspersönlichkeiten, die den Kurs der Kommunisten nicht mitgehen wollten, wurden bedroht, verhaftet, verurteilt oder zur Flucht gezwungen. Die kommunistische Diktatur ließ keinen offenen Wettbewerb der Parteien zu.
Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten driftete auch die CDU unweigerlich auseinander. Schließlich erfolgte im Oktober 1950 auf dem ersten Bundesparteitag der CDU in Goslar der Zusammenschluss der Landesverbände in den westlichen Besatzungszonen. Konrad Adenauer wurde erster Bundesvorsitzender der CDU. Die in den ersten Jahren sehr stark durch den Gründungskanzler geprägte CDU entwickelte sich in den 1970er-Jahren, unter Vorsitz des späteren Bundeskanzlers Helmut Kohl, immer mehr zu einer modernen Mitgliederpartei. Bis heute öffnet sich die CDU gegenüber parteiinternen Reformen, um die Mitglieder stärker in die Arbeit einzubinden. Die Stärke der CDU war es stets, sich auf ihre Tradition zu besinnen und für die Erneuerung offen zu sein.
Historische Richtungsentscheidungen
Für den Wiederaufbau Deutschlands rang die CDU um einen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kurs. Mit der Währungsreform im Juni 1948 und der Einführung der D-Mark stieg der politische Einfluss von Ludwig Erhard, dem Direktor der Wirtschaftsverwaltung der Bizone und Verfechter wirtschaftsliberaler Vorstellungen. Die „Düsseldorfer Leitsätze“ vom Juli 1949 waren der erste in sich geschlossene wirtschaftliche Ordnungsentwurf in der Programmgeschichte der CDU. Nicht die einseitigen Eigeninteressen des Arbeiters im Sozialismus oder des Unternehmers im Liberalismus werden vertreten. Die CDU verbindet eine freiheitliche Wirtschaft mit sozialer Verantwortung: Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft wird zur konkreten Politik für Wiederaufbau, Wohlstand, Wachstum und soziale Absicherung. Auf dieser Basis gelang das „Wirtschaftswunder“.
Die außenpolitischen Bemühungen der CDU galten nach zwei verheerenden Weltkriegen der Wiedereingliederung Deutschlands in die freiheitliche Völkerfamilie und der Überwindung der Spaltung Europas. Zentrales Ziel der ersten Bundesregierung unter Konrad Adenauer war es, das Vertrauen der westlichen Demokratien zu gewinnen. Die CDU bekennt sich bis heute zum westlichen Werteund Bündnissystem, zur freiheitlichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialen Gerechtigkeit. Die Europapartei CDU setzte sich von Anfang an für die europäische Einigung ein. Christliche Demokraten besaßen den Mut, sich auf die gemeinsamen Werte der europäischen Geschichte zu besinnen und daraus eine neue Ordnung Europas zu gestalten. Vom Schuman-Plan führte der Weg über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) weiter zu den Römischen Verträgen, schließlich zur Europäischen Union, zu einer gemeinsamen Währung und zum Vertrag von Lissabon, der eine wirkliche europäische Demokratie auf der Ebene der Europäischen Union ermöglichte. Aus den sechs Gründungsstaaten sind heute 28 Mitgliedsstaaten geworden. Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind die prägenden Werte Europas.
Einheit des Kontinentes
1989/90 war es diese Verankerung im westlichen Werte- und Bündnissystem Deutschlands, die die Wiedervereinigung ermöglichte. Dabei sollte niemand vergessen, dass die Einheit Deutschlands auch den östlichen Nachbarn zu verdanken ist, die für Freiheit, Demokratie und Recht eingetreten sind. So wäre ohne Solidarność in Polen die Überwindung der Spaltung Europas nicht möglich gewesen. Es sind die gemeinsamen Werte, die die Europäer verbinden. Diese gemeinsamen Werte sollten die Europäer für die Zukunft zur Einheit unseres europäischen Kontinents verpflichten. Dabei sollte im Bewusstsein bleiben, dass die gemeinsamen Werte in der Europäischen Union erlebbar sind, die Europäische Union aber nicht das ganze Europa ist. Das gegenwärtige Verhalten Russlands gegenüber der Ukraine zeigt, dass die Werte Europas noch nicht auf dem gesamten Kontinent anerkannt und gesichert sind. Dies friedlich, im Dialog, aber auch mit Festigkeit zu ermöglichen, wird eine der großen Zukunftsaufgaben für das 21. Jahrhundert sein.
Unter den Parteien der Bundesrepublik Deutschland war es allein die CDU, die stets am Ziel der deutschen Einheit gegen alle Widerstände festhielt und den Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes ernst nahm. Als sich die historische Chance bot, hat die CDU-geführte Bundesregierung unter Helmut Kohl im Vertrauen auf die transatlantische und europäische Gemeinschaft die Wiedervereinigung verwirklicht. In der Person der CDU-Vorsitzenden, Bundeskanzlerin Angela Merkel, wird deutlich, dass die Überwindung der Teilung selbstverständlicher geworden ist, als manche Kritiker meinen.
Aufgaben der Konrad-Adenauer-Stiftung
Die Aufarbeitung der Parteigeschichte gehört zu den Aufgaben, denen sich auch die Konrad-Adenauer-Stiftung mit ihrem Archiv für Christlich-Demokratische Politik auf vielfältige Weise stellt. Im Jubiläumsjahr 2015 nehmen wir in multimedialen Präsentationen und Publikationen die Wurzeln, Anfänge und Entwicklungslinien der Volkspartei CDU in den Blick und diskutieren auf einem Grundwertekongress die Aktualität der normativen Grundlagen der christlich demokratischen Bewegung. Darüber hinaus stellt die Stiftung die Frage nach der Zukunft der Volksparteien. Wie können sie die Herausforderungen der Zukunft bestehen? Gerade angesichts der gegenwärtigen Debatte über Parteireformen sollen empirische Untersuchungen nach den Motiven für politisches Engagement fragen und Ideen herleiten, wie den veränderten Kommunikations- und Partizipationswünschen entsprochen werden kann. Es ist uns wichtig, insbesondere junge Menschen zum Beispiel über den Jugendpolitiktag „Wege ins Engagement“ und die „It’s your choice“-Tour an Hamburger Schulen anzusprechen. Stipendiatinnen und Stipendiaten der Begabtenförderung richten an 450 Hochschulen Politische Clubs aus. In einer Summerschool treffen sich Nachwuchspolitiker und Experten der Politischen Kommunikation aus aller Welt zum Erfahrungsaustausch.
Erfolgreicher Weg
Bei allen aktuellen politischen Aufgaben und Sorgen ist von Zeit zu Zeit der weite Weg in Erinnerung zu rufen, den die christlich demokratische Bewegung bis heute zurückgelegt hat. Für die unzähligen engagierten CDU-Mitglieder, die diesen Weg politisch mitgestaltet haben, stehen stellvertretend die Namen der Vorsitzenden der CDU Deutschlands: Konrad Adenauer (1950–1966), Ludwig Erhard (1966–1967), Kurt Georg Kiesinger (1967–1971), Rainer Barzel (197–1973), Helmut Kohl (1973–1998), Wolfgang Schäuble (1998–2000) und seit 2000 Angela Merkel. Heute leben wir in einem Deutschland, in einem Europa, das von der CDU, ihren Zielen und Grundüberzeugungen maßgeblich in den vergangenen siebzig Jahren geprägt wurde. Bedeutende Weichenstellungen für Freiheit, Frieden, Wohlstand und Sicherheit wurden von der CDU ermöglicht. Dafür hat sie immer wieder das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger bekommen. Auf ihre historischen Leistungen können ihre Mitglieder und Anhänger nicht nur aus Anlass dieses Jubiläums stolz sein. Die Chancen stehen gut, dass sie ihre Gestaltungskraft und ihren Mut erhalten und – wie ihre Vorgänger – immer wieder zu großen Leistungen fähig sind.
Hans-Gert Pöttering, geboren 1945 in Bersenbrück, von 1979 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments, von 2007 bis 2009 dessen Präsident, Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion (1999 bis 2007), seit 2010 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.