Aus zweierlei Sicht ist gegen die Formel, jetzt komme es darauf an, aus Flüchtlingen „Deutsche“ zu machen, Widerspruch erhoben worden: im Hinblick auf die Migranten, die das gar nicht wollten, weil es ja darauf hinausliefe, dass sie ihre Identität aufgeben würden, und aus der Sicht einiger Deutscher, die das für unmöglich halten, weil man entweder als Deutscher geboren worden sein oder sich zumindest von Kindesbeinen an im deutschen Kulturkreis aufgehalten haben müsse, um auf dem früh begonnenen Weg der Sozialisation ein Deutscher zu werden. Wer hingegen als Erwachsener oder fast erwachsener Jugendlicher auf der Balkanroute oder über das Mittelmeer nach Europa und schließlich nach Deutschland gekommen sei, der könne auch bei bestem Willen kein Deutscher mehr werden. Beide Argumentationslinien, die einer angeblichen Rücksicht auf die Migranten und die einer nahezu nicht anzueignenden deutschen Identität, laufen im Ergebnis auf dasselbe hinaus: dass diejenigen, die seit dem Spätsommer 2015 als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, wenn sie hier bleiben, eine Parallelgesellschaft bilden werden, die immer in Distanz zur deutschen Mehrheitsgesellschaft stehen wird.
Die linksalternative, national-averse Sicht, die den Migranten keine Integrationsbemühungen zumuten will und das für identitätspolitische Selbstbestimmung hält, läuft auf eine ethnisch religiöse Patchworkgesellschaft hinaus, in der die jeweiligen Gruppen nur locker mit der deutschen Mehrheit vernäht sind, wobei diese Nähte entweder in der Beschäftigung bei demselben Unternehmen bestehen, sich aber auch auf das Anstehen an derselben Supermarktkasse beschränken können. Das freilich ist zu wenig, um das für eine funktionierende Zivilgesellschaft erforderliche Vertrauen hervorzubringen. Und auf eine lebendige Zivilgesellschaft ist, wie der Soziologe und Politikwissenschaftler Robert D. Putnam in seinen Untersuchungen gezeigt hat, eine jede demokratische Ordnung angewiesen, wenn sie mehr sein soll als ein formaler Mechanismus. Wer am Fortbestand der demokratischen Ordnung interessiert ist, muss die Entstehung von Parallelgesellschaften zu verhindern suchen.
Zugegebenermaßen kann sich innerhalb solcher Parallelgesellschaften – jedoch auf sie beschränkt – durchaus soziales Vertrauen entwickeln, aber das ist dann – in der Begrifflichkeit Putnams – bonding und nicht bridging social capital, also Sozialkapital, das stärker trennt als verbindet; es schafft eher Sollbruchstellen der Gesellschaft, als dass es deren Zusammenhalt stärkt. Das Binnenvertrauen der Gruppe lebt hier vom Misstrauen gegen den Rest der Gesellschaft. Das Multi-Kulti-Konzept, das auf eine nachhaltige Integration der Migranten verzichten zu können glaubt, ist der ideologische Repräsentant von Bankenplätzen und Handelsstädten: Die Fremden kommen, gehen aber nach einiger Zeit auch wieder, um der nächsten Gruppe Platz zu machen, bei der sich das Kommen und Gehen wiederholt und nicht zum Bleiben wird. Es sind die wirtschaftlich Starken, die sich derlei leisten können. Die Migranten, die jetzt nach Deutschland gekommen sind, gehören nicht dazu. Für sie ist die Ideologie der Multi-Kulti-Gesellschaft ein vergiftetes Angebot, das indes nur noch selten gemacht wird, nachdem es in den letzten Jahren viel von seinem anfänglichen Charme verloren hat.
Was ist deutsch?
Die Gegenposition dazu besteht darin, grundsätzlich die Integrationsfähigkeit und Integrationswilligkeit der Migranten infrage zu stellen und zu bestreiten, dass aus ihnen jemals „Deutsche“ werden könnten. Man kann diese Sichtweise zurückweisen, indem man die Integration zu einer empirischen Frage erklärt, die erst in drei, fünf oder zehn Jahren beantwortet werden kann. Es kommt hinzu, dass eine auf Verallgemeinerung gegründete Aussage, wie die über die Integrationsunfähigkeit aller Migranten, schon dann als logisch widerlegt gilt, wenn es nur einen einzigen gibt, der als gut integriert angesehen werden kann. Damit sind alle, die die Möglichkeit der Integration bestreiten, gezwungen, Kriterien und Voraussetzungen des Gelingens beziehungsweise Misslingens von Integration zu benennen. In der Regel geht es dabei willkürlich zu. So kommt dabei in schlimmen Fällen heraus, dass eine Integration aus ihrer Sicht schon darum nicht gelingen könne, weil die Migranten nicht blond seien und als Dreijährige nicht regelmäßig die Sonntagsschule besucht hätten. Die Pointe dabei ist, dass bei der Anwendung dieser Maßstäbe die Mehrzahl der Deutschen keine „Deutschen“ wären, sondern dies bloß vorgäben und die wirklichen Deutschen eine kleine Minderheit innerhalb der großen Anzahl derer bildeten, die bloß qua Personalausweis deutsche Staatsbürger sind.
Stattdessen soll hier unter einem Deutschen im Sinn des Zieles nachhaltiger Integration jeder verstanden werden, der davon überzeugt ist, dass er für sich und gegebenenfalls seine Familie durch Arbeit (oder Vermögen) selbst zu sorgen hat und nur in Notund Ausnahmefällen darauf angewiesen ist, dass die Gemeinschaft ihm unter die Arme greift; der aber auch mit Gründen davon ausgehen kann, dass man durch eigene Anstrengung die angestrebte persönliche Anerkennung und einen gewissen sozialen Aufstieg erlangen kann; für den feststeht, dass die religiöse Überzeugung eine Privatangelegenheit ist, die im gesellschaftlichen Leben, bei der administrativen Bearbeitung von Anträgen sowie bei der Bewerbung um Arbeitsplätze und Stellen keine Rolle spielt; und der sich daran hält, dass die Wahl der Lebensform und des Lebenspartners in das individuelle Ermessen eines jeden Einzelnen gestellt ist und dabei zumindest im erwachsenen Alter nicht von der Familie vorgegeben werden kann. In diesem Sinn kann tatsächlich jeder ein Deutscher werden – aber nicht jeder wird dies wollen, und nicht alle, die es wollen, werden es schaffen. Obwohl diese vier Wesensmerkmale nicht sonderlich anspruchsvoll sind, ist doch auch klar, dass viele Deutsche dieser Definition des Deutschseins nicht ohne Weiteres genügen. Es ist also keineswegs eine Minimaldefinition des Deutschseins, um die es hier geht.
Bei einer nachhaltigen Integration im beschriebenen Sinn geht es somit nicht um eine administrative Maßnahme, einen Rechtsakt, der mit den üblichen bürokratischen Verfahren durchgeführt werden kann, sondern um einen langwierigen Prozess, der auch scheitern oder nur teilweise gelingen kann. Die Integration soll nämlich auf drei Feldern beziehungsweise in drei Bereichen erfolgen, und sie muss überall erfolgreich sein, damit sie als nachhaltig bezeichnet werden kann. Diese drei Bereiche sind der Arbeitsmarkt, der als erstes und wichtigstes Feld zu nennen ist, sodann die Zivilgesellschaft, die beim Sport beginnt und bis zu Nachbarschaftsinitiativen reicht, und schließlich das weite Feld der sozialen und kulturellen Werte, auf denen die politische Ordnung Deutschlands beruht. Die in der Vergangenheit zu konstatierenden Verwerfungen bei der Integration von Fremden, etwa bei den sogenannten Gastarbeitern der 1960erbis 1980er-Jahre oder den Balkanflüchtlingen der 1990er-Jahre, resultierten im Wesentlichen daraus, dass die Integration nur auf einem der genannten Felder stattfand und die beiden anderen Bereiche vernachlässigt wurden. Die Folgen zeigten sich dann regelmäßig in der zweiten Generation, und das vor allem dann, wenn die bei der ersten Generation selbstverständliche Integration in den Arbeitsmarkt (schließlich hatte man die „Gastarbeiter“ ja als Arbeitskräfte geholt) nicht gelang oder als ein Prozess wahrgenommen wurde, mit dem Diskriminierungen verbunden waren. Vor allem junge Männer fühlten sich dann abgelehnt und ausgeschlossen und bildeten eine feindselige Grundeinstellung gegenüber der Gesellschaft aus, in der sie lebten. Einige von ihnen gehören heute zum Rekrutierungsreservoir der Salafisten.
Das schlechte Beispiel der Banlieues
Vor allem dieses Scheitern ist gemeint, wenn in der gegenwärtigen Diskussion immer wieder auf die französischen Banlieues verwiesen wird. Sie sind der Bezugspunkt, wenn die jetzt nach Deutschland kommenden Flüchtlinge als Gefahr – und nicht auch als Chance – bezeichnet werden; dabei seien die Jugendlichen der Banlieues, die zu einem großen Problem der französischen Gesellschaft geworden sind, hinsichtlich ihrer Sprachkompetenz sehr viel besser in Frankreich integriert, als man dies von den jungen Männern, die jetzt aus Syrien, Pakistan oder Afghanistan nach Deutschland kommen, nach mehrjährigem Sprachunterricht erwarten könne. Die Beobachtung ist richtig, die daraus gezogene Schlussfolgerung, wonach eine Integration in Deutschland darum umso eher scheitern wird, ist dagegen falsch. Gerade weil sich die jungen Franzosen mit maghrebinischem Hintergrund aus den Banlieues am Rande der großen Städte in ihrer Sprachkompetenz von den Jugendlichen, deren Eltern seit Generationen Franzosen waren, nicht unterscheiden, hat sie der gravierende Unterschied bei der Chancenverteilung auf dem Arbeitsmarkt besonders getroffen. Integration ist nur dann nachhaltig, wenn sie in allen drei Bereichen erfolgt, während eine nur teilweise umgesetzte Integration schnell zu Wahrnehmungsmustern der Ablehnung führen und in Feindseligkeit umschlagen kann. Das ist der Grund, warum der Arbeitsmarkt als erster und wichtigster Integrationsbereich angesehen werden muss, wenn er auch nicht genügt, um den Integrationsprozess nachhaltig werden zu lassen.
An Bedeutung steht ihm nämlich das gesellschaftliche Leben kaum nach, und dieses sedimentiert sich vor allem in dem Ort und in der Art des Wohnens. Besonders integrationsfeindlich ist dabei die Unterbringung von Zuwanderern in riesigen Wohnblocks, in denen sie gesammelt und von anderen Bürgern getrennt untergebracht werden; so entstehen zwangsläufig Parallelgesellschaften. Eine kluge Integrationspolitik achtet also darauf, dass solche ethnischen oder religiösen Zusammenballungen nicht entstehen, sondern die Migranten nach Möglichkeit auf verschiedene Stadtteile verteilt und dort diversifiziert untergebracht werden. Eine solche Wohnsituation hat zur Folge, dass die sozialen Kontakte zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen vervielfältigt werden und dies „wie von selbst“ den Integrationsprozess begünstigt und beschleunigt. Hier stoßen wir freilich auf eine Paradoxie, deren Auflösung für Gelingen oder Scheitern einer nachhaltigen Integration ausschlaggebend ist: Alteingesessene lehnen den Zuzug von Neuankömmlingen in „ihre“ Wohngebiete bisweilen ab, leisten dagegen sogar Widerstand und tragen auf diese Weise zur Entstehung von Parallelgesellschaften bei, von denen sie anschließend sagen, sie machten ihnen Angst und seien der Beleg dafür, dass die Integration der Fremden nicht gelingen könne. Insofern beinhaltet ein nachhaltiger Integrationsprozess nicht nur Forderungen an die Migranten, die zu Deutschen werden sollen, sondern auch solche an die Deutschen, das Deutschwerden der Neuankömmlinge nicht durch sozio-kulturelle Ablehnung und Exklusion zu erschweren oder unmöglich zu machen.
Stabilität durch Integration
Was aber könnte die Skeptischen und gar Ablehnenden unter den Alteingesessenen dazu veranlassen, sich mehr auf die Anstrengungen und Mühen solcher Kontakte einzulassen? Sie könnten ja auch, wie immer wieder zu hören ist, unter sich bleiben. Sie gehen dabei davon aus, dass sich nichts ändern müsse, damit alles so bleiben könne, wie es jetzt ist, und unterschätzen damit die zentrale Verwundbarkeit unseres Wohlfahrtsstaates, die das Schrumpfen der demografischen Reproduktionsrate mit sich gebracht hat. Der Bevölkerungsrückgang führt in manchen Gegenden zum Zusammenbruch des Immobilienmarktes und zur Entwertung von Vermögen, die der Alterssicherung hatten dienen sollen, außerdem zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit und in der Regel zu deutlich höheren Einzahlungen in die Rentenkasse, also zu einem insgesamt sinkenden Einkommen mit deutlichen Effekten für eine wirtschaftliche Abwärtsspirale. Nichts bleibt in Deutschland so, wie es ist, wenn sich nicht einiges ändert – etwa durch die Zuwanderung von Menschen aus genau jener Alterskohorte, die in Deutschland fehlt, weil in ihr zu wenig Kinder geboren wurden. Was lange als irreparabel galt, könnte in seinen negativen Folgen durch die jetzt erfolgende Zuwanderung gemildert werden – jedoch nur dann, wenn es gelingt, aus den Flüchtlingen im beschriebenen Sinn eben Deutsche zu machen.
Herfried Münkler, geboren 1951 in Friedberg (Hessen), Lehrstuhl Theorie der Politik, Humboldt-Universität zu Berlin.