35 Jahre nach dem Sturz der kommunistischen Diktaturen in Europa verblassen die Erinnerungen an die Repression nicht nur, sie werden mehr und mehr verdrängt. Ein Beispiel: Extreme Gruppierungen am linken und rechten Rand des politischen Spektrums ignorieren bewusst historische Sensibilität, wenn sie ihr Handeln als Widerstandsakt bezeichnen. So fällt die Verharmlosung der Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) auf bereiteten Boden, die in Büchern wie dem von Katja Hoyer (Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990) befeuert wird und die manchmal den Eindruck entstehen lassen, das Leben in der DDR sei doch schöner gewesen, als es heute oftmals dargestellt wird. Dieser besorgniserregenden Entwicklung gilt es entgegenzuwirken. Das Beispiel zeigt auch: Nach der Freude über die Überwindung der Diktatur und der Errichtung funktionierender Demokratien sind die Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit sowie deren Aufarbeitung unerlässlich, damit das Erbe der Diktatur nicht nachwirkt.
Dazu bieten sich in diesem Jahr der Gedenk- und Jahrestage viele Anlässe: Vor 85 Jahren wurde Osteuropa mit dem Hitler-Stalin-Pakt zwischen zwei Diktatoren aufgeteilt, danach brach der Zweite Weltkrieg aus. In seinem Ergebnis erfolgte vor 75 Jahren die doppelte Staatsgründung von Bundesrepublik Deutschland und DDR, mit der in Ostdeutschland eine wichtige Etappe der Durchsetzung der kommunistischen Diktatur ihren Abschluss fand. Gleichzeitig setzte in der Sowjetunion die Deportation von 42.000 Letten nach Sibirien ein. Parallel lief die „Sowjetisierung“ des Baltikums. Mit weitreichenden Folgen: Nicht nur in den baltischen Staaten fürchten heute viele Menschen, dass Putin den „Schutz“ der dort lebenden Russen als Vorwand für kriegerische Aktionen nutzen könnte. Das zeigt, wie die Verbrechen des Stalinismus bis in die Gegenwart fortwirken.
Wir erinnern aber auch an positive Wendepunkte der europäischen Geschichte: Im Jahr 1989, vor 35 Jahren, beendeten mutige Frauen und Männer die kommunistische Herrschaft in Europa. Ein Meilenstein waren die Treffen des Runden Tisches in Warschau und der Sieg der Opposition bei den darauffolgenden Parlamentswahlen in Polen. Aus deutscher Sicht ist die Grenzöffnung in Ungarn von besonderer Bedeutung. Der Freiheitsdrang der Menschen ließ sich nicht mehr stoppen: In unserem Land feiern wir die Jubiläen von Friedlicher Revolution und Mauerfall.
Selbstverständlich waren Freiheit und Demokratie allerdings auch vor 35 Jahren nicht: Das führt uns das Massaker auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking im Juni 1989 wie kaum ein anderes Ereignis vor Augen.
All diese Jahrestage zeigen: Die Aufarbeitung der Errichtung, Durchsetzung und Überwindung der kommunistischen Diktatur ist eine gesamteuropäische Aufgabe – gerade in Zeiten, in denen wir uns immer wieder damit auseinandersetzen müssen, dass nicht nur in unserem Land viele Menschen den Wert der Freiheit und die Folgen von Unfreiheit aus dem Blick verlieren.
Diktatur und Unrechtsstaat
Welche Inhalte und Begrifflichkeiten sind wichtig? Die Konzentration auf Themen wie „Diktatur“ und „Unrecht“ ist keine Schwäche, sondern eine Stärke in der Vermittlung der DDR-Geschichte – weil dadurch der Unterschied zur freien und demokratischen Gesellschaft deutlich wird.
An ihrem totalen Machtanspruch ließ die SED nie einen Zweifel – und sie setzte ihre Politik nicht nur mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS), sondern mit weiteren Repressionsorganen wie Volkspolizei oder Verwaltung durch. Bürgerliche Verfassungs-, Grundrechts- und Demokratievorstellungen lehnte die SED entschieden ab: „Daraus ergibt sich“, so heißt es in einem öffentlich zugänglichen Verfassungskommentar, „dass die sozialistische Demokratie nicht mit der ‚repräsentativen‘ Demokratie oder einem beliebigen parlamentarischen System verglichen werden kann.“1
Einher ging der von der SED vorangetriebene Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mit einer drastischen Beschneidung der persönlichen Freiheitsrechte – gerade nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961. Alle Grundrechte galten ausschließlich im Rahmen des politischen Systems der DDR und im Sinne der SED. Diese strikte Normbindung unterschied die DDR-Verfassung fundamental von den Bestimmungen in demokratischen Verfassungsstaaten.
Von besonderer Bedeutung für die Verfassungswirklichkeit in der DDR war die Vehemenz, mit der die SED den „Rechtsstaat“ – das heißt eine unabhängige Justiz – ablehnte und stattdessen lediglich von „sozialistischer Gesetzlichkeit“ sprach. Es gehörte zur DNA des SED-Staates, „dass die Unabhängigkeit der Rechtsprechung im Sinne der bürgerlichen Gewaltenteilung dem Sozialismus und dem mit ihm erstmals verwirklichten Prinzip der Volkssouveränität wesensfremd ist“ – so formulierte es 1970 der Justizminister der DDR in einer öffentlich zugänglichen Publikation.2
Vernachlässigte Opfer des Antisemitismus
Doch die DDR war auch ein Land, in dem sich immer wieder Menschen gegen die Einschränkung ihrer Freiheitsrechte zur Wehr setzten. Bürgerliche Politiker widerstanden in der Frühphase der DDR der Gleichschaltung ihrer Parteien. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 zeigte, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Herrschaft der SED ablehnte. Später folgten der Widerstand gegen die Jugendweihe und die Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die Wehrdienstverweigerung, die Proteste gegen den Mauerbau und in den 1980er-Jahren die Friedensund Umweltbewegung.
Verschwiegen wurden in der DDR die Opfer von Rassismus und Rechtsextremismus – die es aus ideologischen Gründen auf Geheiß der SED-Führung nicht geben durfte. Auch die oft vernachlässigten Opfer von Antisemitismus in der DDR gehören stärker in den Blick der Öffentlichkeit: Der jüdische Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft spielte in der SED-Diktatur nahezu keine Rolle.
Die SED koppelte offene und verdeckte Repressionen mit gezielten Verbesserungen im täglichen Leben. Beides existierte nebeneinander und bedingte sich gegenseitig. Deshalb prägten vielfach Zwänge, Lügen und Angst den Alltag. Jedoch gehört auch zur Wirklichkeit, dass sich viele Menschen, wenn sie an ihr Leben vor der Friedlichen Revolution zurückdenken, auch an Normalität erinnern: an harte Arbeit, die Organisation des Alltags in einer Mangelwirtschaft, an Freude und Leid. Niemand sollte dem alltäglichen Leben in der DDR das Lebenswerte absprechen. Das würde die Biographien von Millionen Menschen entwerten. Aber diejenigen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die manchmal wehmütig zurückblicken, sollten mit der Frage konfrontiert werden: Was bitte ist an einer Diktatur gut?
Darauf fand Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2021 eine prägnante Antwort: „Die Mauer war das unübersehbare Zeichen eines Unrechtsstaates, der in den Augen seiner eigenen Bürgerinnen und Bürger weder souverän noch legitim war.“3
Historische Lehren
Aus der Geschichte und den Lehren zweier Diktaturen hat Deutschland Konsequenzen gezogen: Die unveräußerliche Achtung der Menschenwürde, das Bewusstsein für die Bedeutung der Freiheit und die Wertebindung des Grundgesetzes sind tragende Prinzipien der demokratischen Ordnung in Deutschland. Jede Erinnerung an die Diktaturvergangenheit in Deutschland geht davon aus: Weder dürfen die nationalsozialistischen Verbrechen und der Holocaust relativiert, noch darf das von der kommunistischen Diktatur verübte Unrecht bagatellisiert werden – auf diesem langjährigen, tragfähigen und überparteilichen Konsens gründen Gedenken und Erinnerung in Deutschland. Die SED-Opferbeauftragte beim Deutschen Bundestag Evelyn Zupke ermutigt dazu, künftig die Auseinandersetzung mit totalitärer Vergangenheit und die Vermittlung in die gesamte Gesellschaft stärker in einen europäischen Kontext zu stellen.
Unsere Gesellschaft muss mehr tun, damit die Verbrechen der SED-Diktatur auch Teil des kulturellen Gedächtnisses der Menschen mit Migrationshintergrund werden. Viele von ihnen verfügen über eigene leidvolle Erfahrungen von Unrecht und Unterdrückung. Die Opfer der SED-Diktatur zu würdigen, heißt nicht, andere Verbrechen auszublenden. Gerechtigkeit für Opfer von Menschenrechtsverletzungen bedeutet kein Entweder-oder.
In Deutschland leben sechs Millionen Menschen, deren familiäre Wurzeln in den ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes liegen und die damit Erfahrungen aus kommunistischen Diktaturen mitbringen. Ein intensiverer Austausch wäre für alle Beteiligten eine Bereicherung. Es geht darum, die gesamte Gesellschaft in ihrer Vielfalt – bezogen auf Geschlecht, Herkunft, Religion, Alter und soziale Verankerung – zu erreichen. Ziel ist es, dass sich möglichst viele Menschen mit der Geschichte der SED-Diktatur auseinandersetzen.
Das geschieht besonders nachhaltig in den zahlreichen Gedenkstätten, die an den authentischen Orten der Verfolgung an die Opfer erinnern. Diesen Menschen ist zu Recht wichtig, dass sich die Gesellschaft mit ihren Schicksalen auseinandersetzt. Vielfach waren sie es, die mit ihrem Engagement überhaupt erst die Räume geschaffen haben, an denen heute erinnert und Diktaturgeschichte konkret vermittelt wird. Die Frauen und Männer, die für Freiheit und Demokratie aufgestanden sind, verdienen es, dass wir ihre Geschichten bewahren und die Bedeutung der durch sie errungenen Werte stärken, betonte der Berliner Regierende Bürgermeister Kai Wegner anlässlich des 70. Jahrestages des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953.
Erfolgreiche Aufarbeitung lässt die Opfer der Diktatur zu Wort kommen. Zahlreiche positive Rückmeldungen belegen, wie gut es den Zeitzeugen gelingt, besonders junge Menschen für das während des Sozialismus begangene Unrecht zu sensibilisieren und damit ihr Demokratiebewusstsein zu stärken.
Die letzten 35 Jahre zeigen: Die Arbeit mit Zeitzeugen ist ein erfolgversprechender Weg, um den Kräften entgegenzuwirken, die das kommunistische Unrecht relativieren wollen. Es liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, dass diese Gruppierungen nicht die Deutungshoheit über die Geschichte des 20. Jahrhunderts erlangen. Wer die Stimme der Zeitzeugen zum Verstummen bringen will, öffnet der Verharmlosung und Relativierung der sozialistischen Diktatur Tür und Tor.
Eine lebendige Erinnerungskultur, Zeitzeugenarbeit, Forschung und Vermittlung benötigen eine auskömmliche Finanzierung. Der Politik kommt diesbezüglich eine enorme Verantwortung zu. Wenn die kultur- und medienpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Christiane Schenderlein die Arbeit der Gedenkstätten würdigt, dann unterstützt sie den Ansatz der Gedenkstättenarbeit, den antitotalitären Konsens in der Gesellschaft zu festigen und das Bewusstsein für den Wert der Freiheit und der Menschenrechte zu stärken. Jeder Euro, der in die Arbeit der Gedenkstätten fließt, ist eine gute Investition in die Demokratie, weil die Besucherinnen und Besucher durch die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit für totalitäre und autoritäre Versuchungen sensibilisiert werden.
Stefan Donth, geboren 1968 in Dresden, 1999 Promotion mit einer Arbeit über die Politik von Sowjetischer Militäradministration und SED in Sachsen zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen 1945 bis 1952, seit 2016 Bereichsleiter an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.
1 Klaus Sorgenicht et al. (Hrsg.): Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente. Kommentar, Bd. 1, Staatsverlag der DDR, Berlin 1969, S. 281.
2 Kurt Wünsche: „Zur Wahl der Richter und Schöffen der Kreisgerichte sowie der Mitglieder der Schiedskommissionen“, in: Neue Justiz, 24. Jg., Nr. 2/1970, S. 33.
3 Frank-Walter Steinmeier: Rede anlässlich der zentralen Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Mauerbaus, Berlin, 13.08.2021.