Man braucht die Bedrohungen unserer Gegenwart nicht mehr aufzuzählen, jeder kann sie herunterbeten: den neoimperialen Angriffskrieg Putins in der Ukraine, den terroristischen Vernichtungskrieg gegen Israel, unsichere Aussichten über den künftigen Weg der Vereinigten Staaten, Desinformation, Fake News, Hasstiraden aus den Propagandakanälen der „sozialen“ Medien und den globalen Aufschwung populistischer Bewegungen, die „Feinde der offenen Gesellschaft“ (Karl Popper) im zeitgemäßen Gewand. Dazu kommen die globalen Veränderungen der Umwelt und der Lebensmöglichkeiten in weiten Teilen der Welt durch den Klimawandel und das Unbehagen über ein immer umfassenderes Regime künstlicher Intelligenzen. Keine guten Zukunftsaussichten.
Wer möchte sich da nicht am liebsten in seine Ecke zurückziehen und resignieren? Was kann ein Einzelner schon tun gegen die von allen Seiten heraufziehenden Katastrophen und Katastrophenszenarien? Es sieht aus, als vollziehe sich etwas Unaufhaltsames, Gewaltsames, dem offenbar unfsere demokratischen politischen Systeme nicht gewachsen sind. Auch überaus „gehypte“ Bestsellerautoren bedienen einen solchen Pessimismus, wenn sie das Heraufziehen eines digital gesteuerten „Transhumanismus“ als dystopische Zielstellung einer „Geschichte von morgen“ herbeispekulieren.
Düsteres Brüten in Unzufriedenheit und Ressentiments
Pessimismus frisst sich ins Gemüt, verstärkt sich selbst, dreht eine Konjunkturspirale für Propheten und Geschäftemacher des Untergangs. Der Historiker Fritz Stern hat bereits vor mehr als sechzig Jahren für die Zeit des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik in einem Klassiker der modernen historisch-politischen Literatur diese fatale Echokammer ausgeleuchtet und gezeigt, warum „Kulturpessimismus“ eine „politische Gefahr“ darstellt, und zwar jenseits realer Bedrohungen und Herausforderungen, die in seinem Untersuchungszeitraum kaum minder bedrückend waren als heute. Kulturpessimismus, so Stern, begünstige „das Eindringen wesensmäßig unpolitischer Ressentiments in die Politik“, konkret am historischen Beispiel: das Eindringen des Ressentiments „gegen die Unzulänglichkeiten ‚westlicher‘ Ideale und Institutionen, woraus der Demokratie in Deutschland großer Schaden erwuchs“ (Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, 1961, S. 4/5).
Stern dekliniert das exemplarisch an drei Starpropheten zwischen Kaiserreich und nationalsozialistischem Staat durch: Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck (der übrigens die Figur des „dritten Reiches“ publikumswirksam aufbereitete). Die Buchhandelserfolge dieser Schicksalsprediger waren immens und wurden nur von einem noch übertroffen – Oswald Spenglers 1918/23 erschienener „Morphologie der Weltgeschichte“ mit ihrem so unwiderstehlichen Haupttitel Der Untergang des Abendlandes. Einen Hintergrund für den Erfolg der Geschichtsprognosen Spenglers und Moeller van den Brucks bildete die reale Katastrophe des Ersten Weltkriegs, doch bereits vor dieser gehörte die prophezeite Katastrophe zum pessimistischen Betriebskapital derartiger Autoren und (mit welcher, meist wenig konsistenten Interpretation auch immer) zu den unverzichtbaren Ingredienzien des Postulats einer sich angeblich vollziehenden Geschichte, in der die „Freiheit“ des Individuums bestenfalls darin bestehen kann, sich „freiwillig“ den „großen Bewegungen“ unterzuordnen.
Geschichts- oder Kulturpessimismus führt letzten Endes zur Selbstaufgabe des Individuums, weil er Handlungs- und Entscheidungsfreiheit in Abrede stellt. Er fördert ein düsteres Brüten in Unzufriedenheit und Ressentiments und befeuert Verschwörungsmythen: „Schuld“ sind immer andere oder anderes, verborgene Strippenzieher oder materialistische Gesetzmäßigkeiten (etwa diejenigen des „Kapitals“), gegen die „man“ jedenfalls machtlos ist.
Das vermeintlich Unausweichliche Als Antidot gegen die toxische Wirkung eines solchen Pessimismus empfiehlt es sich, einen Blick in das mit dem diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Werk Die Achse der Autokraten der Historikerin und Publizistin Anne Applebaum zu werfen. Ihr Thema ist die globale Bedrohung der Freiheit durch Autokraten, und das Buch trägt die Widmung „Für die Optimisten“. Darin verdichtet sich die zentrale Einsicht eines nicht ressentimentgeladenen Nachdenkens (die auch Fritz Stern schon leitete), dass der Untergang nur dann wirklich unausweichlich ist, wenn im Gefolge des um sich greifenden Pessimismus die kritische Widerstandskraft der demokratischen Zivilgesellschaften bricht. Die „Optimisten“ sind aufgefordert, sich gegen den Fatalismus zu behaupten: „Nichts ist festgelegt, wir können Geschichte jeden Tag ändern. Es gibt keine Regel, die besagt, dass die Demokratie untergehen oder die Autokratie aufsteigen muss“ (Anne Applebaum in einem Interview, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Oktober 2024).
Aus der Geschichte lässt sich lernen. Diese Lehre gehört gewiss zu den zentralen: Der Pessimismus – die sprichwörtliche „Weltuntergangsstimmung“ – ist der Nährboden aller Bußprediger, Agitatoren, Populisten. Aus ihm erst generieren sie ihr Drohpotenzial: „Wenn nicht … – dann!“ Der Geschäftspartner des Pessimismus ist der Determinismus: Wenn nicht sofort radikale „Umkehr“ erfolgt, droht unweigerlich das Ende. Dann wird sich wahlweise „Gottes Zorn“ erfüllen oder ein „Schicksal“ oder eine apokalyptische Katastrophe, deren Menetekel die Pessimisten schon berufsmäßig an der Wand lesen. Die vermeintliche Unausweichlichkeit eines Ja oder Nein ist stets die Voraussetzung für radikale „Lösungen“. Hier gibt es kein trial and error, keinen Widerspruch, und wer sich dem Unausweichlichen widersetzt, muss selbst weichen.
Der Pessimismus im Bunde mit dem Determinismus leugnet die Kontingenz menschlichen Handelns in der Welt, jenes Grundaxiom der Vita activa (Hannah Arendt), dass Menschen die Folgen ihres Handelns niemals vorausplanend im Griff behalten können, weder im Guten noch im Schlechten – und dass sie andererseits aber jederzeit in der Lage sind, in Anbetracht der Folgen neu zu handeln, neu zu beginnen. Unter der Drohung der atomaren Hochrüstung mochte das bereits zu Hannah Arendts Zeiten vielen als naiv erscheinen, jedoch bestand die Lösung, die hier nun tatsächlich absehbare Untergangskonsequenz potenziellen menschlichen Handelns zu vermeiden, ja gleichfalls nicht in der Unterwerfung im Sinne eines pessimistischen Determinismus, sondern in zähem, vernünftigem Verhandeln unter der klaren und sehr nachvollziehbaren Ansage, dass die Untergangskonsequenz alle beträfe, nicht nur eine Seite. Irgendwann zeichnete sich selbst unter den ungünstigen Bedingungen der Blockkonfrontation ein Neuanfang ab, behielt der Pessimismus nicht recht. Freilich lehrt diese Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass politisches Handeln unter den Vorzeichen des Optimismus nicht naiv sein darf („es wird schon alles gut werden“), sondern stark und in der Lage sein muss, seine Maxime der Freiheit zu verteidigen. Ein in dieser Hinsicht nicht werteverhafteter Optimismus wäre so leer, wie der Pessimismus blind ist.
Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts
Handeln unter nicht deterministisch-pessimistischen Vorzeichen ist ein politisches Nahhandeln, das mögliche mittel- und langfristige Konsequenzen kalkuliert, andererseits jedoch von monokausalen Verabsolutierungen absieht und nicht mit drohendem Zeigefinger einen einzig möglichen Heilsweg propagiert. Wirklich politisches Handeln kann im Grunde nur ein „Stückwerkhandeln“ (Karl Popper) sein, das Irrtum, Korrektur und Neuansatz impliziert und, anders als der Determinismus, mögliche Optionen (nicht nur die Konsequenz des Untergangs) im Blick behält. Die Grunddisposition für solches Handeln bildet vertrauensvoller Optimismus, der in der Überzeugung gründet, das verantwortungsvolle Handeln jeder Generation werde aufbauend auf demjenigen der vorangehenden richtige und zukunftsweisende Lösungen für die jeweils anstehenden Probleme bringen. Es ist ein zielgerichtetes, jedoch gleichzeitig kontingenzbewusstes Handeln, das sich der Debatte stellt und insofern Pluralismus voraussetzt. Darin unterscheidet es sich fundamental nicht nur vom deterministischen Pessimismus, sondern übrigens auch von einem deterministischen Utopismus (der seinerseits wie „Optimismus“ aussehen könnte, freilich nur ein anders gewandeter Pessimismus ist, da die Alternative zum einzig möglichen Heilsweg in eine „klassenlose“ oder anders utopische Gesellschaft ja wiederum nur der Untergang sein kann).
Die Norm des vertrauensvollen Optimismus ist die Freiheit des Individuums; freilich nicht libertäres Laissez-faire, sondern Freiheit in sozialer Verantwortung. Das Individuum steht nicht für sich allein in der Welt, sondern stets in Bezug auf den jeweils Nächsten. Jenseits unmittelbarer Erfahrung lässt sich diese Einsicht philosophisch-anthropologisch (wie bei Hannah Arendt) oder auch religiös (wie in christlicher oder jüdischer Sozialethik) herleiten.
Die optimistische Idee des freien und verantwortungsvollen politischen Handelns sei aber doch – ließe sich pessimistisch einwenden – gerade im 20. Jahrhundert einigermaßen belastet worden, und gegenwärtig sieht es so aus, als werde sie wieder an ihre Grenzen geführt, herausgefordert von autoritären Strömungen, die – so verkünden sie zumindest lautstark – die großen Probleme der Zeit „besser“ bewältigen könnten als die westlichen Demokratien, herausgefordert aber auch von dem Prozess des Klimawandels, dessen Beherrschung man nicht (wie manche meinen) dem demokratischen Diskurs überlassen könne. Freilich zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass die Katastrophen des 20. Jahrhunderts gerade nicht das Ergebnis des vertrauensvollen politischen Optimismus im Sinne Hannah Arendts und Karl Poppers gewesen sind, sondern Resultate jenes Determinismus – ob nun pessimistisch oder heilsutopisch –, der sich die Ressentiments des Kulturpessimismus zunutze machte.
Die Basis für einen reflektierten Optimismus
Nicht von ungefähr galt eine der Diagnosefiguren der unmittelbar auf die „deutsche Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) von 1945 folgenden Debatte der Bekämpfung des „Nihilismus“, womit die Normvergessenheit des Pessimismus gemeint war. Die Forderung bestand demgegenüber in einer Rückbesinnung auf eine soziale Norm des Humanen als einzig möglicher Grundlage einer verantwortungsvoll optimistischen Politik. Ob diese Norm nun aus einer Wiederbelebung goethisch-humanistischer Ideale (Meinecke), aus kantianisch inspirierter Ethik und Rechtslehre (Julius Ebbinghaus), aus einer transzendentalen Existenzphilosophie (Karl Jaspers) oder aus einer fundamentalen Rückbesinnung auf das Christentum entspringen sollte, wurde leidenschaftlich diskutiert. Das politische Konzept einer überkonfessionellen christlichen Demokratie hat sich nicht zuletzt aus diesen Debatten heraus entwickelt und für lange Zeit als tragfähig erwiesen, optimistisches, zukunftsorientiertes Handeln auf normativer reflektierter Basis der Freiheit zu garantieren. Das „christliche Menschenbild“ ist sicher nicht der einzig mögliche Anker solcher Politik; ohne eine derartige normative Verankerung würde freilich dem deterministischen Pessimismus mit seinen Ressentiments das Feld überlassen werden, auf dem dann (wieder einmal) nur „Freund“ und „Feind“ existierten.
Gerade in den gegenwärtigen Kontexten ist es deshalb umso wichtiger, vielleicht sogar entscheidend, die historische Erfahrung zu mobilisieren. Deren Fingerzeig ist eindeutig: Die einfachen, aber umso „endgültigeren“ Rezepte der Deterministen mit ihren manichäischen Weltbildern stellen niemals eine Alternative zu einem normativ verantwortlichen, optimistisch gegründeten politischen Handeln dar, das seinerseits auf einen utopistischen Fortschrittswahn verzichten kann, weil ihm bewusst ist, dass menschliches Handeln auf humane Weise weder sofortige noch endgültige Lösungen gewährleisten kann. Es kann jedoch durch beharrliches, nicht nachlassendes Bemühen Teilziele erreichen und mit dieser Überzeugung (= Optimismus) immer wieder korrigierend und nachsteuernd von Neuem beginnen.
Neu beginnen können und dürfen: Das gehört zur conditio der Freiheit. Eine Welt der definitiven und totalen, totalitären Lösung – zynisch: der „Endlösung“ – möchte man sich dagegen nicht vorstellen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hält reiches Anschauungsmaterial dafür bereit. Es wäre eine Welt in Ketten, ohne Optionen und Alternativen, ohne Handeln, ohne Politik, ohne Vita activa, und deshalb eine menschenunwürdige Welt. In Pessimismus zu versinken, hieße, die Möglichkeit einer menschengerechten Welt aufzugeben.
Thomas Brechenmacher, geboren 1964 in Immenstadt, Historiker, Professor für Neuere Geschichte (deutsch-jüdische Geschichte), Universität Potsdam.