Am 26. Dezember 2023 verstarb Wolfgang Schäuble. Posthum sind nun seine Erinnerungen erschienen. In ihnen spiegelt sich eindrücklich die bundesdeutsche Geschichte seit 1949 wider. Neben Rainer Barzel, der ihm als jungem Abgeordneten den Rat mit auf den Weg gab: „Reden können sie alle […]. Was Sie hier lernen können und müssen, ist Zuhören“ (S. 79), ist Schäuble der bedeutendste CDU-Bundespolitiker ohne Kanzlerwürden. Beide stiegen früh auf, waren Partei- und Fraktionsvorsitzende und gelangten nach Rückschlägen in das Amt des Bundestagspräsidenten. Ihren Karrieren haftet jedoch auch etwas Tragisches – bei Barzel familiäre Schicksalsschläge, bei Schäuble das Attentat vom 12. Oktober 1990 – und etwas Unvollendetes an.
Wolfgang Schäuble gehörte 52 Jahre lang dem Deutschen Bundestag an. Erstmals direkt gewählt wurde er ausgerechnet bei der „Willy-Wahl“ im Jahr 1972, die für Barzel und die CDU eine schmerzliche Niederlage bedeutete. Der Machtverlust von 1972 war kein „Betriebsunfall“, es galt, die Oppositionsrolle beherzt anzunehmen. Schäuble empfand die Oppositionszeit, anders als es der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering bezeichnet hat, nicht nur als „Mist“, denn „[d]ie Lehrjahre in der Opposition waren hilfreich, um sich das Handwerk des Parlamentarismus anzueignen und sich auszuprobieren. In der Opposition wird nicht jeder Fehler sofort bestraft, weil man letztlich selten direkte Ergebnisse erzielen kann“ (S. 80).
Seelentröstung als Aufgabe des Kanzleramtschefs
Schäuble erinnert an die zentrale Rolle Helmut Kohls, seit 1973 CDU-Bundesvorsitzender, als damaliger innerparteilicher Modernisierer und treibende Kraft des Programmprozesses. Die Oppositionszeit ist laut Schäuble der richtige Zeitpunkt für die Programmarbeit: „Sie ermöglicht Orientierung und setzt intellektuelle Energien frei, sie sorgt für Integration, und sie hält die Leute beschäftigt. Dass an eine praktische Umsetzung des Parteiprogramms erst einmal nicht zu denken ist, fällt nicht so sehr ins Gewicht“ (S. 96).
Mit Blick auf die spätere Entfremdung zwischen Kohl und ihm ist Schäuble erkennbar um Zurückhaltung bemüht, hebt Kohls politische Erfolge und seine eigene, zunehmend zentrale Rolle im „System Kohl“ (S. 166) hervor. Anschaulich beschreibt er die schwierige Frühphase der christlich-liberalen Koalition nach der „Wende 1982“, die kritische Betrachtung durch Teile der Medien und die harte Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss, an dem die neue Bundesregierung trotz der Massendemonstrationen festhielt, denn „wir waren uns unserer Sache sicher“ (S. 131). Allerdings brauchte es dafür, so Schäuble, „Kraft und die nötige Standfestigkeit. Kohl bewies sie 1983. Deswegen halte ich die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses noch immer für seine womöglich größte politische Leistung“ (S. 131). Auch die Krisen und Affären der 1980er-Jahre – Schäuble fungierte 1984 bis 1989 als Chef des Bundeskanzleramtes – finden Erwähnung, von der Flick- bis zur Kießling-Affäre. Deutlich wird der jahrelang schwelende Machtkampf zwischen Kohl und Heiner Geißler. Nach dem plötzlichen Tod von Franz Josef Strauß war die Machttektonik innerhalb der Regierung und der Unionsparteien neu auszutarieren und eine Kabinettsumbildung unumgänglich. Bei dem Revirement musste der altgediente Gerhard Stoltenberg den Finanzministerposten für den neuen CSU-Vorsitzenden Theo Waigel räumen, ins Verteidigungsministerium wechseln und der erst kurz zuvor berufene Rupert Scholz die Hardthöhe wieder verlassen. Anhand der Gespräche Kohls mit Stoltenberg und Scholz erläutert Schäuble: „Menschen unangenehme Botschaften zu überbringen, war nicht Kohls Stärke. Das bewies er auch, als er Rupert Scholz, dem er kurz zuvor noch demonstrativ den Rücken gestärkt hatte, seine Abberufung mitteilte. Das Gespräch war kurz, Scholz fiel aus allen Wolken, und als er danach in meinem Büro saß, musste ich schwere Aufbauarbeit leisten. Offenbar gehörte auch Seelentröstung für Kabinettsmitglieder zur Aufgabenbeschreibung des Kanzleramtschefs“ (S. 165).
Geißler hat sich „verkalkuliert“
Im Rahmen der Kabinettsumbildung wollte Kohl Geißler zum neuen Innenminister machen, denn Eduard Zimmermann (CSU) musste im Gegenzug für die Überlassung des Finanzministeriums an Waigel das Amt abgeben.
Doch der Versuch, Geißler erneut in die Kabinettsdisziplin einzubinden, scheiterte: einmal an der CSU, die den zunehmend als progressiv geltenden Geißler nicht in der Nachfolge eines CSU-Ministers im besonders wichtigen Innenressort sehen wollte. Zum anderen bekundete auch Geißler sein Desinteresse an einem erneuten Ministerposten. Das Innenministerium übernahm nun Schäuble.
Der Bremer Parteitag im September 1989 zeigte nach Ansicht Schäubles schließlich, wie stark Geißler sich „verkalkuliert“ (S. 167) hatte. Kohl schlug ihn nicht mehr als Generalsekretär der CDU vor, der sogenannte Putschversuch, mit dem Ziel, Kohl als Parteivorsitzenden zu stürzen, scheiterte kläglich, und ein Amt in der Exekutive lag nun außer Reichweite. Schäuble hatte Geißler nach eigener Aussage bereits frühzeitig mitgeteilt, „dass ich keinesfalls zur Verfügung stünde, wenn es um eine Ablösung Kohls ginge“ (S. 167). An dieser Stelle – ebenso wie auch später beim medial schon breit kommentierten Herantreten Edmund Stoibers an ihn in der Flüchtlingskrise 2015/16 hinsichtlich einer möglichen Ablösung Angela Merkels – ist es Schäuble wichtig, seine Loyalität hervorzuheben. Einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu verfassen, wie Angela Merkel es 1999 zur öffentlichen Distanzierung von Helmut Kohl tat („Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 298, 22. Dezember 1999, S. 2), war seine Sache nicht. Das Motiv des zuvörderst an der Sache interessierten, loyalen Staatsdieners zieht sich durch seine Erinnerungen.
Politischer Triumph und persönlicher Tiefpunkt
Nur „[n]eun Tage“ – so überschreibt der Verfasser das Kapitel 5 – lagen zwischen seinem größten politischen Triumph, der Erlangung der Deutschen Einheit, zu der er mit der Aushandlung des Einigungsvertrags einen zentralen Beitrag geleistet hatte, und dem persönlichen Tiefpunkt, dem auf ihn verübten Attentat am 12. Oktober 1990, das er nur knapp überlebte und das ihn fortan in den Rollstuhl zwang. Mit Blick auf die Wiedervereinigung betont Schäuble, dass es ein begrenztes Zeitfenster gab, solange in der Sowjetunion Michail Gorbatschow und die Reformer das Sagen hatten. Das müsse bei aller Kritik an einzelnen Maßnahmen berücksichtigt werden. Zudem entsprach dieses Vorgehen dem Wunsch der Mehrheit der Ostdeutschen, die mit den Füßen abstimmten und ihre Heimat in Scharen verließen: „Die Menschen in der DDR wollten die schnelle Einheit, und wir haben im Westen auf diesen Willen der übergroßen Mehrheit reagiert, in einem Balanceakt maßvoll gestaltend“ (S. 279).
Bonn oder Berlin?
Das Attentat auf ihn bezeichnet Schäuble schlicht als „Unglück“ (S. 281) und wegen der psychischen Erkrankung des Täters als „Unfall“ (S. 282). Das Einschneidende des Ereignisses für ihn und seine Familie wird offen thematisiert. Die Rückkehr in die Politik bedeutete für ihn ein Stück Lebensinhalt, das er bei allen körperlichen Einschränkungen nicht auch noch aufgeben wollte.
Kurz nach seiner Rückkehr in die Politik hielt Schäuble seine bekannteste Rede, als es um die Frage des künftigen Parlaments- und Regierungssitzes in Bonn oder Berlin ging. Die Rede hob auf die deutsche Geschichte mit der Bedeutung Berlins ab und wurde als ausschlaggebend angesehen. Es bleibt trotzdem erstaunlich, dass der Baden-Württemberger Schäuble so wenig Verständnis für die Positionen der Bonn-Befürworter aufbrachte: „Als im Laufe des Jahres 1990 der Zuspruch für Bonn wuchs, überraschte mich das wirklich“ (S. 296).
Die Jahre 1998 bis 2000 markierten Höhe- und Tiefpunkt in Schäubles politischer Karriere. Nach dem Machtverlust der Union bei der Bundestagswahl 1998 übernahm er neben dem Fraktions- auch den Parteivorsitz der CDU. Schäuble geriet aber zunehmend in den Strudel der Spendenaffäre, in deren Fokus seit November 1999 Altkanzler Kohl stand. Neue Erkenntnisse liefert Schäuble hierzu nicht; geschildert werden vor allem seine persönliche Wahrnehmung und die Folgen der Affäre. Schäubles Schilderung lässt seine Enttäuschung über das schnelle Ende im Parteivorsitz durchscheinen, denn nach der Wahlniederlage hatte sich die CDU überraschend schnell gefangen und war 1999 bei Landtagswahlen und der Europawahl von Erfolg zu Erfolg geeilt.
Am 16. Februar 2000 trat Schäuble vom Fraktionsvorsitz zurück und kündigte an, nicht wieder für den Parteivorsitz zu kandidieren. Er beschreibt diesen Schritt als „einen Fall ins Ungewisse, keine Befreiung. Mit 57 Jahren hatte ich keinen konkreten Plan für ein Leben jenseits der Politik. Mein Ruf war erst einmal beschädigt“ (S. 360). Immerhin blieb er „einfacher“ Abgeordneter und wurde erneut ins Präsidium der CDU gewählt.
Angela Merkel – Lob und kritische Untertöne
Als die Unionsparteien 2005 die vorgezogene Bundestagswahl knapp gewannen und Angela Merkel an der Spitze einer Großen Koalition zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, waren Schäubles Sachkompetenz und Regierungserfahrung wieder gefragt. Er übernahm erneut das Amt des Bundesinnenministers, ab 2009 das des Bundesfinanzministers. Über Angela Merkel äußert sich Schäuble positiv, zugleich reklamiert er einen Beitrag zu ihrer Karriere für sich, weil er sie 1998 zur CDU-Generalsekretärin berief: „Vermutlich hatte ich damit die beste (und wie sich im Nachhinein herausstellen sollte: folgenreichste) Entscheidung meiner Amtszeit getroffen. Ich sollte sie zu keinem Zeitpunkt bereuen. Angela Merkel war ein Glücksfall“ (S. 363).
In Einzelfragen erlaubt er sich auch kritische Untertöne, etwa zu Defiziten in der Personalrekrutierung und im Führungsstil sowie zu den negativen Folgen des Konzepts der asymmetrischen Demobilisierung, die neben einer sinkenden Wahlbeteiligung darin bestand, „dass das Aufkommen einer Partei am rechten Rand für die strategische Position der Union als eher förderlich hingenommen wurde. Angesichts der heute erreichten Stärke der ‚Alternative für Deutschland‘ […] erwies sich diese Strategie langfristig als fatal. Ich bleibe daher davon überzeugt, dass politische Führung auch über Inhalte, die gesellschaftlich kontrovers sind und der Bevölkerung etwas zumuten, erfolgreich sein kann – wenn sie ihr Handeln plausibel erklärt“ (S. 402).
Deutliche Kritik übt er an der „Hybris der FDP“ (S. 402), die im Wahlkampf 2009 unrealistische Wahlversprechen besonders in der Steuerpolitik machte und damit später das gemeinsame Regieren erschwerte. Für Schäuble zeigte der Niedergang der Freien Demokraten bis 2013, „[d]ass die Aufmerksamkeit nicht allein darauf gerichtet sein sollte, wie Wahlen zu gewinnen sind, sondern wie danach noch glaubwürdig regiert werden kann. Unhaltbare Wahlversprechen sind Gift“ (S. 452).
Inhaltliche Streitpunkte zwischen Merkel und Schäuble in den 2010er-Jahren waren der Umgang mit Griechenland in der Eurokrise sowie das Agieren in der Flüchtlingskrise, was spannend erzählt wird. Immer wieder taucht im Buch der typische trockene Humor Schäubles auf, so etwa im Kapitel über den griechischen Kurzzeit-Finanzminister und das ‚enfant terrible‘ der europäischen Politik, Yanis Varoufakis. Schäuble charakterisiert ihn als einen „Ökonom[en] mit einer gewissen Expertise im Bereich der Spieltheorie […], die politischen Spielregeln verstand er allerdings nicht – oder er ignorierte sie bewusst“ (S. 525 f.).
Unser „München-Moment“
In einem kurzen, nachdenklichen Abschlusskapitel beschäftigt Schäuble die Fehleinschätzung – seine persönliche und die der deutschen Außenpolitik insgesamt – Russlands unter Wladimir Putin. Die deutsche Außenpolitik sei der Überzeugung geschuldet gewesen, durch Kooperation zu einer festen Partnerschaft mit Russland zu gelangen. Mittlerweile habe sich gezeigt, „dass wir mit dieser Einschätzung grundfalsch lagen“ (S. 614). Die Ereignisse sieht er in Anlehnung an 1938 als „unseren ‚München-Moment‘“ (S. 614).
Besorgt zeigt er sich auch mit Blick auf die Entwicklung der Europäischen Union. Hatte er Anfang der 1990er-Jahre gemeinsam mit Karl Lamers noch kühne Thesen zur Weiterentwicklung Europas präsentiert, so geht es ihm nun um vorsichtigere Reformschritte, auch wenn er prinzipiell an den Vorstellungen zu einem Kerneuropa festhält, gerade wenn sich die Europäische Union um die Staaten des Westbalkans erweitern sollte. „Die Bindekräfte der Nationen sind stark“ (S. 615), stellt Schäuble gleichwohl fest. Reformen lassen sich auf europäischer Ebene nur noch schwer durchsetzen. Auch im Innern gelte es, Freiheit und Demokratie zu leben und bewahren, denn es herrschten „disruptive Zeiten“ (S. 618).
Dennoch blieb Wolfgang Schäuble als christlicher Demokrat und als Anhänger von Karl Popper Optimist: „[…] im Prozess von ‚trial and error‘ doch immer wieder den Weg zu neuen Lösungen zu finden – deshalb sind Krisen tatsächlich immer auch Chancen. Wir haben allen Grund zur Zuversicht, das gilt heute genauso wie vor fünfzig Jahren“ (S. 622).
Mit seinem persönlichen Rückblick auf 75 Jahre Bundesrepublik hinterlässt Schäuble zugleich das gut lesbare Vermächtnis seiner politischen Handlungen und Überzeugungen.
Philip Rosin, geboren 1980 in Bonn, promovierter Historiker, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Referent Zeitgeschichte, Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.