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Bürgerbeteiligung benötigt einen veritablen Richtungswechsel

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Richard von Weizsäcker konnte immer einmal wieder „in heiligem Zorn“ sprechen. So, als er davor warnte, dass sich die Parteien den Staat „nicht zur Beute“ machen dürften. Einerseits dürfte er das angesichts der strukturellen und auf vielfachen Verantwortungssäulen gegründeten Stabilität unserer Demokratie nicht wirklich befürchtet haben. Andererseits bewegte ihn aber offenbar die Neigung der Parteien, erst einmal sich selbst und den Erfolg der eigenen Partei im Blick zu haben und erst dann das Gelingen des Staates, obwohl es doch in der Politik um dessen Wohl gehen müsse.

Nicht im Blick hatte Richard von Weizsäcker bei seiner Philippika, dass solche Selbstsucht am Ende Selbstbeschädigung ist: Es ist ein geradezu tödlicher Fehler der Parteien, die berechtigte Erwartung der Bürger, das politische Geschäft kümmere sich zuallererst um sie und das Wohl der Gemeinschaft, zu enttäuschen; eine solche Desillusionierung kann schon allein der Anschein hervorrufen, es gehe den Parteien vor allem um sich selbst.

In Berlin hatte das weder die SPD noch die CDU im Auge, als dort beide um den Rang konkurrierten, „Berlin-Partei“ zu sein. Beide Parteien erwarteten sich von diesem Etikett die Bestätigung ihrer führenden Positionen durch die Berlinerinnen und Berliner und schließlich durch das Wahlvolk. Dass es dabei nicht nur um den ersten Platz auf dem Podest ging, sondern dass so auch eine Art Vereinnahmung impliziert wurde, ist bis heute nicht wirklich bedacht worden. Die „Berlin-Partei“ war gegenüber den Menschen in Berlin ein Titel, der so etwas wie einen Eigentumsanspruch vermittelte. Nicht nur die in der Wahlentscheidung legitimierten „Besten“, sondern auch die „Eigentlichen“ – dies schien gar nicht so sehr abhängig von dem zu sein, was die Berlinerinnen und Berliner selbst dazu sagen würden.

 

„Wahre Berliner“ sind nur die Bürger selbst

Das vielleicht überraschendste Wahlergebnis in Berlin-West im Schicksalsjahr 1989, als eine nach allen Umfragen absolut siegessichere CDU verlor und die SPD, auf die niemand gesetzt hatte, an die Macht kam, ist aus heutiger Sicht eine Bestätigung dieser Analyse. Die damalige Berlin-Partei-Attitüde der CDU vermittelte den Wählerinnen und Wählern letztlich auch, dass sie gar keine besondere Entscheidung treffen müssten, da die CDU ja ohnehin und schon vor dem Wählervotum als die richtige Partei für Berlin definiert sei.

Diese kommunizierte Selbstverständlichkeit wollten die Wählerinnen und Wähler offenbar nicht mittragen. Ihr Votum bei der Wahlentscheidung (für die SPD) machte klar, dass sie sich ausschließlich selbst als die wahren Berliner empfanden, die niemandem das Recht gaben und geben wollten, ungefragt als „ihre“ Partei, eben als die Berlin-Partei, aufzutreten.

Eigentlich hätte die CDU gewarnt sein müssen. Denn in der Vergangenheit war es vor allem die SPD, die sich wie die „ewige Partei Berlins“ gab. Das hat sie übrigens bis heute nicht abgelegt. Im anstehenden Wahlkampf klingt der Anspruch durch, man könne sich (auch bei abnehmenden Umfragezahlen) die Parteien aussuchen, mit denen man die nächste Regierung bildet. Da könnte der Wähler – wieder einmal – ins Grübeln kommen …

Dies war Anfang der 1980er-Jahre einer der Gründe dafür, dass zum ersten Mal die CDU die Regierung in Berlin bilden konnte. Mit einem neuen, frischen und optimistischen Blick auf die Themen der Stadt, auf ihre Besonderheiten, auf ihre besonderen Potenziale. Und mit der Botschaft, dass man entschlossen sei, damit im Interesse der Bürgerinnen und Bürger etwas aufbauen zu wollen.

Inzwischen hat diese Frage der Positionierung der Parteien in der demokratischen Ordnung eine noch viel größere Brisanz. Nicht nur, weil das Vertrauen in die schon sprichwörtlich „etablierten Parteien“ inzwischen nicht gerade größer geworden ist. Es hat sich vielmehr insgesamt das Verhältnis zwischen der aktiven Politik und den Bürgern verschoben.

Die repräsentative Demokratie wird als Ganzes – noch? – nicht infrage gestellt. Die festgelegte Rollenverteilung wird aber inzwischen immer weniger gelebt: Die Rolle der Politiker, im Auftrag der Bürger die öffentlichen Dinge zu verantworten und zu lenken, und die Rolle der Bürger, von Wahl zu Wahl sich für die von ihnen bevorzugten Politiker und Parteien zu entscheiden, sind weit weniger selbstverständlich, als sie es zu Beginn waren.

 

Sinkende Wahlbeteiligung und „Wut-Wahlen“

Die steigende Wertschätzung direkter Bürgerentscheide, Formen direkter Demokratie also, ist dafür ebenso ein Zeichen wie die im Schnitt weiter sinkende Wahlbeteiligung. Besonders zerstörerisch wirkt die abnehmende Achtung, die die Bürgerinnen und Bürger Politik und Politikern entgegenbringen, abnehmende Achtung vor ihnen persönlich, aber auch gegenüber ihren Entscheidungen.

Das äußert sich besonders gefährlich in „Wut-Wahlen“. Indem Wähler Parteien ihre Stimme geben, die letztlich nichts anderes zustande gebracht haben, als in ihren Programmen dieselbe Missachtung und Ablehnung gegenüber den „Etablierten“ auszudrücken, äußern sie ihre Unzufriedenheit. Das sind Wahlentscheidungen, die (die bisher Regierenden) abstrafen, anstatt (den künftig Regierenden) Vertrauen zu erklären.

Wer so wählt, dem geht es weniger darum, dass er den von ihm Gewählten wirklich sein Schicksal anvertrauen will. Deshalb verschwinden auch die meisten dieser Parteien mehr oder weniger (oftmals unmittelbar nach der erfolgten Wahl) wieder, ohne dass das ihren Wählern besonders wehzutun scheint. Sie wollten sich mit ihrer Wahlentscheidung eher ausklinken aus dem demokratischen System der Auswahl von Verantwortlichen.

 

Veritabler Richtungswechsel

Es gibt jedoch nicht nur diese ablehnende Tendenz, die unsere repräsentative Demokratie zu einer neuen Entwicklungsphase zwingt. Es gibt auch Strömungen von der „anderen“, der positiven Seite her. Eine für die Gemeinschaft, für das Gemeinwohl grundsätzlich konstruktive Tendenz wird immer stärker – und diese ist noch sehr viel wichtiger als die geschilderte ablehnende Position. Bürger wollen zunehmend selbst mitwirken, wollen die öffentlichen Dinge nicht mehr allein den Politikern überlassen. Sie wollen, statt „nur“ zu wählen, Akteure im Politischen werden, und zwar ohne dazu den Weg der Parteimitgliedschaft zu gehen.

Das wird hier in der Unterscheidung zu den Wut-Wählern deshalb eine konstruktive Tendenz genannt, weil von diesen Bürgern die gemeinschaftlichen Themen ernst genommen werden. Das ist keine Resignation, das ist sogar eher Entschiedenheit: sich nicht nur um das Eigene, sein Privates zu kümmern, sondern auch um die Gesellschaft, die gemeinsame Zukunft. Dass da eigene Sichtweisen und eigene Interessen eine Rolle spielen, ist weder zu verleugnen noch zu kritisieren. Ein solches subjektives Element hat bereits in der Vergangenheit – allerdings im Akt der Wahlentscheidung – eine Rolle gespielt und nicht in der Alltäglichkeit der operativen demokratischen Praxis. Bürger sind selbstbewusster geworden, haben mehr Zeit und größere Ansprüche. Sie füllen ihre Rolle als Bürger aktiver aus als in der Vergangenheit. Sie handeln im Bewusstsein, dass das Gemeinwesen letztlich ihr eigenes ist und sie sich deshalb auch um seine Entwicklung kümmern wollen und nicht darauf vertrauen, dass andere es schon in der besten Weise richten werden. Solche Tendenzen sind schlussendlich vor allem eine Chance zur Kräftigung, auch zur Kompetenzerweiterung unserer demokratischen Ordnung. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass ein bloßes „Die-Sache-selbst-in-die-Hand-Nehmen“ aus guten Gründen mit unserer (sehr richtigen) Entscheidung für die repräsentative Demokratie nicht vereinbar ist.

 

Das Repräsentativ-Demokratische stärken

Es bleibt folglich nichts anderes übrig, als darüber nachzudenken, wie diese neue bürgerschaftliche Entwicklung einen Platz finden kann – in einer Weise, die das System der repräsentativen Demokratie nicht schädigt oder gar infrage stellt. Ja, es muss sogar um Formate gehen, die letztlich das Repräsentativ-Demokratische stärken und zukunftsfähig machen. Es geht um einen veritablen Richtungswechsel. Bisher haben sich die Parteien angewöhnt, immer schon selbst zu wissen, was für das Gemeinwesen das Richtige ist. Sie haben dies in ihren Sitzungen beraten, dabei Kompromisse gefunden und Beschlüsse verabschiedet. Und dann haben sie sich darum bemüht, für ihre Meinung möglichst viele Anhänger zu mobilisieren. Bürger sind in diesem System diejenigen, die man „gewinnen“ muss. Wenn sie sich zu Wort melden, ist man zwar gut beraten, ihnen entgegenzukommen; aber am reibungslosesten scheint es zu laufen, wenn man außerhalb des Wahlkampfs von ihnen, ihren Meinungen und Erkenntnissen in Ruhe gelassen wird. Man hat schon genug zu diskutieren innerhalb der eigenen Reihen. Das operative Geschäft der Demokratie scheint aus dieser Perspektive der Gewohnheit doch letztlich das der Politiker und ihrer Parteien zu sein.

Da muss man sich nicht wundern, wenn von den Bürgerinnen und Bürgern dann auch dieses Geschäft nicht als das ihre erlebt und empfunden wird. Vor allem dürfen sich die Parteien nicht wundern, wenn die in solcher Arbeit erzielten Ergebnisse durchaus nicht immer den Meinungen der Bürger entsprechen – wichtiger noch: ihrem Wissen und ihren Erfahrungen. Eigentlich sind es doch die respektablen und zu respektierenden Bürger, die es bei diesem Auseinanderklaffen der Positionen – ihrer eigenen und der der Politik – nicht belassen wollen, sondern nach Wegen suchen, das, was sie wissen und für richtig halten, zu vertreten und zur Wirkung zu bringen. Es sind jene, die sich gerade nicht den persönlichen Luxus leisten, einfach nur wütend zu sein und zu protestieren, jene, die sich selbst in der Pflicht sehen.

Das ist der Richtungswechsel, der angezeigt wird: Parteien und Politiker müssen sich solcher Teilnahme ehrlich öffnen. Sie müssen sich für das, was an Erfahrungen und Erkenntnissen in ihrer Gesellschaft vorzufinden ist, interessieren. Sie müssen Wege finden – auch zur Verbesserung der Qualität ihrer Arbeit –, solche Erkenntnisse in ihre Überlegungen einzubeziehen. Sie dürfen sich vor der Kompetenz ihrer Bürger nicht verschließen, sie müssen sie erschließen, auch wenn nicht immer alles Gold ist, was da glänzt. Dieses Phänomen kennen die Politiker in gleicher Weise aus ihren Parteien – auch da muss erst Spreu vom Weizen getrennt werden.

 

Entscheidungen gemeinsam vorbereiten

Wie also? Es geht um gemeinsame Entscheidungsvorbereitung. Wenn Fakten gesammelt, Aspekte zusammengetragen werden, wenn Abwägungen vorzunehmen sind, wenn Konsequenzen bedacht werden müssen, wenn Prioritäten ins Kalkül zu ziehen sind: Überall dort haben Bürgerinnen und Bürger „etwas zu sagen“. Sie haben etwas beizutragen, auch wenn sie nicht „das Sagen haben“.

Denn es sind ihre Lebensverhältnisse, über die nachgedacht wird, für die Verbesserungen angestrebt werden. Es geht um Erfahrungen, die auch sie gemacht haben, um Ziele, mit denen auch sie sich – zustimmend oder ablehnend – beschäftigen, Vergleichsfälle, die sie selbst kennen, Hoffnungen, die sie selbst haben. Das ist der Stoff, aus dem schließlich Entscheidungen entstehen. Dieser Stoff muss möglichst umfassend und möglichst dicht sein. Und er muss möglichst eng an und mit den Menschen entwickelt werden, für deren Interessen, für deren Wohlergehen anschließend die Entscheidungen wirken sollen. Ihnen hat das städtische Management zu dienen, sie sind die, die die Stadt tragen und für die die Stadt gemacht ist und entwickelt werden muss. Ihnen gehört die Stadt und um ihretwillen muss sie regiert werden.

Anders als bei Formen der quantitativen Bürgerbeteiligung zählt hier nicht die Zahl der Köpfe, es zählt ihr Inhalt. Es geht um ein qualitatives Mitwirken. Ein Mitwirken, das auf der Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger fußt. Und um eine Politik, die sich dieser Kompetenz bewusst ist und sie schätzt, die, so aus dem Blickwinkel der Bürgerinnen und Bürger, konstruktiv reagiert auf deren Mitwirkungsbereitschaft, auf deren Mitwirkungsinteresse.

Dies ist eine Vorgehensweise, die für beide Seiten durchaus anstrengender ist als die bloße Abstimmung bei Volksentscheiden. Für die Seite der Bürgerinnen und Bürger, da es um aktives Mitwirken geht, um die Entwicklung von Argumenten und um den Aufwand, den die Auseinandersetzung mit anderen Positionen und Erfahrungen bedeutet. Auf der Seite der Politik bedeutet dieser Prozess Mühe, weil man nicht nur – bestenfalls – die Bürgerinnen und Bürger anzuhören, sondern sie auch in den Prozess der politischen Entscheidungsvorbereitung einzubeziehen hat. Der Aufwand allerdings lohnt sich für beide Seiten: für die Bürgerinnen und Bürger, weil sie mit ihren Erfahrungen und Überlegungen angehört werden, und zwar nicht „irgendwie“, in mehr oder weniger verbindlichen Bürgerversammlungen, sondern dort, wo es „gilt“ – bei der Vorbereitung auf der sie interessierenden Entscheidungen, für die Politik, weil sie sich (vor ihren Entscheidungen) den Bürgerinnen und Bürgern als Partner und nicht (nach ihren Entscheidungen) als Gegner gegenübersieht. Und für beide: weil die Entscheidungen angesichts der Einbeziehung zusätzlicher Kompetenz besser zu werden versprechen.

In Berlin hat die Stiftung Zukunft Berlin gemeinsam mit weiteren Bürgerinnen und Bürgern der Politik vorgeschlagen, nach den kommenden Wahlen gemeinsam zwischen Politik und Gesellschaft über eine Strategie für die Zukunft der Stadt zu beraten. Solch ein Zukunftskonzept hat Berlin bislang weder mit der Politik, geschweige denn gemeinsam mit der Gesellschaft erarbeitet. Der Vorschlag will eine partnerschaftliche Arbeit, in der keine der beiden Seiten den Prozess oder den Inhalt allein bestimmen darf.

Dazu hat die Stiftung nach ausführlichen Vorüberlegungen ein Konzept beschlossen, das den Vorsitzenden der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien vorgetragen wurde. Es ist sehr ermutigend, dass die Chefs sowohl der SPD als auch der CDU, der Grünen sowie der Linken zugesagt haben, diese Arbeit in ihren Parteien mitzutragen. Der Anspruch ist groß und das ganze Unterfangen innovativ. Wenn es aber gelingt, könnte daraus ein großes Zeichen werden, dass in Berlin der geforderte Richtungswechsel versucht wird: mit Wort und Tat die wirklichen Eigentümer der Stadt in den Blick zu nehmen – die Bürgerinnen und Bürger.

 

Volker Hassemer, geboren 1944 in Metz, Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz sowie für kulturelle Angelegenheiten in Berlin a. D., Vorstandsvorsitzender der „Stiftung Zukunft Berlin“.