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Bayerische Heimat und deutsche Hauptstadt

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Eine kleine Stadt in Deutschland, so heißt ein Roman von John le Carré, der einen selten gewählten Schauplatz hat: Bonn. Warum meine Reflexionen über Berlin ausgerechnet mit der früheren Bundeshauptstadt beginnen? Für die Angehörigen meiner Generation, die mit der Teilung unseres Landes aufgewachsen sind, war bis 1989/90 Bonn die unangefochtene Hauptstadt, Berlin dagegen „nur“ das Symbol der Freiheit und des Selbstbestimmungswillens unseres Landes ebenso wie des gesamten freien Westens.

Mein Vater, Franz Josef Strauß, fuhr nach den kostbaren Wochenenden zu Hause nach Bonn, um seine Aufgaben in der Regierung oder als Parlamentarier wahrzunehmen. Bonn war das Zentrum der Macht, auch wenn der Bundespräsident in Berlin gewählt wurde und dort wichtige Staatsakte vorgenommen wurden – stets argwöhnisch beobachtet von den „Sowjets“ und meist hysterisch kommentiert von der DDR-Propaganda.

Für die Politiker der Generation meines Vaters war es indes immer klar, dass Bonn nur ein Provisorium sein durfte. Wenn er von der deutschen Hauptstadt Berlin sprach, waren das keine Lippenbekenntnisse. Es war ein selbstverständlicher Ausdruck seiner Sicht einer historischen Kontinuität, die sich mit der von ihm erwarteten Wiedervereinigung Deutschlands bestätigen würde. Auch Menschen, die vielleicht nicht so stark historisch-politisch dachten, sahen Berlin immer in Wartestellung für die der Metropole zugewiesene Rolle als natürliche deutsche Hauptstadt. So ist das oft verwendete Bonmot, das Autokennzeichen für Bonn, BN, bedeute in Wahrheit „Berlin-Nebenstelle“, bezeichnend für diese Gewissheit.

Je länger Bonn Hauptstadt war, je stärker die sozialdemokratische Ostpolitik vom Ziel des Wandels durch Annäherung wegdriftete und auf eine faktische Anerkennung der deutschen Teilung hinauslief und je schwächer die Hoffnung auf ein Ende der Zweistaatlichkeit wurde, desto stärker wurden die Stimmen, die forderten, Bonn den Charakter des Provisoriums zu nehmen und zu einer „richtigen“ Hauptstadt auszubauen. Mein Vater, sowohl als Parteivorsitzender der CSU als auch als Bayerischer Ministerpräsident, hat dagegen immer schwerste Bedenken erhoben und betont, dass die Entscheidung über den Sitz einer deutschen Regierung nur das deutsche Volk als Ganzes treffen könne.

Deshalb hat er auch stets die Rolle Berlins betont und seinen Teil dazu beigetragen, die Stadt durch den Aufbau von Institutionen und die Ausrichtung von Veranstaltungen an die Bundesrepublik zu binden sowie das Bewusstsein für ihren herausgehobenen Rang unter den deutschen Städten zu wahren.

 

Wie hätte sich mein Vater verhalten?

Franz Josef Strauß hat die Umwälzungen des Jahres 1989 und die Wiedervereinigung des Jahres 1990 nicht mehr erlebt. Deshalb kann niemand zuverlässig sagen, wie er sich in der Hauptstadtfrage schlussendlich positioniert hätte. Wie viele andere auch habe ich die Bundestagsdebatte vom 20. Juni 1991 gebannt verfolgt, in der die epochale Rede von Wolfgang Schäuble eine Entscheidung für den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin vorbereitete. Wie hätte sich mein Vater, der überzeugte Parlamentarier und begnadete Debattenredner, an diesem Tag verhalten? Hätte auch er im Umzug der exekutiven und legislativen Institutionen an die Spree die Vollendung der Überwindung der Spaltung gesehen, sozusagen die letzte Naht an der tiefen Wunde der vierzigjährigen Spaltung? Oder hätte er angesichts der Auseinanderentwicklung der Stadt in diesen vierzig Jahren, die ihm aus zahlreichen Reisen in den Ost- wie den Westteil Berlins nur zu gut bekannt war, der Stadt gegönnt, zusammenzuwachsen, ohne den Fokus der Republik auf sich zu ziehen, ohne die permanenten Wagenkolonnen der Staatsgäste und ohne den starken Zuzug aus anderen Regionen der Republik?

Ohne Zweifel wäre auch in Deutschland denkbar, was in den USA, in Kanada, Australien oder in der Schweiz funktioniert: Washington, Ottawa, Canberra oder Bern sind keineswegs die größten und bedeutendsten Städte ihrer Länder, und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – bewähren sie sich als Hauptstädte. Diese Länder sind wie Deutschland föderalistisch strukturiert, und deshalb wären auch dort Hauptstädte undenkbar, die wie Paris, London oder Rom alles in sich bündeln und gleichsam die ganze Kraft des Landes an sich ziehen.

 

25 Jahre Primus inter Pares

Nun haben aber 25 Jahre Berlin als Hauptstadt und siebzehn Jahre als Regierungssitz bewiesen, dass bei uns die größte Stadt zugleich Hauptstadt und Metropole sein kann. Deutschland zeichnet sich ja nicht allein durch ein starkes föderalistisches System aus, Deutschland ist auch kulturell, wirtschaftlich und emotional zutiefst regional orientiert. Nachdem Deutschland nur 100 Jahre seiner über 1.200-jährigen Geschichte in einem vereinten Staatswesen organisiert gewesen ist, haben sich viele Zentren herausgebildet: München, Hamburg, Frankfurt, Köln, Düsseldorf, Stuttgart, Hannover, Dresden und Leipzig spielen wirtschaftlich, im Geistesleben, in der Forschung, in der Wissenschaft und in der Infrastruktur in einer Liga mit dem Primus inter Pares Berlin. Die bedeutendste Veranstaltung zeitgenössischer Kunst findet im kleinen Kassel statt, die obersten Gerichte tagen in Karlsruhe, Leipzig, München, Kassel und Erfurt, der größte nationale Sender hat seinen Sitz in Mainz. Spitzenforschung wird an Universitäten auch in Kleinstädten wie Göttingen, Regensburg oder Freiburg betrieben. Berlin hat sich in diesem Reigen einen eigenständigen Platz erobert, ohne durch seine Größe oder Dominanz alles zu erdrücken. Es ist heute erste Adresse im globalen Kulturleben, übt eine magische Anziehungskraft auf Start-ups aus, wird zum Kristallisationspunkt der Kreativwirtschaft und zu einem melting pot der Ideen.

Wenn es nach der Wiedervereinigung ein Wunder gegeben hat, dann das: Aus dem Berlin, das unser historisches Gedächtnis als Metapher des preußischen Militarismus, des nationalsozialistischen Terrors und des miefig-bürokratischen DDR-Sozialismus kennt, ist ein Ort geworden, den Menschen in aller Welt mit Freiheit, Entfaltungsmöglichkeiten und Toleranz gleichsetzen. Welch ein Triumph für die Männer und Frauen, die sich im Kalten Krieg für die Sicherheit und Stärkung des Westteils von Berlin eingesetzt haben! Aus der Insel der Freiheit ist das freiheitliche Gesicht Deutschlands geworden. Berlin hätte sich ohne den Hauptstadtbeschluss vielleicht auch ähnlich, sicherlich aber nicht so schnell so positiv entwickelt.

 

Preußisch-Berlin?

Damit sind aber auch alle Befürchtungen, insbesondere in Bayern, obsolet, der Fokus auf Berlin werde die Entwicklung der anderen Regionen in Deutschland behindern. Das Gegenteil ist der Fall. Berlin hat sich nicht zu dem administrativen und wirtschaftlichen Moloch entwickelt, den warnende Stimmen an die Wand gemalt haben. Die Stärke und Attraktivität der Regionen, namentlich Bayerns und hier besonders des Großraums München, ist ungebrochen und wirkt stärker denn je. Berlin als freundliches Aushängeschild Deutschlands und Visitenkarte unseres Landes in der Welt strahlt auf das Image der ganzen Republik aus. Traditionelle Antagonismen und Ressentiments gegen „Preußisch-Berlin“ haben sich in dem Maße verflüchtigt, wie Berlin immer weniger preußisch und immer mehr europäisch-weltoffen wurde.

Eine andere Sorge hat sich ebenso wenig bestätigt, nämlich dass eine Stärkung Berlins durch die Hauptstadtfunktion zu einer Schwächung des Föderalismus in Deutschland führen würde. Für Bayern sind der Föderalismus, die Beachtung der Grundsätze der Subsidiarität nicht einfach Fragen des effektiven Regierens oder der Staatstheorie. Bayern definiert sich aus einer Staatlichkeit, die älter ist als die deutsche und die in einer langen geschichtlichen Konstante immer europäisch ausgerichtet war.

 

Kein „Schwamm drüber!“

Alle Katastrophen, die Deutschland im 20. Jahrhundert erlebte, der Erste Weltkrieg, der nationalsozialistische Terror und der Zweite Weltkrieg, gingen einher mit einer Zurückdrängung beziehungsweise Abschaffung föderalistischer Strukturen, einer feindseligen Einstellung zu den Nachbarländern und einer Betonung und Überhöhung des Zentralstaates. Das Berlin der Jahre vor 1914 beziehungsweise 1933 bis 1945 ist hierfür natürlich nur eine Metapher. Letztlich wird Politik von Menschen formuliert und exekutiert, die allerdings die Atmosphäre einer Stadt beeinflussen und von dieser beeinflusst werden. In diesem Sinne ist Berlin heute herrlich demokratisch, europäisch und kosmopolitisch.

Geht man durch die Stadt, beschleicht einen ein beunruhigend-beruhigendes Gefühl. Überall scheinen die Narben, die die beiden deutschen Diktaturen der Stadt geschlagen haben, verheilt zu sein. Die Zeichen der Spaltung, die mir aus den Besuchen in meiner Jugend in der Erinnerung noch so präsent sind, sind verschwunden. Das bedeutet aber nicht, dass man ein „Schwamm drüber!“ praktiziert hätte: Die Narben sind nur verdeckt, doch oft noch sichtbar oder greifbar. Die Harmonie der Stadt als europäische Metropole wird dadurch nicht gestört. Im Gegenteil: Berlin scheint der glückliche Ort zu sein, an dem spürbar wird, dass ein Volk aus der Geschichte lernen kann.

 

Monika Hohlmeier, geboren 1962 in München, seit 2009 Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) im Europäischen Parlament.

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