Menschen sind das größte Hindernis für gute Regierungen. Sie machen oft nicht, was gut für das Gemeinwesen ist. Sie machen nicht einmal, was gut für sie selbst ist, nicht einmal dann, wenn sie es besser wissen. Menschen rauchen und essen zu viel Fleisch, sie bewegen sich zu wenig, dämmen ihre Häuser nicht, kümmern sich viel zu wenig um ihre Altersversorgung und wehren sich gegen nötige Infrastrukturprojekte – ja überhaupt gegen alles, was neu ist. Schon für kleine Änderungen sind sie zu träge oder zu ängstlich, bei großen Innovationen rennen sie Sturm. Menschen entscheiden spontan und emotional, sie folgen lieber vertrauten Gewohnheiten und haben tendenziell eher Angst, etwas zu verlieren, als Freude daran, Risiken einzugehen. Das Verhalten von Menschen ist nicht so, wie es einem guten Gemeinwesen zuträglich wäre. Die Menschenkenner aller Zeiten haben das natürlich gewusst. Schon die biblischen Heiligen sind eine Ansammlung von trägen, egoistischen, entscheidungsschwachen, ängstlichen oder gar gefährlichen Zeitgenossen. „Das Gute, das ich will, tue ich nicht“, fasst der Apostel Paulus sein Unvermögen zusammen, den eigenen Einsichten zu folgen.
Ganz freiwillig das Richtige tun?
Diese Einsicht führt wie eine heiße Spur durch die Philosophien des Abendlandes und trägt auch die Signatur politischer Theorien. Auch die wohlfeile Antwort darauf ist schon klar: Gesetze und Sanktionen, Regeln und Normen sorgen dafür, dass das Gemeinwesen durch die Mängelwesen, die es gestalten, nicht aus den Fugen gerät. Menschliche „Rationalitätsanomalien“ sind ein erheblicher Gefährdungsfaktor für das gesellschaftliche Wohlergehen. Und ein teurer noch dazu, zieht man Gesundheitskosten oder die Überlastung der Sozialversicherungssysteme ins Kalkül. Doch was wäre, wenn sich gute Regierungen, kluge Verwaltungen und vorausschauende politische Entscheidungen einer anderen Technik bedienten, die nicht durch Regulation, sondern durch sanfte Stupser und Lenkungshinweise geschieht, die die Bürger selbst nachvollziehen, um so ganz freiwillig das Richtige zu tun? Nudging heißt diese Steuerungstechnik, die allmählich auch in Deutschland Aufmerksamkeit gewinnt. Ihr Meisterdenker, Cass Sunstein, war in den letzten Wochen auf einer Berlin-Tour und warb nicht nur unter Wissenschaftlern und Politikstrategen, sondern auch in Ministerien für seine Theorie eines „libertären Paternalismus“, dessen Praxis Möglichkeiten zur Verfügung stehen, mit denen sich durch leichte Veränderungen von Rahmen und Kontexten erstaunliche Verhaltensänderungen bei Bürgern bewirken lassen. Sunstein ist nicht nur einer der führenden amerikanischen Verfassungstheoretiker aus Chicago, er ist auch ein mächtiger Mann, seit Barack Obama ihn zum Chef des „White House Office of Information and Regulatory Affairs“ machte. Seine Ideen wurden bereits in der Administration Cameron umgesetzt.
Regieren mit Quengelregalen?
Die Einsichten über die „Entscheidungsarchitekturen“, in denen Menschen ihre Entscheidungen treffen, kommen aus der Verhaltensökonomie und lassen sich durch die Ergebnisse der Hirnforschung erhärten. Die Kontexte, in denen Menschen handeln, sind entscheidend für das Verständnis ihrer Reaktionen. Wie können die „Entscheidungsanomalien“, in denen Menschen wider bessere Einsicht handeln, gemäßigt werden? Nudging beginnt schon bei der Sprache. Klare, werbende Worte führen eher zu Verhaltensänderungen als die kalte sprachliche Exekution eines komplizierten Verwaltungshandelns. Nudging macht sich auch die Einsicht zunutze, dass Menschen meistens wie ihr Umfeld handeln. Wer daran erinnert wird, dass alle Nachbarn schon die Einkommensteuererklärung abgegeben haben, wird seine schneller einreichen, als wenn er mit Mahnschreiben behelligt wird. Und wer erfährt, dass achtzig Prozent der anderen Mieter im Haus deutlich weniger für Strom zahlen als man selbst, beginnt wie von selbst, nachts das Licht auszuschalten und einen Kühlschrank zu kaufen, der energieeffizienter ist. Wissenschaftler haben festgestellt, dass individuelle Entscheidungen hochgradig kontextgebunden sind. In der Wirtschaft wurden diese Einsichten schon längst publik. Die berühmteste Entscheidungsarchitektur überhaupt ist das „Quengelregal“ an der Kasse, wo sich Süßkram und Plastikspielzeug auf Augenhöhe von Kleinkindern befinden, und um keinen Streit zu riskieren, kaufen Eltern ihren Sprösslingen, was diese schon in der Hand haben. Kaufentscheidungen sind in hohem Maße von der Art der Präsentation der Waren, den Narrativen ihrer Bewerbung, den Bedürfnissen der Umwelt und von Selbstbildern bestimmt, die sich mit einer Ware verbinden. Die individualisierte Werbung bei Amazon und Co hat das Nudging so perfektioniert, dass manchmal nur noch ein „Opting-out“, also die bewusste Entscheidung gegen den Klick auf den Kaufbutton, möglich zu sein scheint. Was wäre, wenn dieses erfolgreiche Modell im alltäglichen Verwaltungshandeln oder sogar bei mittelfristigen Steuerungsmodellen in der Politik Anwendung fände? Könnte mit dem Bau geschickter Entscheidungsarchitekturen, also mit sanften Stupsern, nicht mehr erreicht werden als mit Gesetzen und Regeln, auf die Menschen zwangsläufig mit Unmut reagieren? Viele Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit, die auf die Nachricht erfolgten, das Bundeskanzleramt habe Verhaltensökonomen eingestellt, die Nudging für das gute Reagieren prüfen, sind vom Bild des Quengelregals geprägt. „Manipulation. Gefährlich!“, heißt es, und schon wird die Propagandamaschine aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Politik heraufbeschworen. Vielleicht macht sich aber auch nur der Berufsstand der Juristen Sorgen, der um seine Monopolstellung beim guten Regieren fürchtet, denn bislang galt als Gütesiegel vor allem ein gutes Gesetz. Sanfte Stupser anstatt Regeln und nachfolgende Sanktionen? Was wäre, wenn im Quengelregal Äpfel, Nüsse und Müsliriegel lägen? Würden Kinder und Eltern dann nicht zu einem vernünftigeren Essen verführt? Das Regal mit den gesunden Nahrungsmitteln ist eine Metapher für das gute Regieren nach der Vorstellung von Cass Sunstein. Deshalb gilt Nudging vor allem in den Bereichen als hilfreiche Regierungstechnik, wo es im weitesten Sinne um Verbraucher geht.
Wer sich die große Wirkung kleiner Anreize vor Augen führt, die Sunstein in seinem Bestseller Nudge aus dem Jahr 2008 auflistet, kann nur zu mehr Mut beim Experiment des Nudgings in deutschen Steuerungsstäben plädieren (Thaler, Richard H./ Sunstein, Cass R.: Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Econ Verlag, Berlin 2011, deutsche Taschenbuchausgabe). Möglich, dass diese sanften Techniken des Steuerns in Deutschland sogar leichter einzuführen sind als in angelsächsischen Ländern. Deutschland hat eine lange Tradition des Paternalismus und ist so stark an Wohlfahrtsmodellen interessiert, dass die Sorge, etwa bei Suizidprävention in Schulen oder bei der Anschnallpflicht im Auto, der Staat beschneide unzulässig die Autonomie der Bürger, nur an den Rändern der Debatte aufblitzt. Das erklärt auch die parteienübergreifende Begeisterung nach Vorträgen von Sunstein.
Zweifel am Pathos der Freiheit
Als Regierungstechnik gibt es in den Instrumentenkästen des Nudgings noch viel zu entdecken, vor allem dann, wenn das Nudging transparent gemacht wird. Im Hintergrund steht aber bei Sunstein eine monumentale politiktheoretische Umbesetzung, die gründlicherer Debatten bedarf. Sunstein bezweifelt nämlich das Pathos der Freiheit. Er tut dies auf dem sicheren Boden der Verhaltenspsychologie und der Hirnforschung, wenn er den Fetisch der freien Bürger kritisiert und in den Horizont einer Idee der Wohlfahrtlichkeit stellt. Der US-amerikanische Kontext von Sunstein ist hier mit Händen zu greifen. Allerdings riskiert er so einen Utilitarismus, der alle individuellen Entscheidungen nur noch in Bezug auf seine Zwecke für das höhere Gut des „social welfare“ bewertet. Im Grunde will Sunstein kommunitaristische und liberale Philosophien zu einer dritten zusammenbinden. Bei dieser Fusion kassiert er allerdings den normativen Freiheitsbegriff, der für unsere Verfassung leitend ist.
Beklemmend offen formuliert Sandstein den Utilitarismus in seinem zweiten Band: Der Herstellung von „social welfare“ haben sich die Einzelnen unterzuordnen. Freiheit ist ein normatives Konzept, keine empirische Bestimmung des Menschen. Gegen diese normative Grundbestimmung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger haben die Ergebnisse der Hirnforschung und der Verhaltensökonomie kein argumentatives Gewicht.
Sanfte Stupser für eine unsanfte Politik?
Das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung gerät in eine Schieflage und wird augenblicklich an vielen Orten neu justiert. Hirnforscher greifen das Strafrecht an. In den Debatten um Industrie 4.0 wird über Verantwortung nachgedacht: Wer hat Schuld, wenn ein computergesteuertes Auto in eine Gruppe Schulkinder rast? Auch das Nudging wirft große Fragen zu dieser Verhältnisbestimmung auf, vor allem da, wo mithilfe der sanften Stupser eine gar nicht so sanfte Biopolitik betrieben wird. Präventionsprogramme im Gesundheitswesen sind auch in Deutschland beliebt. Aber was ist, wenn ihre Befolgung an die Voraussetzung geknüpft ist, überhaupt krankenversichert zu bleiben, wie dies in den USA diskutiert wird? Und was ist, wenn die Organspende nach einem Opting-out-Modell zur Regel wird, der nur durch einen expliziten Akt widersprochen werden kann? Für Sunstein ist die prinzipielle Möglichkeit des Ausweichens in einer prägenden Entscheidungsarchitektur ausreichend zur Sicherung der Autonomie der Bürger. Wer den normativen Freiheitsbegriff unserer Verfassung zugrunde legt, wird nicht so kess auf diese Variante setzen. Denn es gibt gute Gründe, Menschen ein explizites „Ja“ zur Organspende abzuverlangen, weil hier Grundvorstellungen des guten Umgangs mit Sterben und Tod betroffen sind. Gerade weil der interventionistische Wohlfahrtsstaat mit seinen Steuerungstechniken in Deutschland lange Tradition hat, muss die Debatte um Nudging ihrerseits kontextsensibel geführt werden.
Als reine Regierungstechnik können die Erkenntnisse wegweisend sein für einen anderen Umgang von Administrationen mit ihren Bürgern. Auch für die Vorbereitung von Wahlkämpfen lohnt sich eine vertiefte Sicht in die Ergebnisse der Verhaltenspsychologie. Doch der politiktheoretische Gesamtrahmen, wie Sunstein und sein Kollege, der Ökonom Richard H. Thaler, ihn entwickelten, ist nur vor dem Hintergrund der angelsächsischen Debatte um einen übersteigerten empirischen Freiheitsbegriff verständlich, wo schon die Einführung der Helmpflicht für Motorradfahrer zu hitzigen Grundsatzdebatten führt. In den mental und kulturell tief gespaltenen USA ist Sunstein ein Vermittler und sein libertärer Paternalismus eine Art dritter Weg. Doch dieser Weg führt in einen ungeschminkten Utilitarismus. Wann muss der Staat die Bürger vor sich selbst schützen? Und wovor? Wer entscheidet, welche Güter interventionistische Eingriffe vertragen oder sogar nötig machen? Wer wissen will, wie die Gesellschaftsutopie von Cass Sunstein aussieht, der lese das Kapitel über die Abschaffung der Ehe. Weil die gesellschaftlichen Folgekosten der vielen enttäuschten Liebespakte zu hoch sind, will er sie zugunsten privatrechtlicher Regeln und individueller Rituale abschaffen und gleichzeitig bestimmen, wie die sanfte Trennung auszusehen hat. An dieser Umkehrung von Intervention und Freiheit lässt sich eine neue Debatte um das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung führen.
Petra Bahr, geboren 1966 in Lüdenscheid, von 2006 bis 2014 Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), seit September 2014 Leiterin der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.