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Kurze Bestandsaufnahmen aus drei Weltregionen

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Naher Osten und Nordafrika

Rund ein Drittel aller Asylbewerber in Deutschland kommt derzeit aus der Krisenregion des Fruchtbaren Halbmondes, Syrien und Irak. Vier von fünf anerkannten Flüchtlingen, die bislang nach Deutschland kamen und hier bleiben werden, stammen allein aus diesen beiden Ländern. Wenn es um das Herkunftsland der Flüchtlinge geht, nimmt Syrien laut der offiziellen Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge dabei den traurigen Spitzenplatz ein. Andere Schau plätze von Gewalt und Vertreibung in der Region sind der Jemen oder Libyen.

Allein aus Syrien kamen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres knapp 35.000 Asylbewerber nach Deutschland. Dies ist nur ein Bruchteil der humanitären Katastrophe, die sich dort insgesamt abspielt. Mehr als die Hälfte der rund 21 Millionen Syrer ist auf der Flucht: Neben den vier Millionen vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) registrierten syrischen Flüchtlingen außerhalb des Landes gibt es mindestens knapp acht Millionen Binnenflüchtlinge. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein, da längst nicht alle Flüchtlinge registriert sind.

Syriens Nachbarländer Libanon, Jordanien und Türkei sind die Aufnahmeländer mit den höchsten Flüchtlingszahlen. Besonders stark betroffen ist der Libanon, der bei einer Gesamtbevölkerung von circa 4,3 Millionen Libanesen offiziell bislang etwa 1,2 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Das entspricht knapp 28 Prozent der libanesischen Gesamtbevölkerung. Man stelle sich vor, Deutschland hätte zwanzig bis 25 Millionen Flüchtlinge aufzunehmen – eine Zahl, die im Verhältnis selbst die Situation in Westdeutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs dramatisch übersteigt.

In Jordanien haben 630.000 Flüchtlinge Zuflucht gefunden. Das entspricht bei einer derzeitigen Gesamtbevölkerung von 6,7 Millionen Jordaniern knapp 9,4 Prozent. In der Türkei ist die Zahl der syrischen Flüchtlinge mit 1,8 Millionen am höchsten, trifft aber auf eine wesentlich größere türkische Bevölkerung von 77,7 Millionen. Hier machen syrische Flüchtlinge 2,3 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Trotzdem ist diese Zahl absolut gesehen sehr hoch und übersteigt die Situation in Europa bei Weitem. Außerdem konzentrieren sich die syrischen Flüchtlinge auf die grenznahen südlichen Teile der Türkei und machen dort einen wesentlich höheren Bevölkerungsanteil aus.

Auch aus dem Irak und aus Libyen versuchen viele Menschen, in Nachbarländer zu flüchten. Hier erleben die Nachbarländer ebenfalls einen großen Ansturm: Die Autonome Region Kurdistan (ARK) im Nordirak dürfte sich in einer ähnlichen Situation befinden wie Jordanien oder gar der Libanon. Nachprüfbare Zahlen sind jedoch kaum verfügbar. Vor allem die An gehörigen der verschiedenen religiösen Minderheiten aus den vom „Islamischen Staat“ (IS) eroberten Gebieten des Irak sind ins sichere Erbil, die Hauptstadt der ARK, und in die nähere Umgebung geflohen. Hinzu kommt, dass sich die ARK im Kriegszustand mit dem IS befindet.

Schließlich muss auch Tunesien eine hohe Zahl von Flüchtlingen aus dem benachbarten Libyen verkraften. Auch hier gibt es kaum gesicherte Zahlen, da viele wohl habende Libyer nicht als Flüchtlinge registriert sind. Besorgnis erregt in Tunesien die Durchlässigkeit der Grenze, denn die islamistischen Attentäter von Sousse (Juni 2015) ebenso wie diejenigen von Tunis wurden offenbar in Libyen ausgebildet.

Dieser kurze Überblick verdeutlicht das dramatische Ausmaß der Flüchtlingskrise in der arabischen Welt – kaum ein Land am südlichen Rand des Mittelmeeres, das nicht auf seine je eigene Weise betroffen ist. Auch die Folgen des Krieges im Jemen sind noch nicht absehbar. Dies hat auch Auswirkungen auf die innenpolitische Situation der Aufnahmeländer. Vor allem im Libanon trifft die gewaltige Zahl der Flüchtlinge auf eine sehr heterogene einheimische Bevölkerung. Zwischen Schiiten, Sunniten, den unterschiedlichen christlichen Konfessionen sowie weiteren religiösen Gruppen, wie beispielsweise den Drusen, existiert eine fragile Balance, die sich in einem ebenso starren wie komplizierten Proporzsystem bei der Regierung des Landes widerspiegelt.

Durch die vielen größtenteils sunnitisch-syrischen Flüchtlinge droht diese Balance aus dem Gleichgewicht zu geraten, insbesondere da die Spannungen zwischen den religiösen Gruppen, die sich fast alle auch in Syrien wiederfinden, durch den Konflikt dort ohnehin zunehmen. Viele befürchten ein Überschwappen des Krieges auf weitere Länder, was nicht zu Verbesserung der Situation der Flüchtlinge beiträgt.

Nicht nur den Libanon stellt die Flüchtlingskrise vor eine Herkulesaufgabe. Die Perspektiven bleiben düster: In Syrien und in weiten Teilen des Irak ist die Infrastruktur weitgehend zerstört und je des Vertrauen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zerbrochen. Mit einer sofortigen Rückkehr der Flüchtlinge im Falle eines Waffenstillstandes ist somit keineswegs zu rechnen. Die Aufnahmeländer des Nahen Ostens und dar über hinaus müssen sich auf eine lang an dauernde Flüchtlingskrise einstellen. Die betroffenen Zufluchtsländer bewegen sich selbst in wirtschaftlich schwierigem Fahrwasser und haben erheblichen Reform bedarf im Hinblick auf politische Teilhabe und ihre Wirtschafts- und Sozialordnung.

Um die Bedeutung der Situation in der arabischen Welt für die Flucht nach Europa vollständig zu erfassen, muss man auch die Menschen hinzuzählen, die aus Afrika südlich der Sahara über die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens nach Europa kommen. Dies gelingt nun nach dem „Arabischen Frühling“ leichter, da aufgrund von Krieg oder Schwäche der Zentralgewalt die Durchlässigkeit der „Transitländer“ für Flüchtlingsströme größer geworden ist.

Im Gegensatz zu den meisten Flüchtlingen aus dem Nahen Osten, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden und deren Leben dort in unmittelbarer Gefahr wäre, sind viele dieser Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa. So unterschiedlich beide Gruppen sind, wenn es um ihr Recht auf Aufnahme in Europa geht: Sie sitzen gemein sam in den Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer und setzen sich den gleichen Gefahren aus.

Im Hinblick auf beide Flüchtlingsgruppen hat die Instabilität der Länder, die von den Umbrüchen in der Arabischen Welt in den letzten Jahren betroffen waren, die Flucht verursacht, ermöglicht oder zumindest erleichtert. Diese Länder benötigen unsere Unterstützung: kurzfristig, um mit der akuten Flüchtlingskrise fertigzuwerden; mittel und langfristig, um ihre wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen so zu reformieren, dass sie auch einer gestiegenen Anzahl von Menschen Perspektiven bieten können. Dies kann nur gelingen, wenn alle Gruppen der Bevölkerung politisch und wirtschaftlich beteiligt werden. Versuche, die Probleme auf despotische und autoritäre Weise zu lösen, führen lediglich zu einer Verstetigung von Flucht und Gewalt.

Thomas Birringer, Leiter des Teams Naher Osten und Nordafrika Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung

 

Asien

Langanhaltende Konflikte und Krisen, die Eskalation von Gewalt, beispielsweise in Afghanistan und Pakistan, Naturkatastrophen wie auf den Philippinen sowie ethnische Auseinandersetzungen, etwa in Myanmar, haben die Anzahl der Flüchtlinge

in Asien in den letzten Jahren signifikant ansteigen lassen. In Zahlen ausgedrückt, gab es 2014 einen Zuwachs an Binnenvertriebenen und Flüchtlingen um 31 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Verantwortungsbereich des UN Flüchtlingshilfswerkes (UNHCR) in der Region Asien-Pazifik lebten Ende 2014 rund 3,85 Millionen Menschen in einer flüchtlingsähnlichen Situation.

Weltweit steht Afghanistan (neben Syrien) an der Spitze der Herkunftsländer, aus denen Menschen geflohen sind. Die afghanischen Flüchtlinge halten sich zu neunzig Prozent im benachbarten Iran und in Pakistan auf. Dabei gibt es auf regionaler Ebene einen umfassenden strategischen Rahmen – die „Solutions Strategy for Afghan Refugees to Support Voluntary Repatriation, Sustainable Reintegration and Assistance to Host Countries“ (SSAR) –, um einerseits die freiwillige Rückkehr der Flüchtlinge in das Herkunftsland und ihre Wiedereingliederung zu fördern sowie andererseits die Aufnahmeländer zu unterstützen. Der Abzug der ISAF-Truppen aus Afghanistan, die problematische sozioökonomische Situation sowie die unvorhersehbare und prekäre Sicherheitslage im Land bilden für die afghanische Regierung nach wie vor die größten Hindernisse bei der Repatriierung der Geflüchteten.

Fortdauernde Flüchtlingsbewegungen werden in und aus Myanmar registriert – trotz des seit 2011 eingeleiteten politischen Öffnungsprozesses des Landes. Hintergrund sind die Anfälligkeit für Naturkatastrophen (Zyklon Nargis 2008), vor allem jedoch die andauernden ethnischen Konflikte. Seit 2012 haben die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen den Rohingya (einer nicht anerkannten muslimischen Minderheit, deren Zahl auf eine Million geschätzt wird) und der mehrheitlich buddhistischen Bevölkerung zu mehr als 240.000 Binnenvertriebenen geführt – aus dem westlichen Rakhine-Staat und aus den Kachin und nordöstlichen Shan-Regionen. Menschenrechtsorganisationen haben die Rohingya wiederholt als „die am meisten verfolgte Minderheit der Welt“ eingestuft.

Die Bilder der Flüchtlingsboote mit aus Myanmar stammenden Rohingya und Migranten aus Bangladesch, die im Mai dieses Jahres vor den Küsten Thailands, Malaysias und Indonesiens trieben, sowie der Fund von Massengräbern mit den Leichen von Hunderten Rohingya-Flüchtlingen in Malaysia erregten internationale Empörung und markierten die vorläufigen Höhepunkte der Flüchtlingskrise in Südostasien. Auf diese reagierten die Regierungen in der Region, indem sie den Flüchtlingen zunächst die Aufnahme verweigerten. Laut UNHCR wird die Zahl der Flüchtlinge aus dem Golf von Bengalen im ersten Quartal 2015 auf 25.000 beziffert – eine Verdopplung der Zahlen aus den beiden Vorjahren.

Auf dem kurzfristig einberufenen Flüchtlingsgipfel in Bangkok auf Einladung der thailändischen Regierung am 29. Mai („Special Meeting on Irregular Migration in the Indian Ocean“) kamen Vertreter aus siebzehn Ländern der Region sowie Repräsentanten der UNHCR, der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des UN Office on Drugs and Crime zusammen, um die Flüchtlingskrise in Südostasien zu diskutieren und ein Regelwerk zur Lösung zu implementieren. Auf dem Gipfel hat die IOM die aktuelle Flüchtlingskrise in Südostasien als einen Teil der weltweit größten irregulären Migrationswelle der Menschheitsgeschichte eingestuft: „A significant share of the migratory flows in the Asia-Pacific Region is irregular. The region hosts the largest undocumented flows of migrants in the world, mainly between neighbouring countries“ (International Organisation for Migration: Regional Strategy for Asia and the Pacific 2012–2015, Seite 5). Der Gipfel begann mit einem verbalen Schlagabtausch zwischen dem Repräsentanten Myanmars und dem beigeordneten UN-Flüchtlingshochkommissar Volker Türk, der die myanmarische Regierung aufforderte, Verantwortung für alle seine Einwohner zu übernehmen; dennoch gelang es, ein Zehn-Punkte-Papier zu verabschieden. In diesem sprechen sich die beteiligten Staaten unter anderem dafür aus, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu verbessern.

Indonesien und Malaysia hatten kurz vor dem Gipfel ihre Politik geändert und den mehreren Tausend teils monatelang auf See treibenden Flüchtlingen vorübergehend Schutz angeboten – unter der Bedingung, dass die internationale Gemeinschaft binnen eines Jahres den Rückführungsprozess organisiere. Der Politikschwenk der beiden ASEAN-Staaten ist sowohl auf internationalen als auch auf innenpolitischen Druck zurückzuführen. Malaysia steht mit seinem aktuellen ASEAN-Vorsitz international in der Pflicht, die Spannungen zwischen den Mitgliedern zu entschärfen. In Indonesien hat der Appell von Vertretern der islamischen Parteien zu einer veränderten Haltung beigetragen.

Die jüngsten Ereignisse offenbaren gravierende Defizite in der Flüchtlingspolitik. In erster Linie fehlt es in den meisten Ländern Südostasiens an rechtlichen Rahmenbedingungen. Weder Malaysia noch Thailand oder Indonesien gehören zu den Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention. Mit Ausnahme der Philippinen und Kambodschas hat kein ASEAN-Staat die UN-Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Damit gibt es keine Möglichkeit zur formalen Anerkennung der Flüchtlinge auf der Basis der Konvention. Auch wenn Artikel 16 der ASEAN-Menschenrechtsdeklaration konstatiert: „Every person has the right to seek and receive asylum in another State in accordance with the laws of such State and applicable international agreements“ – eine gemeinsame Asyl oder Flüchtlingspolitik der ASEAN-Staaten ist nicht erkennbar.

Die Flüchtlingsproblematik in Südostasien ist ein komplexes Phänomen wirtschaftlicher, politischer, moralisch-ethischer Faktoren, gekoppelt mit humanitären Problemen, und geht normalerweise einher mit wenig medialer Beachtung und öffentlicher Aufmerksamkeit. Während die Flüchtlingsproblematik in Europa kontrovers diskutiert wird, flammt das Thema in Südostasien nur dann auf, wenn dramatische Szenen medial um die Welt gehen und der internationale oder innenpolitische Druck zu groß wird. Auf den ersten Blick scheint es, als ließe sich die Situation in Südostasien einfacher bewältigen als in Europa, da die von den Flüchtlingen angestrebten Zielländer in der Region selbst liegen und die meisten der betroffenen Länder zum ASEAN-Verbund gehören. Aufgrund der begrenzten offiziellen Bekenntnisse zu Menschenrechten und zu Rechten von Flüchtlingen im Besonderen – gepaart mit der traditionellen ASEAN-Politik der Nichteinmischung – ist die Situation indes komplexer.

Die südostasiatischen Regierungen sind bislang zu keiner gemein samen Politik gegenüber der bereits seit Jahrzehnten andauernden Flüchtlingsproblematik gelangt. Dieser „state of denial“ führt zu einer Paralyse nationaler und regionaler Politikinstrumente – das Ergebnis sind Adhoc-Entscheidungen beziehungsweise vorübergehende Lösungen.

Regionalorganisationen wie die ASEAN stehen vor großen Herausforderungen. Aktuell sind Flüchtlinge unter dem politischen Euphemismus „irreguläre Migration“ kategorisiert – darunter fallen politische wie auch Wirtschaftsflüchtlinge. Der erneute Anstieg der südostasiatischen Flüchtlingsströme trägt zu Verschärfung der Flüchtlingskrise bei – mit der Gefahr, die ethnisch-religiöse Balance innerhalb oder zwischen den Ländern aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Das jüngste außerordentliche „Emergency“-ASEAN-Ministertreffen zum Thema „Transnational Crime concerning irregular Movement of Persons in Southeast Asia“ ist ein Beispiel dafür, dass die Länder der Region in zwischen bemüht sind, eine konzertierte regionale Strategie zur Bewältigung der Lage herbeizuführen. Der Aufbau einer Taskforce wie auch die Gründung eines Treuhandfonds für humanitäre Hilfe werden angestrebt. Darüber hinaus haben die Regierungsvertreter der ASEAN-Staaten beschlossen, durch regelmäßigen Informationsaustausch – auch der Nachrichtendienste – sowie durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit den ASEAN-Dialogpartnern und internationalen Organisationen die intraregionale Transparenz zu erhöhen. Die Tatsache, dass „irregular movement of persons“ mit Menschenhandel in Verbindung gebracht wird, kann zudem ein wirksamer Beitrag zur Rechtsdurchsetzung und damit Strafverfolgung von Schleusern sein.

Wenn dies in der Implementierung gelingt, dann war die jüngste „Boatpeople“-Krise in Südostasien eine Chance für einen politischen Neuanfang, für eine transparentere Politik zwischen den ASEAN-Staaten, eine mögliche Rückbesinnung auf eine Mandatsausweitung vorhandener Instrumente der ASEAN – beispielsweise der ASEAN Intergovernmental Commission on Human Rights (AIHCR) – sowie für die Ausübung einer stärker koordinieren den Rolle der ASEAN insgesamt. Die Übernahme kollektiver politischer Verantwortung in der Flüchtlingsfrage und auch die Sensibilisierung mit Blick auf die Fluchtursachen könnten somit zur Stärkung des ASEAN-Bündnisses beitragen.

Beatrice Gorawantschy, Leiterin Team Asien und Pazifik, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung

 

Subsahara-Afrika

2014 überquerten mehr als 220.000 Menschen aus Subsahara-Afrika das Mittelmeer, meist über die zentrale Route von Libyen Richtung Italien und Malta. In der Mehrzahl stammen sie aus Eritrea, Nigeria, Mali, Gambia und Somalia. Ihr Anteil an den Menschen, von denen man weiß, dass sie ihr Leben auf der Flucht über das Mittelmeer verloren haben, beträgt 86 Prozent (von Januar bis April 2015). Für die Flüchtenden aus diesen Ländern ist die Abwesenheit jeglicher staatlicher Strukturen in Libyen Fluch und Segen zugleich. Zwar ist es seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes relativ leicht, von der libyschen Küste aus nach Europa überzusetzen (83 Prozent der Boote, die Italien erreichten, hatten Libyen als Ausgangspunkt), doch erzeugt das politische Chaos in Libyen neuen Migrationsdruck. Denn für die Flüchtlinge , die Tripoli oder Benghazi erreichen, gibt es kein Zurück mehr. Zu unübersichtlich und gefährlich ist die Situation im Landesinneren.

Die erschreckenden Bilder aus der Mittelmeer-Region täuschen darüber hinweg, dass Afrika als Ganzes ein Kontinent der Flucht und der Migration ist. Seit Jahrzehnten lastet dieser Druck auf den afrikanischen Staaten – auf Nachbarländern, mit Blick auf die große Zahl von intern Vertriebenen auch auf lokalen Gemeinschaften.

Zuletzt hat die Krise im Norden Malis die Flüchtlingsproblematik weiter angeheizt. Nach der Gewaltwelle im Mai 2015 stieg die Zahl der intern Vertriebenen (IDPs) auf geschätzt 100.000 Menschen an. In Niger haben seit 2013 mehr als 100.000 Nigerianer Schutz vor Boko Haram gesucht. Schätzungsweise 43.000 befinden sich in Flüchtlingscamps in Kamerun und circa 2.700 im Tschad. Hinzu kommen mehr als 650.000 intern Vertriebene. Für Kamerun und Niger stellen diese hohen Flüchtlings zahlen nicht nur eine ökonomische Bürde dar. Sie bedeuten auch ein Sicherheitsrisiko, da eine Infiltration von Boko Haram über die Flüchtlingscamps befürchtet wird.

In Zentralafrika spielen sich seit Jahrzehnten Flüchtlingsdramen ab. So hat der Konflikt im Osten der Demokratischen Republik Kongo mehr als 2,75 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen gemacht. Die 670.000 Flüchtlinge, die im Zuge des Genozids in Ruanda und Burundi 1994 in den Osten des Landes kamen, wurden zu einem politischen Faktor. Die von der früheren Mobutu-Regierung in Kinshasa zunächst tolerierten Aktivitäten der Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR) – Anhänger des Hutu-Regimes in Ruanda – im Ostkongo führten letztlich zu einer Unterstützung der von Laurent-Désiré Kabila angeführten Revolution durch Ruanda und zu einem Sturz Mobutus.

In Ostafrika sind es vor allem die Länder Kenia, Äthiopien und Djibouti, die Flüchtlinge aus dem Südsudan, aus Darfur, Somalia und Eritrea in Camps beherbergen. Während die Fluchtursachen im Südsudan, in Darfur und Somalia aus der desaströsen Sicherheitslageresultieren, sind es in Eritrea vor allem die gravierenden Menschenrechtsverletzungen des Regimes. Zwangsarbeit, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen sowie Folter und außergerichtliche Hinrichtungen sind Bestandteile der Herrschaftspraxis: „It is not law that rules Eritreans, but fear“ (UN Human Rights Council). Obgleich allein im ersten Halbjahr 2015 11.025 Eritreer in der Europäischen Union Asyl beantragt haben, flüchten Eritreer in erster Linie in die Nachbarländer Sudan und Äthiopien.

Die instabile Sicherheitslage in Somalia erlaubt nicht, dass das bereits 2013 geschlossene Repatriierungsabkommen zwischen Somalia, Kenia und dem UNHCR umgesetzt wird. Nach wie vor lebt mehr als eine Million Somalier in kenianischen Flüchtlingscamps. Vor dem Hintergrund der von muslimischen Al-Shabab Extremisten verübten Terroranschläge hat die kenianische Regierung ihre großzügige humanitäre Unterstützung somalischer Flüchtlinge radikal reduziert. Seit Langem wird vermutet, dass Flüchtlingscamps von den Milizen kontrolliert würden. Der mörderische Angriff auf die Universität in Garissa, bei der rund 150 Menschen ihr Leben verloren, gab den Anlass, die Schließung des mit 330.000 Somalis belegten Flüchtlingslagers Dadaab anzukündigen.

Das Beispiel Kenia zeigt, wie die bislang unvergleichliche Offenheit afrikanischer Regierungen, Flüchtlinge aus Nachbarländern aufzunehmen, weicht. Immer häufiger gibt es Berichte über die Zurückweisung von Flüchtlingen (refoulement), humanitären Organisationen wird der Zugang zu Flüchtlingscamps erschwert. Im Falle Südafrikas, das Zielland für Flüchtlinge und Migranten des ganzen Kontinents ist, gab es wiederholt Aus schreitungen gegen Flüchtlinge.

Insbesondere in den afrikanischen Ländern, in denen es notwendig wäre, sich den Fluchtursachen zuzuwenden, scheint kein wirkliches Problembewusstsein zu existieren. Nicht selten stellen afrikanische Medien das Flüchtlingsthema als ein europäisches Problem dar. Nur vereinzelt gibt es Stimmen, die eine afrikanische Mitverantwortung sehen. So fragte der ugandische The Observer im April 2015: „Where and when is Africa’s own summit on this crisis? Where is the African Union’s master plan on migration? Where’s the collective commitment of African leaders to end the suffering of their peoples?“ Auf dem letzten Gipfel der Afrikanischen Union (14. bis 15. Juni 2015) wurde zwar eine Deklaration zum Thema Migration verabschiedet und dem Menschenschmuggel der Kampf angesagt. Vom Thema der Fluchtursachen ist darin aber nicht die Rede.

Die Komplexität des Problems „Flucht und Migration in Subsahara Afrika“ erfordert daher einen umfassenden, sowohl sicherheits- und entwicklungspolitischen als auch humanitären Ansatz. Dies bedeutet: Konfliktursachen bekämpfen und fragile Staaten stärken. Wie im Falle Eritrea, das systematisch seine Bevölkerung unterjocht, müssen die Menschenrechte wirkungsvoll eingefordert werden – auch mit Sanktionen gegen das Regime. Um irreguläre Migrationsströme mittelfristig einzudämmen, gilt es, Perspektiven für die afrikanische Jugend zu schaffen. Bildung bleibt ein Schlüsselelement. Dies beinhaltet sowohl die Schaffung von elementaren Bildungschancen als auch die Möglichkeit zum Erwerb beruflicher Fachqualifikationen wie auch des tertiären Bildungswegs vor Ort. Insbesondere die universitäre Bildung im Ausland ist häufig der erste Schritt zur legalen Migration und trägt zum Braindrain auf dem afrikanischen Kontinent bei.

Entscheidend für Fortschritte bei der Bewältigung des komplexen Phänomens Flucht und Migration ist jedoch der politische Wille aufseiten der afrikanischen Entscheidungsträger, sich dieser Problematik zu stellen. Auf europäischer Seite sollte man sich kritisch fragen, ob die Initiativen, die zur Sicherung von Frieden und Stabilität lanciert wurden, einen effizienten Beitrag leisten. Häufig werden Mandate mit viel Rücksicht auf die eigene Bevölkerung definiert und sowohl materielle als auch personelle Ressourcen zurückhaltend eingesetzt.

Andrea E. Ostheimer Leiterin Team Afrika Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung

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