Menschen sind nicht gleich. Dieser ebenso banale wie entlastende Satz muss am Anfang eines Aufsatzes über Bildungsgerechtigkeit stehen. Entlastend ist dieser Satz deshalb, weil er Bildungsinstitutionen von der vermessenen Erwartung befreit, Ergebnisgleichheit herstellen zu können. Nicht jeder Mensch bringt die Voraussetzungen mit, Professor für Theoretische Physik oder Schachgroßmeister zu werden. Die mit Bildungsinstitutionen verknüpfte Gerechtigkeitserwartung kann sich also nur darauf beziehen, die Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen, die in jedem Einzelnen angelegt sind.
Der hier mitzudenkende Begriff des „Talentes“ ist allerdings unscharf; vor allem aber beschreibt er nichts Statistisches, kein einmaliges Datum und weit mehr als die genetische Grundausstattung kognitiver Möglichkeiten. Talent ist zunächst die Summe individueller Entfaltungspotenziale und damit ein dynamischer Begriff. Er bezeichnet nicht nur genetische Dispositionen, sondern ist abhängig von Anregungen, Motivationsumgebungen, der Intensität zwischenmenschlicher Beziehungen in den prägenden Jahren der frühen Kindheit. Auch für die Zeit der Adoleszenz ist wissenschaftlich inzwischen gut belegt, dass ein scheinbar so statischer Wert wie der Intelligenzquotient erheblichen Änderungen und Entwicklungen unterworfen sein kann.[1] Dabei findet sich eine anregende und damit kognitive Möglichkeiten entfaltende Umgebung häufiger in sozioökonomisch gefestigten und durch eigene Bildungserfahrungen geprägten Elternhäusern. Auf eine Unterscheidung von Raymond Boudon zurückgreifend, spricht die Forschung von primären Effekten sozialer Herkunft. Mit den sekundären Effekten wird in der Folge das sozialschicht-spezifische Entscheidungsverhalten im Bildungsverlauf beschrieben, das sich durch andere Einstellungen zu Status, Risiko oder auch erwarteten Bildungsrenditen auszeichnen kann.[2]
Gesellschaftlicher Kompromiss
Die wichtige Rolle, die primäre Herkunftseffekte für die Ausprägung von „Talent“ oder die Entfaltung individueller Möglichkeiten spielen, macht deutlich, dass die eingängige meritokratische Formel zu kurz greift, nach der jeder seines Glückes Schmied sei. Es kann durchaus Bedingungen für glückliches und gelingendes Leben geben, die der Einwirkung und damit auch der Verantwortung des Einzelnen entzogen sind. Umgekehrt kann auch nicht gelten, dass jedes individuelle Scheitern nur eine Funktion gesellschaftlicher Ausgangslagen ist, die Kompensationsansprüche begründet.[3] Eine Gerechtigkeitserwartung, die exakte Abgrenzung erwartet oder verspricht, täuscht eine Klarheit des Verhältnisses von individueller Verantwortung und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vor, die es so nicht gibt. Der Versuch, Bildungsgerechtigkeit herzustellen, kann daher nur näherungsweise gelingen und stellt in jedem Fall einen gesellschaftlichen Kompromiss dar.
Die Diskussion über Bildungsgerechtigkeit wird im Lichte der gerade für Deutschland starke Herkunftseffekte belegenden PISA-Untersuchungen häufig auch aus der Perspektive gesellschaftlicher Erfordernisse geführt. In diesem Zusammenhang wird vor allem auf zwei Aspekte verwiesen: erstens, dass die drohenden Folgen des demografischen Wandels es erforderlich machten, jedes Talent der Gesellschaft zu heben, und zweitens, dass es aus Gründen der gesellschaftlichen Stabilität notwendig sei, wachsender materieller Ungleichheit eine Entfaltung sozialer Dynamik entgegenzusetzen. Das sind berechtigte politische Überlegungen, die den ordnungspolitischen Rahmen einer Gesellschaft betreffen. Vom Ausgangspunkt der Gerechtigkeit jedoch ist der entscheidende Bezugspunkt der Einzelne, die Person. Die zentrale Frage ist, ob es gelingt, ihr und ihren Möglichkeiten gerecht zu werden.
Überhöhte Erwartungen an Schulreformen
Angesichts der Forschungserträge der vergangenen Jahre ist es erstaunlich, dass sich Hoffnungen und Erwartungen bei der Bildungsgerechtigkeit ganz wesentlich auf die Schule konzentrieren. Der zelotische Furor, mit dem durch neue, andere und stets natürlich bessere Schulstrukturen mehr „Gerechtigkeit“ erzwungen werden soll, übersieht die Bedeutung der primären Herkunftsfaktoren. Für England lässt sich beispielsweise durch Längsschnittstudien sehr gut belegen, dass die schulreformerischen Anstrengungen der vergangenen Jahrzehnte auf die Auswirkung der sozialen Herkunft kaum Einfluss genommen haben. Wenn sich überhaupt etwas sagen ließe, dann nur dies: Gerade die egalitär beseelten Schulreformen der 1970er-Jahre waren nicht in der Lage, die Herkunftseffekte auf soziale Aufstiegschancen abzumildern.[4]
Aus der Gerechtigkeitsperspektive sind besonders die Biografien interessant, die nicht durch überbordendes Talent und eindrucksvolle kognitive Potenziale geprägt sind. Blickt man auf Bildungskarriere und die erreichten sozialen Positionen, schlagen die Effekte sozialer Herkunft hier am stärksten durch.[5] Etwas anschaulicher: Ein Grundschüler mit einem Übergangszeugnis voller Einser wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz unabhängig von der sozialen Herkunft auf das Gymnasium wechseln. Bei einem Grundschüler mit einem Notendurchschnitt von 2,3 oder 2,5 wird die Entscheidung aber – jedenfalls dort, wo der Elternwille entscheidend ist – ganz wesentlich von der sozialen Verortung des Elternhauses abhängen. Immer wieder richtet sich der Blick auf die Eltern oder, etwas weiter gefasst, auf die familiären Rahmenbedingungen. Es wäre ein entscheidender Fortschritt in der Debatte über Bildungsgerechtigkeit, wenn man diesem Blickwechsel folgen und die überhöhten Gerechtigkeitserwartungen an Strukturreformen relativieren würde.
Zerrbild „bildungsferne Familie“
Der Perspektivwechsel hin zur Familie führt allerdings nicht zwingend zu einfacheren Antworten. Freilich gibt es das kolportierte Zerrbild einer „bildungsfernen“ Familie, die durch unstete Partnerkonstellationen gekennzeichnet ist, unter Alkohol- und Nikotinsucht leidet und dem Bildungsweg der eigenen Kinder völlig gleichgültig gegenübersteht. Bestimmte Formate des Privatfernsehens, in dem ähnliche Familienmodelle dem „zoologischen Blick“ der Zuschauer ausgesetzt werden, verfestigen dieses Zerrbild. Machte man solche Familienmodelle zum Ausgangspunkt eines bildungspolitischen Handlungsprogramms, würde die einzige Schlussfolgerung in der familiären Entmündigung durch staatliche Stellen liegen. Wo immer möglich, müssten dann familiäre Strukturen durch staatliche oder quasi-staatliche Strukturen paternalistisch ersetzt werden. Weniger drastisch formuliert, schwingt dieser Ansatz bei parteiübergreifenden Hoffnungen, die sich an den Ausbau staatlicher Infrastruktur richten, durchaus mit.
Freilich gibt es völlig desolate Familienstrukturen, die ein Fall für umfassende öffentliche Fürsorge sind. Doch sollte niemand übersehen, dass auch zahlreiche Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status durchaus Bildungsambitionen für ihre Kinder haben. Sie sollten nicht deswegen als „bildungsfern“ bezeichnet werden, weil ihnen Bildung gleichgültig wäre, sondern weil sie aufgrund fehlender eigener Erfahrungen nicht ausreichend vertraut mit den Anforderungen gelingender Bildungskarrieren sind.
Unvermutete Bildungsambition
Eine Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach unter aus der Türkei stammenden Zuwanderern hat diese Bildungsambitionen auch unter der stark vertretenen Gruppe mit niedrigem sozioökonomischem Status klar zeigen können. Zugleich wird bei dieser Gruppe aber große Unsicherheit bei der Frage sichtbar, wie ihre Kinder auf dem Bildungsweg adäquat unterstützt werden könnten.[6]
Der Forschungsbereich des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration hat sich jüngst die Frage gestellt, warum Kinder aus Zuwandererfamilien mit niedrigem sozioökonomischen Status tendenziell später mit dem für die Sprachentwicklung so wichtigen Besuch von Kindertagesstätten beginnen. Ein überraschender Befund dieser Studie lag darin, dass dieses Verhalten nicht auf Unwissenheit, sondern auf Zweifel an der Qualität des Bildungsangebots im frühkindlichen Bereich zurückzuführen ist.[7]
Die hier zutage tretenden Ergebnisse sind insofern ermutigend, als Dispositionen erkennbar sind, an die eine statusermöglichende Politik anknüpfen kann. In jedem Fall wäre es falsch, die hoffnungsvollen Signale familiärer Bildungsambition durch ein staatliches Entmündigungsprogramm zu ersticken. Das zentrale Anliegen der Bildungsgerechtigkeit, individuelle Möglichkeiten bestmöglich zu entfalten, entscheidet sich nicht an der „Gliedrigkeit“ des Schulsystems, sondern an einer „Ermächtigungsstrategie“[8], die Familien mit geringen Bildungsvoraussetzungen partnerschaftlich in frühkindliche und schulische Bildungsprozesse integriert.
An eine solche familiäre Ermächtigungsstrategie dürfen sich keine unrealistischen Erwartungen knüpfen. Ein Elternhaus, das die deutsche Sprache nur unzureichend beherrscht, wird sich auch durch noch so bemühte Intervention nicht in einen Ort verwandeln lassen, an dem optimale Voraussetzungen zum Erwerb der deutschen Sprache vorherrschen. Entsprechende Angebote in Kindertagesstätten sollten in ein System der frühen Hilfen integriert werden.
Die positiven Effekte früh einsetzender Sprachförderung sind wissenschaftlich gut belegt.[9] Was aber qualitativ gute und in ihrer Wirkung anhaltende Sprachförderung ausmacht, ist weniger eindeutig. Auch hier ist Wissenschaft mit den Worten Wilhelm von Humboldts „die nie endende Suche nach dem nie ganz Auffindbaren“, und jede politische Hoffnung auf die eine magische Formel der frühen Sprachförderung verkennt diese fehlende Endgültigkeit wissenschaftlicher Forschung. Vieles spricht dafür, Sprachvermittlung und -förderung viel zentraler in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern zu integrieren. Die eindeutigen Qualitätssignale, die von gelingender Sprachförderung ausgehen, können möglicherweise eine größere Wirkung entfalten als die Zwangssysteme und Sanktionsmechanismen, die in dieser Debatte immer wieder vorgetragen werden.
Überhitzung des Eltern-Ehrgeizes?
Unter dem Begriff der „Helikoptereltern“ ist unter öffentlicher Anteilnahme diskutiert worden, dass manche Eltern aus den mittleren und gehobenen sozialen Schichten ihren Wunsch nach sozialem Statuserhalt oder nach Statusaufstieg in übersteigerte Bildungsambitionen für ihre Kinder übersetzen und diese Ambitionen durch erhebliche persönliche und materielle Unterstützung zu realisieren versuchen. Auch wenn es gelegentlich tatsächlich eine für das Kindeswohl ungünstige Überhitzung elterlichen Ehrgeizes geben kann, ist das große elterliche Interesse am Bildungserfolg der eigenen Kinder grundsätzlich zu begrüßen.
Aus einer Gerechtigkeitsperspektive stellt sich die Frage, ob die größeren intellektuellen und materiellen Ressourcen bestimmter Eltern dazu beitragen, den Abstand zu anderen Familien mit weniger gut ausgestatteten sozialen Verhältnissen zu vergrößern und damit die primären Herkunftseffekte zu zementieren. Selbst wenn die Ressourcenvorteile nicht zu leugnen sind, für den Bildungserfolg spielt es keine grundlegende Rolle, ob ein großes Latinum oder eine Promotion vorhanden ist. Entscheidend ist eine „autoritative Erziehungshaltung“ im Elternhaus, die fordernd ermutigt, anerkennt, erreichbare Ziele setzt und lobt. Hier bieten sich erfolgreiche Ansatzpunkte für eine Familienbildung, die wichtige unterstützende Ressourcen auch in Elternhäusern mit niedrigem sozioökonomischem Status zu mobilisieren versteht.
Die große Herausforderung besteht darin, die vorhandenen Angebote zu vermitteln. Oft wird das nur durch Mittler gelingen können, die das Vertrauen der Familien besitzen. Das vom Bundesfamilienministerium aufgelegte Programm der Elternbegleiter weist in die richtige Richtung. Wo andere Familien im Falle einer Leistungsverschlechterung ohne zu viele Schwierigkeiten einen Nachhilfelehrer finanzieren, bieten sich für Familien, die nicht über entsprechende materielle Voraussetzungen verfügen, zunehmend zivilgesellschaftlicher Initiative entspringende Mentorenprogramme an, die eine schulische Unterstützung anbieten. Die Dichte des Angebots hängt vom jeweils vorhandenen gesellschaftlichen Engagement ab. Noch ist auch nicht ausreichend geklärt, was besonders erfolgreiche Mentorenprogramme auszeichnet. Aber Verbreitung und Qualitätsdiskussion sind in vollem Gange.
Für die schwierigen Entscheidungen an den Übergangsstellen des Bildungsweges, die im deutschen Bildungssystem von besonders großer Bedeutung sind, wird es darum gehen, Entscheidungsoptionen und insbesondere Entscheidungsfolgen so zu formulieren und zu präsentieren, dass auch Eltern ohne ausreichende Bildungserfahrung in die Lage versetzt werden, eine mündige Entscheidung zu treffen, die möglichst wenig von sozialschichtspezifischen Faktoren bestimmt wird. Bildungsgerechtigkeit, das ist die entscheidende Schlussfolgerung, wird nur mit und nicht gegen die Familien zu verwirklichen sein. Der Glaube an Bildungsgerechtigkeit durch Schulstrukturreform trügt.
Mark Speich, geboren 1970 in Bonn, seit 2008 Geschäftsführer der Vodafone Stiftung Deutschland sowie seit 2011 Geschäftsführer des Vodafone Instituts für Gesellschaft und Kommunikation.
[1] Vgl. Blossfeld, Hans-Peter: „Kompetenzentwicklung, Bildungsentscheidungen und Chancengleichheit in Vorschule und Schule – Neue Ergebnisse aus der Forschung zur Bedeutung von Familien im Bildungsprozess“, in: Deißner, David (Hrsg.), Chancen bilden. Wege zu einer gerechteren Bildung. Ein internationaler Erfahrungsaustausch, Wiesbaden 2013, S. 40 f.
[2] Vgl. Boudon, Raymond: Education, Opportunity and Social Inequality: New York 1974.
[3] Zur Relativierung der vermeintlichen Eindeutigkeit des meritokratischen Prinzips siehe Gosepath, Stephan „Chancengleichheit“, in: Vodafone Stiftung Deutschland (Hrsg.): Zwischen Dynamik und Ausgleich. Perspektiven für den sozialen Aufstieg (Transmission 06), Düsseldorf 2012.
[4] Goldthorpe, John/Bukodi, Erzsébet, „Institutional Change and Social Class Inequalities in Educational Attainment. The British Experience since 1945“, in: Deißner, a. a. O., S. 101 – 110.
[5] Vgl. Blossfeld, a. a. O., S. 48.
[6] Vgl. Vodafone Stiftung Deutschland: Zwischen Ehrgeiz und Überforderung. Bildungsambitionen und Erziehungsziele von Eltern in Deutschland. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach, Düsseldorf 2011, S. 18 f.
[7] Vgl. Forschungsbereich des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration: Hürdenlauf zur Kita. Warum Eltern mit Migrationshintergrund ihr Kind seltener in die frühkindliche Tagesbetreuung schicken, Berlin 2013.
[8] Zur erweiterten Bedeutung des Begriffes „Ermächtigung“ siehe Rüdiger Safranski: „In seiner Schrift ‚Freiheit. Ein Plädoyer‘ nennt Joachim Gauck die Kultur der Freiheit eine ‚Lebensform von Ermächtigung‘ und berichtet, wie ihm manche geraten hätten, diesen Ausdruck zu vermeiden. Doch es ist typisch für Gauck, dass er bei ‚Ermächtigung‘ bleibt. ‚Ermächtigung‘ gehört nicht nur zum politischen, sondern auch zum existenziellen Vokabular, ebenso wie Freiheit nicht nur ein politisches Regelwerk, sondern eine Lebensmacht bedeutet. Wir leben aus ihr.“ in: Die Welt, 16. März 2012.
[9] Siehe etwa Dearin, Eric/Mc Cartney, Kathleen/Taylor, Beck: „Does Higher Quality Early Child Care Promote Low Income Children’s Math and Reading Achievements in Middle Childhood?“, in: Child Development 80 (2009), Nr. 5, S. 1329 – 1349.