Die moderne Gesellschaft ist durch eine endlose Zunahme an Möglichkeiten in der Ernährung gekennzeichnet. An nahezu jedem Ort und zu jeder Zeit kann heute in ungewöhnlicher Fülle und Vielfalt gegessen und getrunken werden. Damit ist eine enorme Zunahme des Angebots dessen, was gegessen werden kann, verbunden. Auf der Nachfrageseite drückt sich dies durch vielfältige neue Ernährungsstile und -trends aus – wie etwa vegan, vegetarisch, paleo, bio oder nachhaltig. Hinsichtlich der Ernährung lässt sich die moderne Gesellschaft deshalb als Überflussgesellschaft beschreiben: Für den überwiegenden Teil der Weltbevölkerung herrscht kein Mangel an Nahrungsmitteln, sondern sie hat es mit einem Überangebot zu tun. Mit der Zunahme an Möglichkeiten, was, wo, wie und wann gegessen werden kann, erweitert sich der Erwartungshorizont auch beim Essen und Trinken. Ist das noch normal?
Eine wesentliche Ursache hierfür lässt sich in der steten Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teil- und Funktionssysteme als genuines Merkmal der modernen Gesellschaft ausmachen. Diese Entwicklung wird zusätzlich durch Megatrends wie die Globalisierung und die Digitalisierung angetrieben. Die Welt rückt in allen Belangen zusammen: Alle sind erreichbar, alles kann besorgt werden, und alles kann man wissen, und zwar jederzeit. Die Reflexionspotenziale werden durch Massenmedien gesteigert, sodass Ernährung in den Kontext weiterer existenzieller Probleme gerückt wird, allem voran der Gesundheit.
Nach Angaben des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW 2018) fragt fast jeder zweite Deutsche in unregelmäßigen Abständen Bio-Produkte nach. Deutschlandweit lassen sich mittlerweile mehr als 480 Öko-Supermärkte zählen. Doch die wachsenden Bio-Umsätze des Lebensmitteleinzelhandels in Deutschland, die derzeit auf sechs Milliarden Euro pro Jahr geschätzt werden, können nur noch durch zusätzliche Importe etwa aus Argentinien, Australien, Indien und China realisiert werden. Nicht nur die Gelegenheiten und Produkte haben in ihrer Vielfalt zugenommen, auch die Distribution hat sich global ausgeweitet. Diese Expansion hat Folgen für die Ernährungspraktiken des Alltags und berührt daher sowohl das, was man für normal halten, als auch das, vor dem man Ängste entwickeln kann.
Diese Entwicklung ist mit einer Zunahme an Komplexität verbunden, die von vielen als Zunahme von Unsicherheit und Unübersichtlichkeit empfunden wird. Neue Produkte, globale Produktionsstandorte, neue Herstellungsverfahren und Inhaltsstoffe oder auch virtuelle Supermärkte verlangen ständige Neuorientierungen der Konsumierenden und brechen mit „alten“ Selbstverständlichkeiten. Bio-Erdbeeren zur Weihnachtszeit erscheinen dann nicht mehr verwunderlich. Gleichwohl werfen solche Entwicklungen paradoxe, irritierende Fragen auf, wie die nach der Nachhaltigkeit von Bio-Produkten. Die Erweiterung des Erwartungshorizonts geht also einher mit einer zunehmenden Reflexion über die Ernährung, die ihren Ausdruck in den Fragen findet, was man essen kann, wie viel wovon und ob das alles überhaupt gesundheitlich zuträglich und umweltethisch vertretbar ist.
Die durch das Ernährungssystem erzeugten Unsicherheiten müssen von jedem Konsumenten und jeder Konsumentin gelöst werden. Eine Möglichkeit besteht darin, eine restriktive, hoch kontrollierte Ernährung zu praktizieren, die aber auch pathologische Folgen haben kann, etwa Essstörungen wie Anorexie und Bulimie oder Orthorexie und Self-Tracking. Diverse Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten, darunter Laktose-, Gluten-, Fruktose- und Histaminintoleranzen, lassen sich hier ebenso einordnen. Auffällig ist, dass die Anzahl der diagnostizierten Krankheitsfälle in keinem angemessenen Verhältnis zu den stetig wachsenden Umsätzen entsprechender Produkte steht. Handelt es sich hierbei um eine Epidemie an Ernährungshypochondern? Nahrungsmittelunverträglichkeiten scheinen inzwischen zum Repertoire individualistischer Selbstdarstellung zu gehören, um sich von anderen zu unterscheiden. Der Überfluss an Nahrungsmitteln führt darum nicht nur zu einer allgemeinen Verunsicherung, sondern macht Ernährung auch verfügbar für Identitätsgewinne. Ernährungstrends und individuelle Ernährungsstile sind nicht nur Ausdruck einer Zunahme von Komplexität. Sie versprechen auch eine Reduktion von Komplexität, indem die Vielzahl der Möglichkeiten aus- und eingegrenzt wird mit der Absicht, Entscheidungssicherheit wiederzuerlangen. Darum werden Lebensmittel heute vor allem darüber definiert, was in ihnen nicht (sic!) enthalten ist, indem sie als „frei von“ deklariert werden. Mit Ernährungstrends werden jeweils Ordnungssysteme aufgestellt, die Produktions-, Zubereitungs- oder Speiseregeln definieren. So zeichnen sich Bio-Produkte durch bestimmte Qualitätsstandards in der Produktion aus, die durch verschiedene Anbauverbände kontrolliert und zertifiziert werden. Eine vegane Ernährungsweise hingegen definiert sich in erster Linie darüber, was gegessen werden darf und was nicht, nämlich ausschließlich pflanzliche,
das heißt nicht tierische Nahrungsmittel.
Essen und Ideologie
Allen Ernährungstrends und sich an ihnen orientierenden Ernährungsstilen ist gemeinsam, dass eine Beschränkung dessen, was gegessen wird, mit dem Versprechen der Erhöhung von Sicherheit verbunden wird: Weniger ist mehr. Indem sich solche Ernährungsvorschriften schon immer mit Ideologien und dann mit Religionen verbunden haben, trugen sie auch stets zu Identitätsausbildungen bei. Der alte Zusammenhang von Identität und Sicherheit beim Essen und Trinken ist insofern nicht neu, erlangt aber angesichts des Bedarfs an Orientierung auf dem Ernährungsmarkt enorme Aktualität. Durch die sich so einstellende Vielfalt von Vorstellungen über Ernährungsordnungen rückt allerdings das eigentliche Ziel der Übersichtlichkeit in immer weitere Ferne.
Die Absicht, mit neuen Ordnungssystemen Komplexität zu reduzieren, wird durch den weiteren Komplexitätsaufbau infolge zunehmender Ausdifferenzierung konterkariert. Darum neigen die Ordnungssysteme wie alle Ideologien zu einer immer strengeren Auslegung. So reicht es nicht mehr aus, wenn in der Bio-Produktion ökologische Produktionsstandards eingehalten werden. Auch die Einhaltung von Sozialstandards, wie zum Beispiel faire Erzeugerpreise und soziale Arbeitsnormen, sind wichtige Kaufkriterien für die Bio-Kundschaft (Ökobarometer 2017). Dem Verdacht der Nichtnachhaltigkeit von Bio-Produkten aus Übersee aufgrund der langen Transportwege wird damit begegnet, dass regionale Bio-Produkte als „optimal“ gelten.
Hierbei nehmen Label oder Gütesiegel und ihre Zertifizierungs- und Kontrollsysteme (wie das EU-Bio-Siegel oder auch das V-Label, das Qualitätssiegel für vegane und vegetarische Produkte) eine wichtige Funktion ein. Als Qualitätsgaranten sollen sie eine Auswahl- und Entscheidungshilfe darstellen und somit Vertrauen im unübersichtlichen und unsicheren Ernährungssystem schaffen. Mittels dieser Vertrauen schaffenden Systeme und der damit erzeugten Sicherheiten, die allerdings immer nur temporär sind und deshalb eher Sicherheitssuggestionen darstellen, kann eine gewisse Normalisierung in der Ernährung in begrenzten Hinsichten hergestellt werden. Gleichzeitig verliert sich dieses Potenzial wieder, wenn es zum vielfach besprochenen Labeldschungel kommt und ein „Label für Labels“ notwendig erscheint.
Bio ist normal, dient aber auch zur Distinktion
Trotz des permanenten Komplexitätsaufbaus infolge sozialen Wandels oder gerade durch ihn kommt es zur Stabilisierung des Erwartungshorizonts in der Ernährung: Bio-Produkte sind hierbei inzwischen nicht mehr wegzudenken. 2017 wuchs die Zahl aller deutschen Bio-Höfe um 7,5 Prozent auf insgesamt 29.174 an. Mehr als jeder zehnte Hof in Deutschland wird heute von einem Bio-Bauern bewirtschaftet (BÖLW 2018). Nach aktuellen Schätzungen gibt es derzeit 1.375.967 Hektar bewirtschaftete heimische Ökofläche; das ist ein Anteil von 8,2 Prozent an der gesamten landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland. Erstmals wurden 2017 mit Bio-Produkten über zehn Milliarden Euro umgesetzt, dies entspricht einem Anstieg um rund sechs Prozent (BÖLW 2018). Bio-Produkte gehören damit längst in den Erwartungshorizont der Konsumierenden in deutschen Supermärkten und Discountern, der Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung. Bio gehört zur normalen Vielfalt des Nahrungsmittelangebots dazu.
Gleichwohl lässt sich beim Bio-Konsum wie bei den anderen Ernährungstrends zeigen, dass dieser lediglich für bestimmte soziale Milieus zur Normalität gehört. Laut Ökobarometer 2017 zählen immerhin 32 Prozent der Deutschen zur Nicht-Bio-Kundschaft, die sich überproportional durch ein geringes Haushaltsnettoeinkommen und ein niedriges Bildungsniveau charakterisieren lässt. Der Konsum von Bio-Lebensmitteln ist hingegen vorrangig eine Angelegenheit von Frauen, Besserverdienenden und höher Gebildeten. Bio-Konsumierende unterscheiden sich auch nach ihren Wertpräferenzen und Kaufmotiven voneinander: Für die überzeugten Intensivkonsumierenden (elf Prozent) stehen vor allem Umweltschutzmotive, regionale und soziale Aspekte im Vordergrund. Die bewusste Bio-Stammkundschaft fokussiert vermehrt auf den eigenen Nutzen – wie Qualität und Geschmack (23 Prozent). Bei den zufälligen Gelegenheitskonsumierenden lassen sich keine spezifischen Kaufmotive ausmachen (34 Prozent).
Bio-Konsum dient also nicht nur dem Sattwerden, sondern im entscheidenden Maße auch der individuellen Selbstbeschreibung, der Verfertigung von Identität. Die „Definition des Selbst“ über die Auskunft, worauf man bei der Ernährung Wert legt und was man sich leisten kann, erfolgt dabei immer in Unterscheidung von und Abgrenzung zu anderen. Die Moralisierung des Bio-Konsums ist dann Teil der kollektiven Identitätsherstellung. Die Normalität des Bio-Angebots kann aber auch dazu dienen, den expliziten Nichtkauf als identitätsbildend auszustellen.
Literatur
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2017): Ökobarometer 2017, www.bmel.de/ SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Oekobarometer2017.pdf?__blob=publicationFile.
Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW 2018): Zahlen – Daten – Fakten. Die Bio-Branche 2018, www.boelw.de/fileadmin/media/pdf/Themen/ Branchenentwicklung/ZDF_2018/ZDF_2018_Inhalt_ Web_Einzelseiten_kleiner.pdf.
-----
Jana Rückert-John, geboren 1969 in Frankfurt an der Oder, Professorin für die „Soziologie des Essens“ an der Hochschule Fulda.