Es gehört zu den Standardritualen der medizin- und bioethischen Debatte, neue Erkenntnisse oder technische Verfahren auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften entweder euphorisch zu bejubeln oder aber wegen der mit ihnen verbundenen Gefahren in apokalyptischer Manier pauschal zu verteufeln. Beide Einstellungen sind aufgrund ihrer Einseitigkeit wenig hilfreich, wenn es darum geht, ein realistisches Bild von einer äußerst vielschichtigen Entwicklung zu gewinnen, deren Ambivalenz uns dazu nötigt, die Chancen und Risiken auf den unterschiedlichen Handlungsfeldern möglichst differenziert wahrzunehmen. Genau dies soll im Folgenden an zwei aktuellen Beispielen geschehen, die zum einen den Bereich der Pränataldiagnostik und zum anderen den Umgang mit sogenannten Big Data-Anwendungen im Gesundheitsbereich betreffen.
Nicht-Invasive Pränataldiagnostik (NIPT)
Die rasante Entwicklung der nicht-invasiven genetischen Frühdiagnostik, die zwar nur einen Teil der Pränataldiagnostik ausmacht, aber gleichwohl mit der für die nähere Zukunft zu erwartenden kassenärztlichen Zulassung des sogenannten PraenaTests zum Nachweis der Trisomien 13, 18 und 21 in eine neue Phase eintritt,1 legt aus ethischer Perspektive wenigstens die folgenden drei Forderungen nahe:
Erstens zeigt sich immer deutlicher, dass die in der derzeitigen fachwissenschaftlichen Debatte vorherrschende rein individualethische Betrachtung der Pränataldiagnostik zu kurz greift und durch eine sozialethische Analyse zu ergänzen ist. Innovationen wie der PraenaTest reagieren nicht einfach nur auf neue humangenetische Erkenntnisse und individuelle Problemlagen, sondern sind auch Reflex einer bestimmten gesellschaftlichen Situation, in der immer ältere Frauen letztlich immer weniger Kinder gebären. So verständlich es sein mag, dass sich Paare vor allem dann verstärkt um die Gesundheit ihres Wunschkindes sorgen, wenn sie selbst bereits fortgeschrittenen Alters sind und aller Voraussicht nach lediglich ein einziges Kind haben werden, so notwendig ist es auch, nach den sozioökonomischen und kulturellen Ursachen der in Deutschland besonders ausgeprägten und von den Betroffenen selbst keineswegs nur positiv erlebten Vertagung der Eheschließung und der damit einhergehenden extrem niedrigen Reproduktionsrate zu fragen.
Soll die Diskussion um Art und Umfang der Pränataldiagnostik nicht schon aus methodischen Gründen zu kurz greifen, dann bedarf es der Einbeziehung all jener überindividuellen Faktoren (wie zum Beispiel der schlechten Vereinbarkeit von weiblicher Erwerbsund Familienarbeit infolge allzu starrer arbeitsrechtlicher Regelungen oder der wachsenden Instabilität von Beziehungen als Folge des kulturellen Leitbilds der sogenannten seriellen Monogamie), die ursächlich die biographisch späte Realisierung des eigenen Kinderwunsches mitbedingen.
Zweitens ist selbst dort, wo es um die konkrete individuelle Entscheidung einer Schwangeren zum Umgang mit neuen pränataldiagnostischen Möglichkeiten geht, darauf zu achten, dass im Rahmen der erforderlichen Aufklärung nicht nur die verschiedenen medizinischen Vor- und Nachteile sowie die psychosozialen Folgen des jeweiligen Verfahrens sachgerecht zur Sprache kommen, sondern auch dessen moralische Implikationen unverkürzt offengelegt werden. Letzteres scheint zunehmend dadurch gefährdet, dass infolge partikularer Interessen nur selektiv bestimmte Aspekte – wie vor allem die reproduktive Autonomie der Schwangeren – akzentuiert und andere konkurrierende Werte – wie der Lebensschutz für das ungeborene Kind – ausgeblendet werden. Da die reproduktive Autonomie jedoch dort ihre Grenze findet, wo grundlegende Rechte Dritter beeinträchtigt werden, kommt es entscheidend darauf an, auch die Perspektive des Kindes als Subjekt von Menschenwürde und elementarer Grundrechte in die Betrachtung einzubeziehen.
Schwangerschaft auf Probe?
Zwar ist ein elterliches Wissen um die genetische Ausstattung des ungeborenen Kindes trotz fehlender Einwilligung der Betroffenen überall dort zulässig, wo die Durchführung bestimmter diagnostischer Untersuchungen die notwendige Voraussetzung für die Einleitung dem Kindeswohl dienender Therapiemaßnahmen bildet, doch trifft diese Konstellation auf den PraenaTest allein schon deswegen nicht zu, weil hier eindeutig die Eigeninteressen der Eltern im Vordergrund stehen und kein Bezug zu irgendwelchen Therapiemaßnahmen erkennbar ist. Der verständliche Wunsch der Eltern nach einem gesunden Kind rechtfertigt ebenso wenig wie deren Angst vor subjektiver Überforderung durch die notwendige Fürsorge für ein krankes Kind das Verhaltensmuster einer Schwangerschaft auf Probe oder die Einstellung einer konditionierten Elternschaft, die die Annahme des Kindes vom Grad seiner Gesundheit oder dem Vorhandensein anderer gewünschter Eigenschaften (Geschlecht, Aussehen et cetera) abhängig macht.
Vielmehr gilt, dass mit dem Akt der Zeugung die prinzipielle Bereitschaft zur Annahme des Kindes verbunden sein muss, da dieses Kind ungeachtet seiner entwicklungsbedingten extremen Abhängigkeit von seinen Eltern einen Selbstzweck darstellt, der dem personalen Status seiner Erzeuger prinzipiell ebenbürtig ist.
Das bedeutet keineswegs, dass die im recht verstandenen Konzept verantworteter Elternschaft enthaltene besondere moralische Beanspruchung der Eltern zwangsläufig auf deren Überforderung hinauslaufen muss. Denn obwohl die Eltern zweifellos die primär Verantwortlichen dafür sind, unnötigen Schaden von ihrem Kind fernzuhalten und für seine gedeihliche Entwicklung zu sorgen, dürfen sie gerade im Fall einer gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigung ihres Kindes durch Krankheit oder Behinderung keinesfalls mit dieser besonderen Belastung alleingelassen werden. Neben den Eltern selbst sind auch Familienangehörige, Freunde, medizinisch-pflegerisches Fachpersonal, kommunale Einrichtungen und letztlich die gesamte Gesellschaft sowie der Gesetzgeber dafür mitverantwortlich, dass die Lebensqualität behinderter Menschen schrittweise verbessert wird und ein insgesamt inklusionsfreudiges soziales Klima entsteht.
Strikte Indikationsbindung
Drittens sollte die rasante Entwicklung auf dem Gebiet der genetischen Frühdiagnostik besser als bisher mittels einer ethisch sensiblen sozialwissenschaftlichen Begleitforschung auf ihre tatsächlichen gesellschaftlichen Auswirkungen hin untersucht werden. Solange in Ermangelung belastbarer Daten Unklarheit darüber herrscht, ob und inwiefern die neuen Möglichkeiten genetischer Frühdiagnostik dazu führen, einen Einstellungswandel zur Bewertung eines Lebens mit Krankheit und Behinderung zu induzieren oder zu verstärken und damit die gesellschaftliche Solidarität mit Behinderten zu untergraben, dürfte es schwerfallen, geeignete Schritte zur nachhaltigen Verbesserung der in diesem Zusammenhang erforderlichen umfassenden Aufklärung und Beratung betroffener Eltern vor, während und nach Inanspruchnahme genetischer Testverfahren zu implementieren. Es geht nicht an, dass der Bund die Entwicklung pränatal-diagnostischer Verfahren wie des PraenaTests mit Steuermitteln subventioniert, dann aber vor den Folgen dieser Entwicklung die Augen verschließt. Schon aus Gründen der Kohärenz unserer Rechtsordnung darf es eingedenk der auch für unser Land geltenden UN-Behindertenkonvention nicht zu einem halbierten Behindertenschutz kommen, der die Lebenssituationen der geborenen Menschen mit Behinderung zwar kontinuierlich verbessert, die noch ungeborenen Behinderten aber einer immer engmaschigeren Selektion unterwirft und damit massiv diskriminiert.
Um zu verhindern, dass medizinisch nicht sachkundige Schwangere beziehungsweise Paare unter dem Druck einer einseitig von Herstellerinteressen gesteuerten Kommunikation immer früher zur Durchführung genetischer Tests gedrängt werden oder diese von sich aus zur Befriedigung eines vermeintlichen Sicherheitsbedürfnisses selbst einfordern, bedarf es zudem einer strikten Indikationsbindung solcher Verfahren an das Vorliegen einer eng definierten Risikosituation, um schädliche Ausweitungseffekte in Richtung eines generellen Screening-Verfahrens zu verhindern.
Big Data im Gesundheitswesen
Ein zweiter für den politischen Gestaltungsauftrag wichtiger Bereich der aktuellen medizinethischen Diskussion betrifft die zunehmende Bedeutung von Big Data-Anwendungen im Gesundheitsbereich. Aus der Fülle der einschlägigen Herausforderungen seien hier mit der medizinischen Grundlagenforschung, der Entwicklung von Medizin- und Pflegerobotern sowie der zunehmenden Verbreitung von Gesundheits-Apps und verschiedenen Wearables nur drei sehr verschieden gelagerte Handlungsfelder herausgegriffen, die zwar alle mit der Möglichkeit der Verarbeitung großer Datenmengen zu tun haben, im Einzelnen aber sehr unterschiedliche ethische Fragen aufwerfen.
Grundlagenforschung
In der medizinischen Grundlagenforschung geht es vor allem darum, große Datenmengen zur gezielten Mustererkennung einzusetzen, um auf diesem Wege neue Erkenntnisse über die Entstehung und den Verlauf krankhafter Prozesse zu gewinnen. Da die genauen kausalen Wirkmechanismen der meisten komplexen Erkrankungen bislang weitgehend im Dunkeln liegen, kommt dem Bemühen um einen Wissenszuwachs durch die gezielte Sammlung und Zusammenführung großer Datenmengen sowohl für Diagnostik und Prädiktion als auch für die Durchführung von Therapiemaßnahmen enorme praktische Bedeutung zu, von der die Patienten in wenigstens zweifacher Weise erheblich profitieren.
Zum einen kann durch verbesserte Stratifizierung relevanter Subgruppen einer (zum Beispiel onkologischen) Erkrankung im Sinne der Schadensvermeidung erreicht werden, dass bestimmte Patienten nicht länger unnötig belastenden Behandlungsversuchen ausgesetzt werden, die sich an unspezifischen Durchschnittswerten orientieren und daher für sie keinen Nutzen erwarten lassen. Zum anderen können damit im Sinne des medizinethischen Grundsatzes der Wohltätigkeit für verschiedene Erkrankungen neue maßgeschneiderte Therapiekonzepte entwickelt werden, um so dem Ziel einer individualisierten Medizin schrittweise näherzukommen. Dazu ist es erforderlich, nicht nur bestehende (technische und rechtliche) Hindernisse für eine bessere Datenintegration bei gleichzeitiger Sicherstellung einer hohen Datenqualität zu überwinden, sondern auch den legitimen Datenschutzinteressen der Patienten gerecht zu werden. Da das traditionelle Prinzip der Datensparsamkeit und der strikten Zweckbindung unter den gegenwärtigen Big Data-Bedingungen seine Plausibilität im Bereich der Grundlagenforschung weitgehend verloren hat und sich zunehmend kontraproduktiv auswirkt, könnte eine bessere Aufklärung der Patienten in Verbindung mit einem gestuften Einwilligungsverfahren dazu beitragen, die für den erhofften Erkenntnisfortschritt notwendige Sekundärnutzung von Patientendaten unter Wahrung grundrechtlicher Schutzgüter der Betroffenen zu ermöglichen.
Gesundheits-Apps und Wearables
Ganz anders stellen sich die Herausforderungen im Bereich der zumeist privat genutzten Gesundheits-Apps sowie der verschiedenen, dem Self-Tracking dienenden sogenannten Wearables dar, die von primär gewinnorientierten Unternehmen in immer größerer Zahl angeboten werden und ebenfalls zur Generierung großer Datenmengen verwendet werden. Da gerade gesundheitsbewusste Bürgerinnen und Bürger diese neuen Möglichkeiten verstärkt nutzen, um die eigene Fitness zu steigern und einen bezüglich Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsprofil präventiven Lebensstil zu pflegen, sollte durch einschlägige Zertifizierungsmaßnahmen nicht nur die Vergleichbarkeit der diversen Angebote verbessert, sondern auch deren Qualität kontinuierlich überwacht werden, um die Transparenz auf diesem immer unübersichtlicheren Markt zu erhöhen. Schließlich ist mit Blick auf die Vertragsgestaltung von Krankenversicherungen darauf zu achten, dass die an sich zu begrüßende Stärkung des Präventionsgedankens nicht zu diskriminierenden Effekten führt, die den solidargemeinschaftlichen Charakter unseres Versicherungssystems schleichend unterminieren.
Medizin- und Pflegeroboter
Ein letztes hier noch zu erwähnendes Innovationsgebiet betrifft die Medizin- und Pflegeroboter, deren Leistungsfähigkeit ebenfalls auf dem maschinellen Lernen auf der Basis großer Datenmengen beruht. Selbst wenn die technische Entwicklung im Vergleich zu den weithin automatisierten Mobilitätskonzepten, etwa in der Luftund Raumfahrt, noch in den Kinderschuhen steckt, ist doch bereits jetzt absehbar, dass es auch im Bereich von Medizin und Pflege eine Reihe von interessanten Anwendungsfeldern für den Einsatz von Robotern gibt, die genutzt werden sollten. Sie reichen von einfachen Hol-, Bring- und Hebediensten im Bereich der Pflege über bestimmte Kommunikationsangebote mit neurologisch eingeschränkten Patientengruppen zur zeitlichen Entlastung von professionellen Pflegekräften bis hin zur ärztlichen Unterstützung bei diagnostischen Verfahren (zum Beispiel durch Muster- und Bilderkennung) und zur Durchführung einzelner operativer Techniken, deren maschinelle Ausführung der traditionellen Handarbeit des menschlichen Operateurs in vielen Bereichen deutlich überlegen sein kann.
Die durch die zunehmende Integration von Ingenieurwissenschaft, Künstliche-Intelligenz-Forschung, leistungsstarken Datenverarbeitungssystemen und Medizin vorangetriebene Entwicklung ist aus ethischer Perspektive so lange nicht nur unbedenklich, sondern wegen der damit eröffneten Möglichkeiten ausdrücklich zu begrüßen, wie ein menschlicher Letztentscheider die Kontrolle über die einzelnen Handlungssequenzen behält, bei auftretenden Problemen der technischen Assistenzsysteme situationsadäquat reagieren kann und die jeweiligen haftungsrechtlichen Verantwortlichkeiten klar geregelt sind.
Mit Blick auf die dynamische Entwicklung in den beiden hier herausgegriffenen exemplarischen Bereichen von nicht-invasiver Pränataldiagnostik (NIPT) und Big Data getriebenen Innovationen im Gesundheitswesen zeichnen sich aus ethischer Sicht zwei unterschiedliche Grenzen zulässiger Handlungsweisen ab: Die eine, schlechthin fundamentale Grenze wird dort überschritten, wo diagnostisches Wissen sich zunehmend verselbstständigt, nicht mehr an das Kindeswohl gebunden wird und zunehmend als reines Selektionsinstrument fungiert, um bestimmten Individuen faktisch das Lebensrecht abzusprechen. Die andere, ebenfalls unbedingt zu achtende Grenze gebietet es, die Subjektstellung des menschlichen Individuums dadurch zu bewahren, dass zwar verschiedene technische Unterstützungs- und Assistenzsysteme zum Beispiel pflegerische und ärztliche Akteure in immer größerem Umfang entl