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Zum 150. Jahrestag der Reichs­gründung 1871

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Wir leben in unruhigen Zeiten. Auf die Turbulenzen um den Euro folgte die Flüchtlingskrise, und nun fegt ein unheimliches Virus durch das Land. Nach Pegida- und Fridays for Future-Protesten sehen wir uns Demonstrationen gegenüber, die die von der SARS-CoV-2-Pandemie ausgelösten Aufrufe der Bundesregierung zu Hygiene und Abstandhalten als Ausdruck einer autoritären Staatsidee brandmarken. Damit nicht genug, werden demokratische Errungenschaften wie Gewaltenteilung, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit angefochten, antisemitische Ressentiments sind auch in der Mitte der Gesellschaft wieder salonfähig. Diskriminierte oder marginalisierte Gruppen unterfüttern ihren Ruf nach individuellen Identitäten mit lautstarker Kritik gegen Andersdenkende. Aktivisten einer sogenannten Cancel Culture fordern Auftrittsverbote für unliebsame Künstler oder Entlassungen von Professoren und Journalisten. Im Namen einer höheren Gerechtigkeit droht der Liberalismus unter die „Fuchtel des Jakobinismus“ (Josef Joffe) zu geraten, dessen Angriffe freilich nicht nur von einer postmodernen, identitätspolitischen, politisch korrekten Linken ausgehen, sondern auch von einer autoritären, nationalistischen, populistischen Rechten.

Was hat die Gründung des Deutschen Kaiserreiches vor 150 Jahren mit all diesen Beobachtungen zu tun? Auf den ersten Blick vermutlich nichts, doch bei genauerem Hinsehen ergibt sich ein anderes Bild, und zwar nicht nur, weil bei den Demonstrationen „Reichsbürger“ mitmarschieren, die den im Januar 1871 gebildeten Staat als einzig legitimen anerkennen. Bedeutsamer wirken die vielfältigen Verknüpfungen der genannten Entwicklungen mit der seit einigen Jahren geführten Dekolonisierungsdebatte und einem jüngst in den Fokus geratenen Hass-Objekt: Otto von Bismarck. Wie in einem Brennglas zeigt der im Zuge der Bewegung Black Lives Matter verschärfte Kampf für oder gegen den Abriss der einst ihm zu Ehren aufgestellten Denkmäler oder Straßenschilder den in mancherlei Hinsicht beunruhigenden Zustand unseres Gemeinwesens: die befremdliche Vermischung von wissenschaftlicher Expertise und ostentativem Hang zu moralisierendem Aktivismus ebenso wie die Neigung zu einem Orwell’schen Clean Sweep einer Gegenwart, die die Ambivalenzen ihrer Herkunft nicht aushält. Der immerwährende Strukturwandel der Moderne scheint eine „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) hervorzubringen, deren Protestwille zu einem „großen Nein“ anschwillt (Armin Nassehi), einem Nein zum Interessenausgleich und zum Kompromiss.

Not tun eine Resolidarisierung sowie auch eine Rückkehr zu einer demokratischen Streitkultur, zu der mit Blick auf die Reichsgründung und den „Reichsgründer“ folgende Fragen Anregungen geben möchten: Erstens: Wer war Bismarck? Zweitens: Welche Lehren können wir heute aus dem Handeln des preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzlers ziehen? Und drittens: Wie sollten wir erinnerungspolitisch mit dem Erbe des Mannes aus der Altmark umgehen?

 

„Heros und Heulhuber“

 

„Er ist die denkbar interessanteste Figur, ich kenne keine interessantere“, notierte der preußische Romancier Theodor Fontane über seinen Zeitgenossen Otto von Bismarck. Echte Zuneigung empfand der Dichter gegenüber dem Staatsmann allerdings nicht. Dazu war ihm dessen „Mischung […] von Heros und Heulhuber“ doch zuwider. Fontane stand mit dieser Meinung nicht allein. Seit seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten 1862 oszillierte Bismarcks Image zwischen Bewunderung und Ablehnung. Als der fast 75-jährige Reichskanzler 1890 von Kaiser Wilhelm II. aufs politische Altenteil geschickt wurde, herrschte in der Bevölkerung Bedauern wie auch Erleichterung.

Endlich schien der Weg frei für eine Politik, die der Dynamik der Zeit mehr als jene Bismarcks entsprach. Schon bald aber ging der unstete Schaffensdrang des jungen Monarchen manchem Deutschen zu weit. Und je mehr Ernüchterung, ja Unzufriedenheit der „Neue Kurs“ Wilhelms II. entfachte, desto stärker verklärte sich das Bild vom Eisernen Kanzler. Nach Bismarcks Tod 1898 nahm der Kult geradezu mythische Züge an. Als Leitfigur eines überhitzten Nationalismus stieg der Alte im Sachsenwald zu einem nationalen Staatssymbol auf.

 

Ambivalenz von Tradition und Moderne

 

Nach den Erschütterungen der beiden Weltkriege erlebte das Bismarck-Bild vier markante Wandlungen: erstens die Verdammung des Heros zum Dämon und Vorbereiter Hitlers im Anblick der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) von 1945; zweitens die Überwindung der Dichotomie von blinder Bewunderung und polemischer Verurteilung 1980 durch Lothar Galls Biographie vom „weißen Revolutionär“, der sich zwar dem Ausbau der Machtstellung der preußischen Krone verschrieb, zugleich aber die Modernisierung des Staates wie auch der Gesellschaft vorantrieb und am Ende die Kräfte, die er gerufen hatte, einem „Zauberlehrling“ gleich, nicht mehr zu bändigen wusste; drittens die nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 notwendige Korrektur der von Gall vertretenen These vom Kaiserreich „als extrem unstabilem und kurzlebigem historischem Gebilde“ und schließlich viertens der nach der Jahrtausendwende einsetzende Trend zur Historisierung Bismarcks, getragen von dem Anspruch, ihn „so zu beurteilen, wie andere große historische Gestalten auch: mit Interesse, Faszination und Respekt, möglichst gerecht, selten einmütig, unter Kriterien seiner Zeit und der unsrigen“ (Jürgen Kocka).

Heute sehen wir Bismarck als eine „dominante Figur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (Henry A. Kissinger), die wie kaum eine andere die Ambivalenz von Tradition und Moderne verkörperte. Von Herkunft und Prägung erzkonservativ, führte ihn seine „Fähigkeit zum differenzierteren strategischen Denken“ (Gerhard Stoltenberg) über die Rolle des bloßen Bewahrers der bestehenden Verhältnisse weit hinaus. Als seine zentralen staatsmännischen Leistungen gelten die deutsche Einheit, die Errichtung einer europäischen Friedensordnung und der Erlass einer hochmodernen Sozialgesetzgebung.

Deutlich kritischer fällt das Urteil über Bismarcks Innenpolitik aus. Zwar gewährte die von ihm maßgeblich formulierte Verfassung den Deutschen das allgemeine, gleiche und geheime Männerwahlrecht, doch die parlamentarische Demokratie blieb ihm ein Gräuel. Mit der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes, der Grundlegung des Sozialstaats und der Ausbildung einer funktionierenden föderalen Ordnung trug er maßgeblich zur inneren Einigung bei. Sein vom „cauchemar des révolutions“ angetriebener Feldzug gegen den politischen Katholizismus, die Sozialisten und nationale Minderheiten warf indes tiefe gesellschaftliche Gräben auf. Inwieweit Bismarck eine „problematische Tendenz“ deutscher Geschichte verstärkte, „die Macht über das Recht, das Militärische über das Zivile und die staatliche Exekutive über die parlamentarisch-demokratische Willensbildung des Volkes“ stellt (Andreas Wirsching), bleibt auch dann eine wichtige Frage, wenn daraus kein direkter Weg vom Kaiserreich zum „Dritten Reich“ abgeleitet wird.

„Man kann Geschichte überhaupt nicht machen“, beteuerte Bismarck 1892, „aber man kann immer aus ihr lernen.“ Historische Erfahrung mache nicht klug für ein anderes Mal, sondern weise für immer, ergänzte sein Zeitgenosse, der große Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt 1905. Die Auseinandersetzung mit Bismarcks faszinierender, von Widersprüchen nicht freier Persönlichkeit erscheint auch gut 200 Jahre nach seiner Geburt hilfreich, ja notwendig, gehörte er doch zu den wirkmächtigsten Gestalten und Gestaltern der deutschen Geschichte. Noch immer bewegen wir uns in dem von ihm geschaffenen politischen Raum der föderal und sozialstaatlich organisierten deutschen Nation.

 

Einheit vor Freiheit

 

Wie kein zweiter Staatsmann beeinflusste Bismarck die Geschicke Deutschlands im 19. Jahrhundert und blieb dennoch von einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den großen historischen Bewegungskräften durchdrungen. „Der Mensch kann den Strom der Zeit nicht schaffen und nicht lenken, er kann nur darauf hinfahren und steuern“, lautete eine seiner politischen Lebensmaximen. Kaum weniger wichtig war für ihn das Gebot eines ideologiefreien, pragmatischen Handelns, das er in die berühmten Worte kleidete: „Wir müssen mit den Realitäten wirthschaften und nicht mit Fictionen.“ Wenn der Staatsmann beiden Prinzipien folge, davon war Bismarck überzeugt, könne er die von ihm als richtig erkannten Interessen des Staates mit Mut, Tatkraft und Optimismus auch durchsetzen. Als völlig falsch empfand er hingegen die Auffassung, „in der Politik nicht wenden zu dürfen“, bot die Wende doch die einzige Chance, „aus einer […] Sackgasse herauszukommen“. Es fällt nicht schwer, in der jüngeren Vergangenheit Beispiele dafür zu finden, dass die Bundesrepublik sich diese Regel zu eigen gemacht hat; man denke etwa an die Sistierung der Wehrpflicht, den Ausstieg aus der Atomkraft oder die Bereitschaft zu einer gemeinsamen Verschuldung der Europäischen Union (EU).

Anders, als die borussische Geschichtsschreibung meinte behaupten zu können, war die Einheit Deutschlands für Bismarck kein lebenslanges Ziel. Vielleicht sollten wir ihn weniger als „Reichsgründer“ denn als „Kanzler der Einheit“ benennen, der zwar gewiss nicht bloß als „Hebamme“ (Christoph Nonn), aber auch nicht als einzig verantwortlicher Akteur dazu beitrug, „Kaiser und Reich“ aus der Taufe zu heben. Die Lösung der deutschen Frage durfte es seines Erachtens nur im „kleindeutschen“ Gewande und ohne „Vermählung“ von Einheit und Freiheit geben. Das Primat der Einheit gegenüber der Freiheit, vom bundesrepublikanischen Provisorium mit umgekehrtem Vorzeichen bis 1989 betrieben, bedeutete freilich nicht, dass im Bismarckreich völlige Unfreiheit herrschte. Auch wenn Bismarck nicht zum Demokraten geschminkt werden kann, wies das von ihm mitgestaltete politische System des Kaiserreichs dank des Wahlrechts, des Parteienwesens oder der Meinungs- und Pressefreiheit zahlreiche Elemente einer modernen Demokratie auf. Seine Motive wirken dabei nicht selten ambivalent. Die

„Mache [sic!] der Presse“ etwa empfand er als verderblich, ihre Macht aber nutzte er nach Kräften für seine politischen Ziele. Beinahe allergisch reagierte Bismarck auf jedes Symptom zunehmender Parlamentarisierung. Wenn „Parlamente ihrer eigenen Direction überlassen blieben, so wäre es ein bekannter Grundsatz, dass 400 kluge Leute, sich selbst überlassen, im Parlamente einen Narren machten“, wetterte er 1884. Der Vorwurf, die Entwicklung einer modernen parlamentarischen Demokratie verhindert zu haben, greift indes zu kurz, weil deren Einführung bis zum Ersten Weltkrieg „nicht mehrheitsfähig“ war (Christoph Nonn), da die Parteien sie aus prinzipiellen oder pragmatischen Gründen ablehnten.

 

Wohltaten und Fehlleistungen

 

Bismarck erachtete es stets als wichtig, das föderale System des Reiches so zu gestalten, dass sich die kleinen Bundesstaaten nicht übervorteilt fühlten. Großen Wert legte er überdies darauf, die wirtschaftliche Dynamik mit sozialer Sicherheit zu verknüpfen. Offen gab er dabei zu, die arbeitenden Klassen mit sozialen Wohltaten „bestechen“ zu wollen, damit sie „den Staat als soziale Einrichtung ansehen“. Trotz seiner mithin nicht nur hehren Hintergedanken gilt Bismarck zu Recht neben William Beveridge als Vater des europäischen Sozialstaatsmodells.

Ein bleibender Schatten liegt auf seinem Drang, politische und nationale Minderheiten durch Ausnahmegesetze zu bekämpfen, die verfassungsmäßige Rechte außer Kraft setzten. Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kennt das Prinzip der „wehrhaften Demokratie“ zum Schutz vor inneren Bedrohungen; es erlaubt jedoch nicht, Eckpfeiler der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu beseitigen. Während Bismarcks Kampf gegen die Sozialdemokratie und den politischen Katholizismus heute unisono als fatale Fehlleistung deklariert wird, bietet seine Politik in Bezug auf die noch immer virulente Inklusion ethnischer Minderheiten durchaus bedenkenswerte Elemente: etwa sein konsequentes Verfechten eines ethnisch indifferenten Staatspatriotismus, die Sicherung von Grenzen als Teil einer „strategisch-militärische[n] Sicherung des Gesamtstaates“ (Rudolf Jaworski) oder die Förderung der deutschen Sprache als wesentliches „Instrument […] von Integration“ (Thomas Nipperdey).

Fortdauernde Aktualität besitzt Bismarcks Handeln insbesondere auf dem außenpolitischen Terrain, nicht zuletzt wegen der fundamentalen Herausforderung, die das geeinte Deutschland im neuen Europa zu meistern hat: dem Ruf nach mehr Verantwortung gerecht zu werden, ohne die allenthalben vorhandene „Angst vor Deutschland“ (Andreas Rödder) zu ignorieren. Ganz im Sinne Bismarcks muss das „erste Bestreben“ die „Erhaltung des allgemeinen Friedens“ sein.

Wie schon von ihm einst beteuert, sollte Deutschland seine Rolle bei divergierenden Ansichten der Partner auf die „eines ehrlichen Maklers“ beschränken, „der das Geschäft wirklich zustande bringen will“.

Zwar lastet auf Deutschland glücklicherweise nicht mehr der kriegerische „cauchemar des coalitions“ des späten  19. Jahrhunderts, wohl aber der „genetische“ Defekt einer „halbhegemonialen“ Stellung: Die „Zentralmacht Europas“ (Hans-Peter Schwarz) ist zu schwach, um den Kontinent zu dominieren, aber zu stark, um sich in das europäische Machtgefüge einzufügen. Der „Bau des europäischen Hauses unter irreversibler Einbindung des mit Abstand stärksten Landes, Deutschland“ (Helmut Kohl) bleibt daher auch im 21. Jahrhundert eine dauerhafte Aufgabe. Mit der in jüngster Zeit zunehmenden Erosion der transatlantischen Allianz gewinnt das Projekt Europa noch eine weitere, an den ersten Reichskanzler erinnernde Funktion: die des Aufbaus eines europäischen Machtpols in der globalisierten Welt, einer Union, deren Verträge durch ihre „Verbindlichkeit“ den „allgemeinen Frieden“ zu sichern helfen.

 

Notwendigkeit historisch-kritischer Aufarbeitung

 

„Es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben […], es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen […] zu leben“, schrieb Friedrich Nietzsche 1874 in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“. Nach den monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus hatte sein Diktum in Deutschland seine Gültigkeit eingebüßt. Gleichwohl dauerte es bis in die 1980er-Jahre, ehe sich die Bundesrepublik einer Geschichtspolitik verschrieb, die die Ausblendung oder „Bewältigung“ der Geschichte des „Dritten Reiches“ durch ein historisch-kritisches „Aufarbeiten“ und „Erinnern“ ersetzte. Schon ein Jahrzehnt zuvor war Bundespräsident Gustav Heinemann im Zuge eines von der sozialliberalen Koalition initiierten geschichtspolitischen „Neugründungsprozesses“ (Edgar Wolfrum) hart mit dem Kaiserreich ins Gericht gegangen. „Hundert Jahre Deutsches Reich“, so lautete sein apodiktisches Urteil anlässlich des 100. Jahrestages der Reichsgründung 1971, „dies heißt eben nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945.“ Zahlreiche Kritiker warfen dem Staatsoberhaupt sozialdemokratische Geschichtsklitterung vor. Dies war insofern nicht ganz korrekt, weil auch Bundeskanzler Willy Brandt offen zugab, dass die militärische Lösung der deutschen Frage durch Bismarck zwar „heute kein Vorbild“ mehr sein könne, der Reichskanzler für ihn aber dennoch „einer der großen Staatsmänner unseres Volkes“ sei. Kurt Georg Kiesinger, der CDU-Vorsitzende, schrieb dem Staatsoberhaupt ins Stammbuch, dass das Gedenken an die Reichsgründung weder „durch eine totale Glorifizierung noch durch eine totale Verwerfung“ geschehen könne.

Ob der 150. Jahrestag der Reichsgründung „zu Stolz doch wirklich Grund“ bietet, wie Brandt 1965 zu Bismarcks 150. Geburtstag bekannt hatte, sei dahingestellt. In jedem Fall aber vermag das Jubiläum zur Bewusstwerdung über ein bedeutendes Datum deutscher Geschichte beizutragen. Das Kaiserreich gab nicht nur die wohl einzig realistische Antwort auf die seit Generationen schwelende deutsche Frage; es verkörpert auch eine wichtige Etappe auf dem verschlungenen Weg Deutschlands zur Demokratie und entwickelte sich in Europa zu einem „Fortschrittsmodell als Rechts-, Verwaltungs- und Sozialstaat“ (Jörn Leonhard).

Nicht nur Jubiläen, auch Denkmäler können Anstöße zur historischen Reflexion liefern. Der jüngst in Hamburg und anderen Orten der Republik im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung von Anhängern der Postcolonial Studies artikulierte Ruf nach Denkmalstürzen und dem Abbau von Straßenschildern, die den Namen Otto von Bismarcks tragen, fordert zu einem entschiedenen Einspruch heraus.

 

Nicht „Cancel Culture“, sondern Streitkultur

 

So wenig Zweifel daran bestehen kann, dass der „blinde Fleck“ der Kolonialgeschichte (Monika Grütters) in der deutschen Erinnerungskultur beseitigt werden muss, hält schon die Identifizierung des Kolonialpolitikers Bismarck als Rassist einer genaueren Prüfung nicht stand. Die ihm zu Ehren von Bürgern und Vereinen errichteten Denkmäler galten überdies weniger dem Kolonialpolitiker denn dem Reichskanzler, der Deutschland Einheit und Frieden gebracht hatte. Wenn seine heutigen Gegner meinen, den Staatsmann nicht länger mit Denkmälern „feiern“ zu können, weil er hundert Jahre später ihren moralischen Ansprüchen nicht mehr genüge, berauben sie sich und anderen der Chance zum historisch-kritischen Gedenken. Statt eine in der Tat ambivalente historische Figur aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, sind die zuständigen Kommunen aufgerufen, eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit deren künstlerischen oder profanen Hinterlassenschaften zu organisieren. Nicht der lautstarke Ruf aktivistischer Gruppen nach „Auslöschung“ von Denkmälern und Verbannung in Schulbücher und „Fernsehdokus“ (Hedwig Richter) darf die Debatte bestimmen, sondern der breite öffentliche Diskurs. Nicht Cancel Culture, sondern demokratische Streitkultur!

Stets sollten wir dabei bedenken, dass unser heute moralisch einwandfrei wirkendes Tun schon morgen der Verdammung anheimfallen könnte. Der Zeitgeist ist ein unstetes Wesen.

 

Ulrich Lappenküper, geboren 1959 in Datteln, Geschäftsführer und Mitglied des Vorstands der Otto-von-Bismarck-Stiftung, apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg.

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