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Europa und die Ostdeutschen

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Als mich die Redaktion dieser Zeitschrift ansprach, ob ich mir vorstellen könne, einen Meinungsbeitrag zum Thema „Europa und die Ostdeutschen“ zu verfassen, brauchte ich etwas Bedenkzeit. Einerseits, weil bereits zahlreiche soziologische und politikwissenschaftliche Analysen dieses Thema aufgreifen. Sie befassen sich unter anderem mit sozio-ökonomischen Unterschieden zwischen Ost und West, der Sozialisation der Ostdeutschen, den geschichtlichen Zusammenhängen, aber auch mit Themen wie Fremdenfeindlichkeit oder Angst vor Überfremdung. Was also hätte ich zu dieser Debatte noch beizutragen? Andererseits handelt es sich um ein Thema, mit dem man sich nur in die Nesseln setzen kann, noch dazu als Politiker.

Schließlich geht es bei Themen wie diesem darum, über eine betroffene Gruppe im Allgemeinen zu sprechen, quasi von einem Durchschnittsvertreter (oder einer Vertreterin) in Bezug auf die üblichen Merkmale wie Alter, Geschlecht, Ausbildung, Beruf, Einkommen, Elternhaus oder Religionszugehörigkeit. Verallgemeinern lässt sich allerdings niemand sehr gern.

Schnell wird klar: Der Durchschnitts-Ossi existiert nicht. Es kann ihn auch gar nicht geben, da die Umbrüche durch die Wiedervereinigung zu vielfältig waren. In Westdeutschland musste mit dem Einigungsvertrag nichts verändert werden – außer den Postleitzahlen. In Ostdeutschland hingegen wurde alles komplett auf null gestellt.

Aber auch ich frage mich natürlich als Ost-Politiker und Minister, der auch für europäische Angelegenheiten zuständig ist, woher die unterschiedlichen Einstellungen zwischen Ost und West zu Europa rühren. Dabei hoffe ich, dass ich in meiner Argumentation nicht der Versuchung erlegen bin, nur ein paar auffällige Beispiele als Grundlage für eine ungewollte und vollkommen fehlplatzierte Pathologie für die rund sechzehn Millionen Menschen in den neuen Bundesländern heranzuziehen.

Ostdeutsche wollen Taten, keine leeren Worte

Die einen mögen in Europa ein Bürokratiemonster erkennen, andere ein Friedensprojekt, wiederum andere eine geopolitische Macht. Vielen ist das Thema – leider – herzlich egal. Es ist also sehr schwierig, den Begriff „Europa“ genau zu erfassen. Und da fängt das Problem schon an: Ostdeutsche mögen sehr verschieden sein und unterschiedlich ticken. Von unbestimmten Worthülsen – und darauf möchte ich besonders hinweisen – haben sie aber noch nie viel gehalten. Die Menschen hier wollen Taten sehen. Das will nicht heißen, dass hinter dem Begriff „Europa“ nicht tatsächlich Taten stecken. Ganz im Gegenteil: Noch nie haben wir in Europa eine solch lange Zeit des Friedens erleben dürfen. Nur sieben Prozent der Weltbevölkerung erwirtschaften hier 25 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Nirgendwo auf der Welt sind so viele Menschen so umfangreich gegen soziale Risiken abgesichert wie auf unserem Kontinent. Und allein in das Bundesland, das ich mit vertreten darf, werden nach Abschluss der laufenden Förderperiode Gelder der Europäischen Union (EU) in Höhe von etwa zehn Milliarden Euro geflossen sein. Die Investitionen kamen der Infrastruktur und der Entwicklung des ländlichen Raumes sowie der Landwirtschaft zugute.

Aber die Menschen hier sind vorgeprägt, was große Worthülsen des Staats betreffen: „Ich bitte Sie, mit mir das Glas zu erheben und zu trinken: auf die internationale Solidarität, auf den Frieden und das Glück aller Völker, auf den 40. Jahrestag unserer Deutschen Demokratischen Republik“ (Erich Honecker) – wer als Staatsoberhaupt so etwas am Vorabend des Untergangs des eigenen Landes fabuliert, der trägt natürlich nicht dazu bei, dass die Bürgerinnen und Bürger auf rhetorische Schleifchen viel geben.

Eine ungünstige Konstellation also: ein unendlich aufladbarer Begriff „Europa“ einerseits, dem andererseits Menschen gegenüberstehen, die von Politikern keine abstrakten Begrifflichkeiten hören, sondern Taten sehen wollen.

Und bei der Begrifflichkeit „Europa“ bleibt es ja nicht allein: Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Migration und so weiter: All diese abstrakten Begriffskonstrukte stehen für tiefgreifende Veränderungen, von denen jeder spürt, dass sie kommen. Die wenigsten haben aber das Gefühl, dass diese Veränderungen proaktiv angegangen werden oder auch angegangen werden können. Vor allem aber: Nach der Wiedervereinigung stehen sie für noch mehr Umwälzungen. Da sagt der ein oder andere schlicht: Mir reicht’s. Das will ich nicht. Wir hatten genug Veränderung.

Selbst in anderen Ländern können wir im Angesicht dieser Veränderungen beobachten, wie sich Menschen auf Vertrautes besinnen und sich zurückziehen. Bedenkt man, was die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern in der Kürze der Zeit alles mitgemacht haben, ist es nicht verwunderlich, wenn diese Entwicklung hier umso stärker ausgeprägt ist.

Ökonomischer und kultureller Umsturz

Denn der ökonomische Umsturz hat nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern Änderungsprozesse in jeder Familie in Gang gesetzt. Viele Menschen haben sie als nachteilig für sich empfunden. Die Konsum-Verkäuferin konnte für den Einzelhandel noch umgeschult werden. Die Handarbeitskraft in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft befand sich aber in einer ganz anderen Situation.

In Zahlen: In den ersten zwei Jahren verloren 2,1 Millionen Menschen ihre Arbeit. 1,4 Millionen Menschen verließen den Osten, Familien wurden auseinandergerissen. Derweil stieg die Arbeitslosenquote bis auf 18,7 Prozent im Jahr 2000 an. Über die Jahre blieb sie doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Viele Menschen wurden im Osten von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in die nächste gesteckt. Diese Zeit – das Gefühl der Unsicherheit und das Gefühl, nicht gebraucht zu werden oder nicht gut genug zu sein – hat viele Ostdeutsche stark geprägt.

Zusätzlich hat sich auch das kulturelle Leben der Menschen tiefgreifend verändert. Sport-, Volks-, Sommer- und Erntefeste, Karnevalsfeiern, Jugendfestivals sowie Stadt- und Arbeitsjubiläen – für all das war plötzlich kein Staat mehr zuständig, sondern Bürgerinnen und Bürger, die Eigenverantwortung und Initiative neu für sich definieren mussten. Gleichzeitig hatten viele von ihnen genug mit dem neuen beruflichen Alltag zu tun, der ihnen jeden Tag aufs Neue alles abverlangte. In der DDR galt: an oberster Stelle die Familie, dann erst einmal lange nichts, dann kamen Beruf und Hobbys. Heute hingegen zählt für viele Menschen vor allem erst einmal der Beruf – Familie und Hobbys haben sich dem unterzuordnen. Wenn trotz aller Mühen am Monatsende nur die notwendigen Kosten gedeckt werden können, ist ein gewisser Frust vorprogrammiert.

Balance zwischen Rückschau und Gegenwart

Diese Erfahrungen stehen einer sicher auch nostalgisch eingefärbten Rückschau auf die eigene DDR-Vergangenheit gegenüber. Denn viele Menschen fühlten sich wirtschaftlich abgesichert. Legte man sich jedoch mit den Oberen an oder ordnete sich nicht einigermaßen in das sozialistische System ein, drohten harte Repressalien. Auch an den verordneten sozialen Zusammenhalt erinnern sich viele gern zurück – selbst wenn das oftmals dem allgemeinen wirtschaftlichen Mangel geschuldet war. Gerade in der Rückschau führt das zu einer sehr engen emotionalen Bindung mit der DDR, die vielen betroffenen Bürgern im Umkehrschluss die Identifikation mit dem neuen Deutschland und erst recht mit der Europäischen Union erschwert.

In diesem neuen System galt und gilt es, für sich einzustehen, seine Interessen durchzusetzen. Das fiel vielen in den Anfangsjahren schwer: einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern, die nicht verstehen kann, warum ihr das Arbeitslosengeld gekürzt werden soll; einem Rentner, der aus allen Wolken fällt, weil bei der Rentenberechnung Teile seines DDR-Gehalts nicht angerechnet werden können. In Fällen wie diesen traf ein System auf das andere. Oft wussten sich die Betroffenen nur mit moralischen Argumenten zu wehren, die teilweise mit großer Empörung vorgetragen wurden. Schnell war das Zerrbild des miesepetrigen Mecker-Ossis gezeichnet, der immer leicht genervt, gekränkt und passiv-aggressiv unterwegs war.

Die Zeichner dieses Bildes übersehen allzu leichtfertig, dass Menschen erst eine Stimme finden mussten, die jahrzehntelang überhaupt keine hatten. Dass man dann angesichts völlig neuer Herausforderungen und Erwartungen bisweilen über die Stränge schlägt, sollte nicht sonderlich überraschen. Selbstvertrauen entwickelt sich nicht über Nacht, sondern muss in jeder Situation neu erprobt werden. Und Duckmäusertum – das wurde in der Anfangszeit schnell klar – würde einen in einer Sozialen Marktwirtschaft, in der Freiheit und das Individuum im Vordergrund stehen, nicht weit bringen.

Die große Mehrheit der Ostdeutschen – insbesondere die junge Generation – hat mittlerweile ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt, vor allem mit Blick auf ihren beruflichen Werdegang. Zu diesem Selbstbewusstsein haben sicher auch die Verankerung in der Region und das Pflegen von Traditionen und Brauchtum beigetragen.

Außerdem brummt die Wirtschaft, und die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung. Gerade die Jungen bewegen sich beruflich, akademisch und sozial ganz selbstverständlich im wiedervereinigten Deutschland. Aber es gibt auch eine ganze Generation, die in der Wendezeit kein Glück hatte und die es teilweise bis heute nicht geschafft hat, richtig Fuß zu fassen. Sieht man sich so einer Situation allein aufgrund von zeitlichen Zufällen wie der Wiedervereinigung in Deutschland ausgesetzt, erliegen viele der Versuchung, nostalgischen Gedanken an die DDR nachzugehen, die immer als Vergleichsebene weiterleben wird.

Handeln statt reden

Besonders schwierig wird es, wenn auf Veränderung mit Trotz reagiert wird: „Ich lasse mir doch jetzt nicht schon wieder erklären, was ich zu tun und zu lassen habe!“ Ein Beispiel ist die Reaktion auf den Umgang mit der Flüchtlingskrise im Herbst 2015. Und Kritik ist auch durchaus berechtigt. Dass mit dem Zuzug von Menschen aus gänzlich anderen Kulturen auch Probleme einhergehen, liegt völlig auf der Hand. Unsere erste Reaktion war zu einseitig positiv, während in der öffentlichen Wahrnehmung häufig Zurückhaltung festgestellt wurde. Aber mit einseitig überschwenglichen Ankündigungsarien konnten die Ostdeutschen noch nie viel anfangen. Handeln statt reden ist hier noch immer oberste Maxime. Und das betrifft natürlich nicht nur das Thema Flüchtlinge, sondern auch die Rente, das allgemeine Lohnniveau, die Konsequenzen aus dem Klimawandel – und natürlich Europa.

Europa muss Ergebnisse liefern

Dass die Ostdeutschen Europa anders gegenüberstehen als die Westdeutschen, hat demzufolge nichts damit zu tun, dass Erstere kognitiv nicht dazu in der Lage wären, die Vorteile eines geeinten Europas zu erkennen. Sie haben aber ihre Erfahrungen mit blumigen Versprechungen gemacht, und das begriffliche Konstrukt „Europa“ erscheint ihnen zu unkonkret.

Deshalb muss die Politik selbst dafür sorgen, dass Europa spürbare und erlebbare (positive) Ergebnisse liefert. Zumal wir es nach meinem Dafürhalten insgesamt verpasst haben – egal, ob in Nord, Ost, Süd oder West –, den Bürgerinnen und Bürgern die Vorteile der Europäischen Union vollumfänglich zu vermitteln.

Insofern soll dieser Beitrag auch als Appell an die eigene Zunft betrachtet werden, mehr zu schaffen und weniger zu schnacken. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zustimmung in den ostdeutschen Ländern zur Europäischen Union ganz anders ausfiele, wenn es beispielsweise einen verbindlichen Verteilungsschlüssel für die Aufnahme von Flüchtlingen gäbe, der allseits uneingeschränkt akzeptiert und praktiziert würde. Oder endlich mit der Aushöhlung der europäischen Steuersysteme durch steuerliche Lockvogelangebote für internationale Großkonzerne aufgehört würde.

Denn schwer über einen Kamm zu scheren mögen wir Ossis sein. Aber die Forderung nach Gerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit und  gerechter Teilhabe ist doch nachvollziehbar und verständlich. Und das ist nun wahrlich keine falsche Messlatte für gute Politik.

Lorenz Caffier, geboren 1954 in Weixdorf bei Dresden, stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Inneres und Europa des Landes Mecklenburg-Vorpommern.

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