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Zur Bedeutung des öffentlichen Raums

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Unsere Städte sind von einem offenkundigen Gegensatz geprägt: Auf der einen Seite schätzen wir die historischen, dicht bebauten Stadtkerne als baulich-kulturelle Mittelpunkte des Lebens und der sozialen Kommunikation – heute so wohlgeordnet und schön wie nie in ihrer Geschichte, bisweilen sogar zu Kulissen nostalgisch herausgeputzt –, auf der anderen Seite beklagen wir die Ausuferung der Stadt an ihren nicht nur von den Bewohnern als langweilig und öde empfundenen Rändern.

Doch das Bild trügt: Der Stadtkern und vor allem seine „gute Stube“, der nicht private öffentliche Raum, hat als Bühne für die Inszenierung der pluralistischen Lebensstile, als vertrauter Ort lokaler Identität und demokratischer Meinungsbildung, mit dem sozialen Wandel infolge fortgeschrittener Arbeitsteiligkeit, geänderten Freizeitverhaltens, immer perfekterer Telekommunikationsmedien, ungebremster Digitalisierung der Warendistribution und nicht zuletzt aufgrund wachsender Verkehrsbelastungen viel von seiner ursprünglichen Bedeutung verloren. Seine über lange Zeit unangefochtene soziale, politische, kulturelle und ökonomische Funktion wird heute durchaus infrage gestellt, auch wenn gelegentlich eine „neue Urbanität“ ins Feld geführt wird, wie sie sich etwa in Stadt- oder Stadtteilfesten, Weihnachts- und Flohmärkten, im Auftreten von Stadtmusikanten oder Theatergruppen äußert, womit freilich bei vielen eher die Sehnsucht nach der vermeintlichen sozialen Stabilität und kulturellen Vielfalt der „alten Stadt“ bedient wird. Auch seine Bedeutung als unentbehrlicher Ergänzungsfreiraum für die früher beengten Wohn- und Arbeitsverhältnisse hat der öffentliche Raum längst verloren.

Im öffentlichen Raum, so seine unbestrittene gesellschaftstheoretische Funktion, sollen die unterschiedlichen Lebensstile der Stadtbewohner, ihre Überzeugungen, Wünsche und Erwartungen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Dieses Ziel heißt „Urbanität“.

„Urbanität bezeichnet eine bestimmte Organisation des Politischen, der Demokratie, eine bestimmte Organisation des Ökonomischen, den freien und gleichen Tausch auf dem Markt, schließlich, und darauf beruhend, eine bestimmte Art zu leben, die Dialektik von Privatheit und öffentlicher Sphäre“ (Hartmut Häußermann / Walter Siebel: Neue Urbanität, Frankfurt am Main 1987, S. 214).

 

Beklagenswerte „Verpackungsästhetik“

 

So verstanden, manifestiert sich das demokratiefördernde Potenzial des öffentlichen Raums vor allem im weitgehenden Fehlen einengender Kontrollen und von Verhaltensnormierungen der Stadtbewohnerinnen und -bewohner durch lokale Autoritäten. Der öffentliche Raum gewährleistet die physischen und psychischen Bedingungen für öffentliches politisches und privates unpolitisches Handeln, für Begegnung und Integration unterschiedlicher sozialer, politischer, ethnischer oder religiöser Gruppierungen, schlicht für urbanes Verhalten. Hier ist der geeignete Raum für politische Interaktionen und demokratische Prozesse der Meinungsbildung und Konsensfindung, für das Schmieden politischer Bündnisse und bürgerschaftlicher Kooperationen bis hin zu Bürgerinitiativen, ja sogar zu Unruhen und Revolutionen.

Das so umrissene demokratiefördernde Potenzial des öffentlichen Raums bedarf zu seiner Entfaltung vielfältiger stadtgestalterischer Maßnahmen, die freilich weit mehr sein müssen, als die heute leider übliche und vielfach zu beklagende standardisierte „Verpackungsästhetik“. Beispielsweise geht es um die sorgfältige Erhaltung der vertrauten Umwelt, die behutsame Erneuerung des Baubestands, die Verbesserung des Wohnumfelds, den Schutz von Freiflächen und sogenannten „Westentaschen-Parks“, Verkehrsberuhigungen oder -verlagerungen und ökologische Rücksichtnahmen bei der Schließung von Baulücken.

Die hierauf gerichtete Stadtplanung hat inzwischen ein anderes Selbstverständnis: Sie ist Teil einer umfassenderen identitätsstiftenden und die Individualität des öffentlichen Raums unterstützenden Sozial- und Kulturpolitik, bei der an die Stelle der traditionellen administrativen Führungsfunktion der Stadtplanung die Rolle des Moderators zwischen divergierenden öffentlichen und privaten Interessen tritt. Informelle Absprachen und Partnerschaften zwischen öffentlichen und privaten Investoren und legitimatorische Verfahren der Meinungsbildung, Konsensfindung und Konfliktbewältigung stehen im Vordergrund. In alldem unterscheidet sich das so umrissene demokratische Potenzial des öffentlichen Raums, der mehr ist als gestaltund sinnloser Freiraum, von der Rigidität und Langweiligkeit von Aufmarschalleen und Sammelplätzen, wie sie für Diktaturen bezeichnend sind.

 

Eine Frage demokratischer Selbstbehauptung

 

Für die Stadtbewohner als Marktteilnehmer erfüllt der öffentliche Raum seit jeher seine Funktion als Ort des Warentausches ebenso wie als Ort des Austausches von Informationen und der Verbreitung von Neuigkeiten. Allerdings hat sein ökonomisches Potenzial mit dem Wandel der kulturellen Wertvorstellungen, der rasanten Verbreitung raumüberspringender Kommunikationsmedien und dem unaufhaltsamen Vordringen des Online-Handels zulasten des kleinteiligen innerstädtischen Einzelhandels erheblich an Bedeutung verloren. Unter dem Eindruck kommunaler Finanzkrisen und abnehmender lokaler Autonomie ist die Abhängigkeit des öffentlichen Raums von den Profitinteressen der Wirtschaft vielerorts deutlich gewachsen.

Nicht zu übersehen sind zudem wachsende Standortund Nutzungskonflikte: Flaneure und Fußgänger, Radund Autofahrer, E-Scooter und, mit dem Digitalisierungsschub einhergehend, demnächst selbstfahrende Autos und paketausliefernde Roboter beanspruchen einerseits zusätzlich den öffentlichen Raum. Zugleich geht es bei der Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Raums um die Gewährleistung von Chancengleichheit und Toleranz für alle Teile der urbanen Bevölkerung. Andererseits beeinträchtigt die aktuelle Pandemiebekämpfung mit ihrem Gebot des „social distancing“ – überwacht durch digitale Begleiter – die zwanglose Aneignung des öffentlichen Raums durch zufällige Begegnungen, Versammlungen oder Demos.

Die städtebauliche Gestaltung des öffentlichen Raums und die Vielfalt seiner Nutzungsmöglichkeiten werden auch in Zukunft wichtige Voraussetzungen zur Erhaltung unserer politischen Urbanität und zur Selbstbehauptung unserer Demokratie sein: ein Ziel, das alle Mühen lohnt!

 

Klaus Borchard, geboren 1938 in Münster, Universitätsprofessor emeritus für Städtebau und Bodenordnung, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Regierungsbaumeister a. D., 1997 bis 2004 Rektor der Universität Bonn.

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