Katholikentage sind ein deutsches Unikum, in der gleichen Weise, wie es – auf evangelischer Seite – Kirchentage sind. Nirgends sonst gibt es solche, von einem derart breiten Spektrum getragenen Veranstaltungen, die durch christlichen Geist und christliches Engagement bestimmt, aber bewusst von Laien getragen sind; der Begriff des „Laien“ stellt für die evangelische Seite allerdings eine uneigentliche Redeweise dar, weil sie vom Priestertum aller Getauften ausgeht und keinen substanziellen Unterschied zwischen Ordinierten und Nichtordinierten macht. Aber eines ist bei beiden Veranstaltungen klar: Es ist nicht die verfasste Kirche, die einlädt und feiert – es sind engagierte Christinnen und Christen, die sich fünf Tage lang treffen, über die brennenden Fragen der Zeit diskutieren, ihre Meinungen austauschen, dabei auch zu eigenständigen Auffassungen gegenüber der verfassten Kirche kommen und ein deutliches Zeugnis ihres vom Glauben getragenen Engagements geben.
Phänotypische Ähnlichkeit, historische Unterschiede
Auch wenn Kirchen- und Katholikentage sich phänotypisch sehr ähneln, sind ihre Ursprünge und ihre jeweilige Geschichte sehr verschieden: Der Deutsche Evangelische Kirchentag ist in seiner heutigen Gestalt – wie die Evangelischen Akademien – nur vor dem Hintergrund des Versagens der Evangelischen Kirche in der NS-Zeit zu begreifen. Aus falsch verstandener Loyalität dem Staat gegenüber hatten die Kirchenleitungen zum Unrecht der NS-Diktatur geschwiegen und bestenfalls dann Widerspruch eingelegt, wenn sie ihre ureigenen Rechte angetastet sahen. Aus diesem Grund sah es Reinold von Thadden-Trieglaff, Gründer der Evangelischen Kirchentage sowie Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen, nach der NS-Zeit als unabdingbar an, unter evangelischen Christen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Glaube und Weltverantwortung immer zusammengehören. Der Glaube dürfe sich nicht in eine wie auch immer geartete Innerlichkeit zurückziehen, sondern müsse vielmehr alle Bereiche des Lebens, des gesellschaftlichen und politischen Handelns bestimmen. Daher liegt der Fokus des Deutschen Evangelischen Kirchentages auf gesellschaftlichen Fragen, die politische Debatten aufgreifen: Er ist evangelische Zeitansage.
Mehr Kundgebung als Gottesdienst
Katholikentage – so sehr sie von außen betrachtet Evangelischen Kirchentagen ähneln und gern auch einmal sprachlich mit ihnen verwechselt werden – sind seit ihrer Gründung im Jahr 1848 eigentlich Generalversammlungen der katholischen Verbände. Das ist bei genauerem Hinsehen auch gut zu erkennen: Schon die Eröffnungsveranstaltung ist kein Gottesdienst, sondern eine Kundgebung. Das Programm wird bestimmt und verantwortet von den Verbänden und Organisationen, die im Zentralkomitee der deutschen Katholiken vertreten sind. Ein Blick in das Programmheft genügt, um die Zielrichtung erkennen zu können: Wo Misereor draufsteht, ist auch Misereor drin, ohne plumpe Werbezwecke zu verfolgen. Da sich der verbandlich organisierte Katholizismus – viel stärker als der Protestantismus – sozial-karitativ, im Bildungs- und Erziehungsbereich verorten lässt, liegt hier demzufolge auch bei Katholikentagen ein deutlicher Schwerpunkt. Daraus ergibt sich – jenseits aller kontroversen theologischen Debatten zwischen den Kirchen – ein weites ökumenisches Feld sozialethischer Fragestellungen, in dem gemeinsames Reden und Handeln sehr gut möglich ist. Genau diese Chance nutzt der Katholikentag intensiv.
Verpflichtung zum gemeinsamen Handeln
In dieser Weise ist auch die feierliche Unterzeichnung der Charta Oecumenica auf dem Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin zu verstehen. Zwar wurde diese bereits 2001 von der Konferenz Europäischer Kirchen und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen verabschiedet, aber ihre Bedeutung wurde der Öffentlichkeit erst in Berlin bewusst. In der Charta Oecumenica verpflichten sich die Kirchen ausdrücklich, „auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen“ (Coe 4).
Dieser Vorsatz wurde während des Zweiten Ökumenischen Kirchentages 2010 in München, der wiederum von dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken und dem Deutschen Evangelischen Kirchentag getragen wurde, in die Tat umgesetzt, wo immer das möglich war. Gerade die Zusammenarbeit der großen sozialen Verbände, Diakonie und Caritas, kann hier beispielhaft genannt werden: Wenngleich sich die Vorbereitung nicht immer ganz einfach und reibungslos gestaltete, ist doch in dieser Zeit eine tiefere Kenntnis voneinander entstanden, und damit auch das Wissen von den Stärken und Grenzen des jeweils anderen.
Im Geiste des „Aggiornamento“
Das gemeinsame Zeugnis in sozialethischen Fragen ist nur ein Aspekt, in dem das deutliche ökumenische Interesse des Katholikentages zum Ausdruck kommt. Schon seit den Aufbrüchen des Zweiten Vatikanischen Konzils, dem Geist des „Aggiornamento“ (Papst Johannes XXIII.), also der Anpassung an heutige Verhältnisse, der auf Katholikentagen kräftig und lebendig weht, steht das Bemühen um die Annäherung der Kirchen ganz weit oben auf der Agenda. Dreimal bereits hat diese zu gemeinsamen Veranstaltungen geführt – zu den beiden Ökumenischen Kirchentagen in Berlin und München, aber auch schon viel früher, zum Augsburger Pfingsttreffen im Jahr 1971, das mit Fug und Recht als die Mutter aller Ökumenischen Kirchentage gelten darf. Natürlich erfordert es erhebliche Anstrengungen eines hohen ökumenischen Willens, gelegentlich sogar eines Kraftaktes, zwei unterschiedliche Kulturen, wie sie Katholiken- und Kirchentage nun einmal prägen, unter einen Hut und in ein Programm zu bringen, mit dem alle leben können. An der ökumenischen Gesinnung fehlt es dem Katholikentag jedenfalls nicht.
Ökumene berührt jeden Einzelnen
Es ist schon erstaunlich, welch große Rolle die Einheit der Christen für den Katholikentag immer wieder spielt. Wer sich zum Beispiel in Regensburg 2014 für ökumenische Fragestellungen interessierte, hatte die Qual der Wahl: Es bot sich eine Fülle von Veranstaltungen zu diesem Thema, die ein enorm weites Spektrum abdeckten. Das war nicht etwa dem Übereifer der Programmgestalter geschuldet, sondern vielmehr dem Bewusstsein, dass die Ökumene längst nicht mehr ein Betätigungsfeld für Spezialisten ist, sondern das Christsein jeder und jedes Einzelnen berührt.
So darf man mit Spannung erwarten, was der 100. Katholikentag, dessen Programm in diesen Tagen entsteht, in Leipzig thematisieren wird: Eine Auseinandersetzung mit der Reformation, deren 500-jähriges Jubiläum die evangelische Kirche im kommenden Jahr begehen wird, drängt sich geradezu auf. Als gemeinsames Christusfest – ganz im Sinne Martin Luthers – kann es, davon bin ich überzeugt, auch für unsere katholischen Schwestern und Brüder Anlass zum Feiern und Gedenken sein.
Nach dem Zweiten Ökumenischen Kirchentag in München wurde gelegentlich die Meinung geäußert, in Zukunft könne man auf Kirchen- und Katholikentage zugunsten von fortan gemeinsamen Veranstaltungen verzichten. Das wäre ein Verlust, denn die Prägung des einen ist für den je anderen eine große Bereicherung: Die sozialethische und ökumenische Stimme des Katholikentages ist auch für evangelische Christinnen und Christen unverzichtbar.
Heinrich Bedford-Strohm, geboren 1960 in Memmingen, seit 2011 Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und 2014 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.