Als Bibelwissenschaftler befasse ich mich professionell mit Texten, die jahrtausendealt sind, bin also eher Spezialist für die Vergangenheit. Hinsichtlich der Gegenwart bin ich dagegen ein Laie. Trotzdem ist es vielleicht nicht nur meine Déformation professionnelle, die mir die Vergangenheit als etwas erscheinen lässt, was leichter zu verstehen ist als die Gegenwart. Das Problem mit der Gegenwart ist: Wir wissen zu viel, und wir haben keinen Überblick. Wir sind im Gegenwärtigen verwickelt, und es gibt keinen Turm, auf den man steigen könnte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Deshalb behelfen sich Gegenwartswissenschaften damit, dass sie die Komplexität der Wirklichkeit reduzieren. Die Demoskopie etwa tut dies, indem sie auswählt und eben nicht alle Deutschen interviewt, sondern 1.000 – mit möglichst reduzierten Fragen. Würde man dagegen alle auffordern, ohne Einschränkungen zu sagen, was sie vom Leben halten, dann wäre schon die Dokumentation eine Herausforderung, von Analyse und Deutung einmal ganz zu schweigen. Damit wäre man dann genau bei dem, was Gegenwart ausmacht: Wir wissen zu viel und verstehen zu wenig.
Vergangenheit ist dagegen viel übersichtlicher. Je weiter wir zurückgehen, desto mehr Informationen sind verloren gegangen. Die existierenden Quellen sind regional, zeitlich, kulturell und sozial extrem eingeschränkt. Selbst bei einer Kultur wie dem alten Ägypten, die über etwa drei Jahrtausende außergewöhnlich gut dokumentiert ist, ist die Fülle der Quellen über weite Strecken auf wenige Kontexte beschränkt – vor allem auf Kult und Begräbnis – und mit der ägyptischen Oberschicht verbunden, die knapp ein Prozent der Bevölkerung ausmachte. Die übrigen 99 Prozent sind im Dunkel des Vergessens verschwunden, haben kaum Spuren ihres Denkens, Fühlens und Handelns hinterlassen. Das ist aus der Perspektive eines Menschenbilds, das den Armen und Machtlosen die grundsätzlich gleiche Bedeutung zuschreibt wie den Eliten, natürlich höchst bedauerlich, aber für die Analyse ist diese Begrenzung der Quellen ein Glücksfall. Je weniger wir wissen, desto besser können wir analysieren und interpretieren.
Zudem macht das Fehlen lebender Zeitzeugen die ältere Vergangenheit zu einem Paradies des Verstehens, denn die alten Ägypterinnen können eben keine Demonstration veranstalten, um sich über die unzureichende und ungerechte Darstellung ägyptischer Frauen in der entsprechenden Forschungsliteratur zu beschweren. Und für den bibelwissenschaftlichen Bereich ist es natürlich auch praktisch, dass weder der Prophet Jesaja noch Jesus oder Paulus der wissenschaftlichen Rekonstruktion ihrer Biographie und der Darstellung ihrer Botschaft widersprechen können. Wie gesagt – Vergangenheit ist einfacher als Gegenwart.
Die Zukunft ist ein Un-Ding
Die Zukunft hat mit der Vergangenheit gemeinsam, dass es sie nicht gibt. Sie unterscheidet sich als Noch-nicht-Wirklichkeit aber von der Vergangenheit als Nichtmehr-Wirklichkeit dadurch, dass sie auch keine Spuren und Erinnerungen hinterlassen hat, die es ermöglichen würden, sie zu rekonstruieren, wie partiell auch immer. Schon der Spruch „Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus“ ist eigentlich Unsinn, denn die Schatten müssten ja aus der Zukunft in die Gegenwart zurückgeworfen werden, damit wir etwas erkennen könnten von der Zukunft, von der Wirklichkeit, die nicht ist, und von der wir auch nicht wissen können, wie sie sein wird.
Nun gibt es selbstverständlich Versuche, aus bestimmten Faktoren der Gegenwart abzuleiten, wie die zukünftige Wirklichkeit aussehen könnte. Etwa nach dem Motto: „Wenn wir weiter so viel Kohlendioxid in die Atmosphäre blasen, dann wird sich das Klima so erwärmen, dass …“. Solche Hochrechnungen und Modellbildungen sind wichtig, aber die Klimaforschung weiß, dass sie damit nicht die Zukunft abbildet, denn ein einziger Meteoriteneinschlag könnte alles anders kommen lassen. Trotzdem müssen wir, insbesondere die politisch Denkenden und Handelnden, ein Bild von der Zukunft entwerfen, denn unser gegenwärtiges Handeln muss ja stets versuchen, negative Folgen, die naturgemäß in der Zukunft liegen und also noch nicht existieren, zu vermeiden. Das ist selbstredend umso einfacher, je enger unser Handeln mit erfahrungsgedeckter Naturgesetzlichkeit zusammenhängt. Wenn ich vom Dach eines Hochhauses springe, dann werde ich sterben. Solche überschaubaren Strukturen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs halten uns normalerweise davon ab, trotz roter Ampel über die Kreuzung zu fahren oder lebendige Bienen zu essen, wobei es natürlich immer Ausnahmen gibt. So verlangt es „wahre Männlichkeit“ manchmal, gegen die Vernunft zu handeln, und auch „wahre Weiblichkeit“ kann zu Schuhen nötigen, die die Füße ruinieren. Durchschnittlich handeln wir aber nach solch vernünftigen und plausiblen Erfahrungswerten und kommen damit ganz gut durch das Leben.
Wir sind auch nicht enttäuscht, wenn alles halbwegs gut ausgeht und unsere Alltagsklugheit Katastrophen vermeiden hilft. Bei einer Epidemie ist das mitunter ganz anders. Die Gefahr ist weniger konkret, nicht sichtbar. Und die notwendigen Isolationsmaßnahmen machen auch das Leid der Kranken und der Sterbenden unsichtbar. Da kommen Einzelne schon auf die Idee, zu fragen: „Wo bitte ist denn die Seuche?“ Die Epidemiologie spricht vom Präventionsparadox. Wenn die Vorsichtsmaßnahmen erfolgreich sind, werden die Sicherungsmaßnahmen als unnötig und übertrieben hart kritisiert. Es ist deshalb kein Wunder, wenn der Protest gegen die Einschränkungen des Lebens in der Coronakrise gerade dann laut wird, wenn sich die Lage entspannt und Einschränkungen gelockert werden.
„Hygiene-Demos“ sind aber nicht das wahre politische Problem. Die eigentliche Herausforderung ist die Notwendigkeit, für die Gesamtbevölkerung Konsequenzen zu ziehen, ohne genau zu wissen, was die Folgen des eigenen Handelns sein werden. Das gilt grundsätzlich – vor, während und nach der Coronakrise. Weil die Gegenwart unübersichtlich ist und die Zukunft noch nicht ist, bleibt die Frage, was „nach Corona“ kommt, streng genommen eine unbeantwortbare Frage, auf die die Politik dennoch eine Antwort finden muss.
Politik als Versuch, die Zukunft zu gestalten
Eine Frage beantworten zu müssen, auf die es eigentlich keine Antwort gibt, erscheint als Paradox. Dieses politische Zukunftsparadox ist aber nur ein scheinbares. Gerade nämlich, weil es die Zukunft noch nicht gibt, ist sie ein politisches Gestaltungsfeld. Es gibt keine zwangsläufigen Lehren und Folgerungen aus einer solchen Krise. Es ist nicht die Pandemie selbst, aus der etwas Bestimmtes folgt, sondern wir entscheiden mit unseren Deutungen und Schlussfolgerungen darüber, welche Zukunft „nach Corona“ kommt. Dieses „Wir“ ist in der Demokratie (und auch im globalen Spiel der Mächte) keine einheitliche Größe, sondern eine Vielzahl von Interessen und Sichtweisen, die darum ringen, die Deutungshoheit über dieses Großphänomen zu erlangen, um damit ihre politischen Pläne zur Wirklichkeit werden zu lassen. Um zu dieser Debatte – als Gegenwartslaie – etwas beizutragen, gestatte ich mir, ein paar Aspekte zu nennen, aus denen man Folgerungen ziehen könnte.
Vorratshaltung ist altmodisch, aber sinnvoll. Wir haben uns Vorratshaltung abgewöhnt, weil wir jederzeit alles geliefert bekommen können, so die Maxime vor der Pandemie. Wenn Lieferketten zusammenbrechen oder Hysterie künstliche Verknappung erzeugt, kann kluge Bevorratung eine Zeit lang unangenehme Folgen abfedern. Wer gar nichts vorrätig hat, steht im Ernstfall dumm da. Das gilt für Klopapier ebenso wie für Autoteile und Beatmungsgeräte.
Politik als Erklärungsgeschäft. Prävention kann nicht gelingen, wenn nicht wenigstens die allermeisten mittun. Da dieses Mittun auch Dinge betrifft, die staatlich nicht kontrollierbar sind, kommt es darauf an, möglichst viele einzubeziehen und zu überzeugen. Entscheidungen erklären, komplexe Sachverhalte verständlich machen und Solidarität erwecken ist mühsam, zeitaufwendig, aber unumgänglich. Auch nach der Pandemie? Zum Beispiel bei Windrädern?
Vielfalt ist ein Vorteil! Zwar haben manche autoritären Staaten, obwohl wir die echten Zahlen nicht kennen, die Pandemie anscheinend ganz gut bewältigt, aber das ist wohl doch eher die Ausnahme. Generell sind Vielfalt und Machtteilung ein Vorteil. Zwar herrscht auch im Qualitätsjournalismus oft eine Sehnsucht nach Einheitlichkeit, die in Föderalismusverachtung („Flickenteppich“, „Kleinstaaterei“) mündet, aber dem sollte man nicht nachgeben. Geteilte Verantwortung und die Möglichkeit, regional differenziert reagieren zu können, sind ein enormer Vorteil. Gerade in schlecht regierten Staaten zeigt sich, dass es ein Vorteil ist, wenn der Populist an der Spitze nicht alles im Griff hat. Ohne andersdenkende Verantwortliche auf regionaler Ebene wären in Brasilien und den USA die Opferzahlen noch höher. Vielleicht gelingt uns „nach Corona“ ein freundlicherer Blick auf die föderale Grundstruktur unseres Landes?
Der Staat als Kirche? Dem Theologen fällt auf, wie hoch die Erwartungen an den Staat sind. Nicht nur für die große Gruppe der Areligiösen scheint er inzwischen eine Art Heilsanstalt zu sein, die das Leben gegen alle Gefahren zu sichern und gelingendes Leben zu garantieren hat. Das ist beängstigend – weniger, weil damit Kirchen weiter an Bedeutung verlieren, sondern weil die religiöse Aufladung des Staates noch nie zu mehr Frieden und Glück führte. Gerade die Kirchengeschichte zeigt, wie absolute Erwartungen an Institutionen zu absolutem Freiheitsverlust und zur Tyrannei der Heuchler führt. Kann es gelingen, utopische Erwartungen an den starken Staat wieder einzufangen? Helden? Kassiererinnen, Pflegekräfte, Reinigungspersonal – in der Krise als systemrelevant entdeckt und zu Helden erklärt. Werden sie nach der Krise wieder vergessen oder zukünftig heldengerecht bezahlt?
Joachim Kügler, geboren 1958 in Weismain, Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaften, Otto-Friedrich-Universität Bamberg.