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Ein Babyboomer über den Abschied von der Leistungsgesellschaft

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Noch nie war es für einen Babyboomer so schwer, die Welt zu verstehen. Und damit meine ich nicht die Weltlage mit ihren multiplen Krisen, die kein Mensch mehr versteht, sondern den Teil der alltäglichen Welt, den alle anderen Generationen zu verstehen scheinen, nur eben der Babyboomer nicht. Wenn man einem der geburtenstärksten Jahrgänge angehört wie ich (Jahrgang 1966), dann ist das Leben vom ersten tapsigen Babyschritt an ein Wettbewerb: Wer steht früher auf eigenen Füßen? Wer kann schneller laufen? Wer ist als Erster im Ziel? Der Babyboomer kommt zur Welt und weiß: Wir sind viele. Wenn er ein gutes Leben haben will, muss er nicht nur etwas leisten, sondern mehr leisten als andere. Auf die Plätze, fertig, los …!

Babyboomer zu sein, heißt, kompetitiv, geboren zu werden. Das gilt für das eigene Elternhaus (in der Regel hat der Babyboomer Geschwister und wächst hinein in eine möglicherweise lebenslange familiäre Rivalität). Das gilt aber auch für die Schule, die mit der Schule von heute nicht mehr viel gemeinsam hat. Sicher, es gab auch große Klassen, aber nicht wegen Lehrermangel, sondern weil wir so viele Kinder waren. Es gab sogar zu viele Lehrer! Anfang der 1980er-Jahre herrschte Lehrerschwemme, und das war vielleicht sogar die wirkungsvollste pädagogische Maßnahme aller Zeiten. Ein arbeitsloser Lehrer ist didaktisch wertvoller als zehn überbeschäftigte, bis zum Burnout gestresste Kolleginnen. Denn ein arbeitsloser Lehrer bedeutet: Selbst unter den vollausgebildeten schulischen Autoritäten herrscht ein ständiger Wettbewerb, auch ihre Existenz ist nicht gesichert. Du kannst Abitur machen, ein Studium, ein Referendariat absolvieren, den ganzen Lehrstoff beherrschen – und trotzdem im Abseits landen. Nimm das, Akademiker!

Um den Babyboomer zu verstehen, muss man wissen, dass ihn das Gespenst der Arbeitslosigkeit durch seine Schultage und vor allem durch seine Nächte verfolgt. Damals, Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre, bedeutete die magische Zahl von einer Million Arbeitslosen den Untergang des Abendlandes. Für die Post-Wirtschaftswunderrepublik war das eine Horrorvorstellung: Menschen, die nicht gebraucht werden, die kein nützliches Mitglied der Gesellschaft sind! Und indem ich das schreibe, fällt mir auf, dass ich die Formulierung „nützliches Mitglied der Gesellschaft“ seit Jahrzehnten nicht mehr gehört habe, nachdem sie mir in den ersten zwei Jahrzehnten meines Lebens ständig eingetrichtert worden war.

 

„Versetzung gefährdet“

Die Botschaft der Arbeitslosenzahlen damals lautete: Es werden nicht alle gebraucht, also sei froh, wenn du gebraucht wirst! Und das haben die Babyboomer bis heute verinnerlicht. Für die meisten von uns war und ist Leistung der Kampf gegen das tiefverwurzelte Gefühl der eigenen Überflüssigkeit.

Wer auf Leistung gepolt ist, kennt auch den Gegenpol des Versagens – und die Angst davor. Das fängt mit den Schulnoten an. Nie werde ich das Entsetzen meiner Eltern vergessen, als ich am Ende meines ersten Schuljahrs mit dem Zeugnissatz nach Hause kam: „John hat einen befriedigenden Anfang genommen.“ – „Befriedigend“ bedeutet in Zahlen „3“. Das war überhaupt nicht befriedigend. „Befriedigend“ war der Anfang vom Ende!

Die Angst, nicht gut genug zu sein, zu versagen und hoffnungslos abzustürzen, war Teil der Ausbildung. Meine erste Schülerband trug nicht umsonst den Namen „Versetzung gefährdet“. In der Schultheatergruppe spielten wir Tod eines Handlungsreisenden. Schule, das war ein sozialdarwinistischer Selektionsprozess. Je höher die Klassen, desto kleiner. Die leeren Plätze der Sitzengebliebenen wurden immer weniger durch ältere Sitzenbleiber aufgefüllt. Die ersten Abbrecher verließen die Schule in Richtung einer ungewissen Zukunft. Nicht einmal ein Drittel schaffte das Abitur.

Mit Pennälerspäßen à la Feuerzangenbowle haben die Schulerinnerungen eines Babyboomers wenig zu tun. Schule war eine Einübung in die Leistungsgesellschaft. Schon allein deshalb wäre es den meisten Babyboomer-Eltern nicht eingefallen, die Lehrer für schlechte Zensuren ihrer Kinder verantwortlich zu machen. Das heißt keineswegs, dass früher alles besser war oder gar „gerechter“ – mitnichten. Es war ein völlig anderes Paradigma: Ein guter Lehrer war damals einer, der schlechte Zensuren verteilt. Heute wird ein Lehrer am Notendurchschnitt seiner Schüler gemessen. Und er gerät unter Rechtfertigungsdruck, wenn dieser Durchschnitt schlechter ist als bei den Kollegen.

 

Kompetenzerwerb statt Leistung

Wie weit die Abkehr von der selektiven Leistungsethik der Babyboomer-Schulzeit geht, wurde mir erst klar, als ich gut zwanzig Jahre später erstmals selbst eine Prüfungsordnung für einen Studiengang an der Universität der Künste in Berlin mitverfassen durfte. Die Hochschullandschaft hatte inzwischen den Bologna-Prozess durchlaufen mit dem offiziellen Ziel, eine europaweite Harmonisierung und internationale Vergleichbarkeit zwischen Studienleistungen herzustellen. Inoffiziell war die Umstellung auf Bachelor und Master eine gigantische Rationalisierungs- und Sparmaßnahme, um durch Regelstudienzeiten und Punktesysteme gegen saumselige Studenten vorzugehen.

Auf den ersten Blick ist die Bologna-Reform eine Verschulung des Studiums. Somit hatte der Babyboomer in mir erwartet, dass sie die Übertragung der Leistungsethik auf die letzten akademischen Freiräume sein würde. In den Richtlinien war dementsprechend von Leistungspunkten die Rede. Doch ich staunte nicht schlecht, dass die eigentliche Zielsetzung des Studiums nicht als „Leistung“ definiert war, sondern als „Kompetenzerwerb“. Fast schien es, als wolle man trotz Verschulung des böse L-Wort möglichst vermeiden, um dem veränderten Zeitgeist Rechnung zu tragen. Demnach sind Studierende gleichsam Kunden, die an internationalen Instituten durch ihre Studiengebühren und das Durchlaufen verschiedener Module Kompetenzen „erwerben“.

Wichtig an dieser scheinbar kleinen Bedeutungsverschiebung vom Leistungsziel zum Kompetenzerwerb ist die Frage der Zurechenbarkeit. Wer ist verantwortlich in dem Fall, dass es schiefgeht? Bei einer Leistung ist das klar: Erbringe ich sie nicht, bin ich selbst schuld – so die simple Babyboomer-Rechnung. Beim Kompetenzerwerb sieht das schon anders aus: An wem liegt es, wenn ich in den angebotenen Seminaren die in Aussicht gestellte Kompetenz nicht erwerbe und am Ende nichts kann? Liegt es an mir oder hat der Prof versagt? Schuldet mir die Uni möglicherweise die nicht erworbene Kompetenz? Kann ich sie vielleicht sogar einklagen? Und wenn ein Prof sie mir nicht bescheinigt: Stellt er sich damit nicht selbst ein schlechtes Zeugnis aus?

 

Wählerische Arbeitskraftgeber

Die unklare Zurechenbarkeit ist nur einer der Gründe, warum ich als Babyboomer die Prüfungsordnung nicht verstehe, an der ich selbst mitgeschrieben habe. Sie ist – um das Wort „widersprüchlich“ zu vermeiden – hybrid: einerseits schulische Leistungskontrolle, andererseits ein Dienstleistungsmodell, so als wäre die Uni eine Art Bildungsservice für Studierende, bei dem sie die Kompetenzen erwerben, die sie gern hätten. Leistungskontrolle und Anspruchsdenken treffen zusammen. Das führt zu Rollenkonflikten. Die Studierenden schwanken zwischen klausurgeplagten Dauerprüflingen und Bildungskonsumenten; die Dozierenden eiern herum zwischen Dienstleistern und Lehrautorität. Und dieser Widerspruch (jetzt schreibe ich es doch) ist an den Hochschulen und Schulen heute die Realität.

Das liegt nicht nur an der Demografie, aber auch. Als Babyboomer kann man sich nur verwundert die Augen reiben, wenn man sieht, wie sich die Selektionsprozesse umkehren: Je weniger junge Menschen in die Ausbildung starten, desto mehr suchen sich die Studierenden die Hochschulen aus, die Azubis die Betriebe und die Fachkräfte die Unternehmen. Auf Messen, digitalen Plattformen und in den sozialen Medien umwerben Firmen potenzielle Schulabgänger. Arbeitgeber treten nicht mehr als Arbeitgeber auf, sondern als Arbeitskräftesuchende, die sich einer mehr oder weniger kleinen Zahl wählerischer Arbeitskraftgeber (vormals Arbeitnehmer) gegenübersehen.

Entsprechend sinken die Leistungsanforderungen in Form von Workloads und Wochenarbeitszeiten bei gleichzeitig steigenden Ansprüchen. Für einen Babyboomer ist das zwar verkehrte Welt, aber noch halbwegs nachvollziehbar. Völlig unverständlich wird es erst beim Blick auf die kosmetisch ohnehin geschönte Arbeitslosenstatistik und eine Zahl von 2,8 Millionen Arbeitslosen (Kurzarbeit und Unterbeschäftigung nicht mitgerechnet) – eine Größenordnung, bei der wir uns in den 1980er-Jahren wohl kollektiv in den Suizid gestürzt hätten.

Das ist kein Plädoyer für eine Rückkehr zur selektiven Leistungsgesellschaft von vorgestern und schon gar nicht für das FDP-Motto „Leistung muss sich wieder lohnen“, ausgegeben von einer Partei, in der sich vor allem der Lobbyismus lohnt. Es ist nur Ausdruck einer tiefen Verunsicherung angesichts eines ein immer weiter aufwachsenden Anspruchsdenkens, das sich kaum noch befrieden lässt und mehr und mehr Unzufriedenheit produziert. Es ist Ausdruck meiner inneren Kapitulation vor einer immer heikleren Work-Life-Balance nachfolgender Generationen, für die so vieles eine Zumutung darstellt, dass ich es schon gar nicht mehr wage, das böse L-Wort überhaupt in den Mund zu nehmen.

 

Die wahre letzte Generation!

Ich könnte mich damit abfinden, ein Dino aus der geburtenstarken Vorzeit zu sein. Ich könnte damit leben, auszusterben, nachdem die Leistungsgesellschaft, die mich hervorgebracht hat, längst Geschichte ist. Das ist der Lauf der Zeit. Es gibt nur eins, was mich fassungslos macht, um nicht zu sagen, abgrundtief einsam, und das sind nicht die alternativen Lebensentwürfe der jüngeren Generation, sondern die Gespräche meiner Altersgenossen über Rententabellen und Pensionsansprüche. Es ist ihre scharf kalkulierte und unverhohlene Vorfreude auf einen leistungsfreien Lebensabend bei guten Bezügen.

Liebe Mitbabyboomer, Co-Saurier, Freunde, was ist in euch gefahren? Wie könnt ihr nur? Das ist Verrat! Statt Fahrradtouren durchs Weserbergland und Kanuabenteuer im Spreewald zu planen, sollten wir lieber so kompetitiv und leistungsorientiert aus dem Leben scheiden, wie wir gestartet sind. Wir sollten dem Anspruchsdenken zeigen, was eine Harke ist, und auf unsere Rente verzichten, das Leistungsprinzip hochhalten und als Letzte von Bord gehen. Wir sind viele – nicht mehr ganz so viele, aber immer noch. Und wir können noch immer die Welt verändern, die wir so lange nicht verändert haben. Lasst uns nicht zu nörgeligen Leistungsempfängern werden, sondern in Würde weiterarbeiten bis zum Umfallen! Wir sind die wahre letzte Generation!


John von Düffel, geboren 1966 in Göttingen, Schriftsteller, Dramaturg und Professor für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin.

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