Die Willkür der Hamas gegenüber den Opfern des Massakers vom 7. Oktober 2023 wird durch propalästinensische Studenten an westlichen Universitäten in der Willkür einer Sprache verlängert, in der sich der Typus des „Homo clausus“ (Norbert Elias) widerspiegelt. Diesem geht es nicht um die Freiheit der Meinung, sondern um die Ausschließung der anderen Meinung aus dem öffentlichen Raum durch Polarisierung. Der andere wird zur Unperson. Seine Worte sind Unworte, die nicht zählen. Dies soll am Beispiel der ersten Erklärungen von Studenten an der Harvard University und anhand von Diskussionen an der City University of New York (CUNY) nach dem Massaker der Hamas gezeigt werden. Ihnen sind viele weitere Erklärungen und Proteste gefolgt – unter anderem an der Columbia University in New York –, später auch in Deutschland, insbesondere in Berlin. Das Muster bleibt das gleiche: Es geht um eine Sprache der Willkür.
Die Erklärung von fakultätsübergreifenden Studentengruppen der Harvard University zum Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist ein weit über den traurigen Anlass hinausweisendes Dokument, das vom Geist der Polarisierung und des intellektuellen Rückzugs bestimmt ist. Der Text setzt ein mit einer Formulierung, die sich an das „We, the people“, die berühmten Eingangsworte der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (und ähnlich der Unabhängigkeitserklärung) anlehnt: „We, the undersigned student organisations, hold the Israeli regime [sic!] entirely responsible for all unfolding violence.“
Die alte Rhetorik der Verfassung war von dem Willen ihrer Urheber geleitet, eine Erklärung abzugeben, die die Zustimmung aller anderen Menschen finden wird. Diese Erklärung soll eine Selbsttranszendierung des Bestehenden durch die Eröffnung eines Raumes des Meinens und Denkens in einer neuen Form in Gang setzen, deren (vorläufige) koloniale Begrenzung ihr universalistisches Fundament nicht erschüttert. Die neue Verfassung will eine Vorstellungskraft ins Werk setzen, die – ausgehend vom „Recht, Rechte zu haben“ (Hannah Arendt) – für alle die Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten institutionalisiert. Das ist der Kern der Verallgemeinerung des „repräsentativen Denkens“ (Myriam Revault d’Allonnes), das heute über die Grenzen des Nationalstaats hinausweist. Dem hat das dekoloniale Denken wenig entgegenzusetzen. Es erschöpft sich einstweilen weitgehend im antiwestlichen Ressentiment, was auch aus der Erklärung der Studenten vom 7. Oktober 2023 spricht.
Das „We“ der Studentenorganisationen hat einen autoritären und zugleich infantilen Charakter: Es ist kein Appell, es ist eine Anordnung ohne Bindungskraft, die eine Reihe von sich zur Sekte verschließenden Organisationen mit einem Vokabular adressiert, das für die Anderen („them“, nicht „us“) keinen Raum bietet. Diese Verkürzung, die nach einem Bericht von The New Yorker als punchy („schlagkräftig“) gedacht war – Reden im X/Twitter-Format! –, enthält so viele unerklärte fixe Begriffe, dass sie wie das Kleben an Worten wirkt, die einen Kommunikationsprozess blockieren, statt ihn in Gang zu setzen.
„Zionistische Entität“
Man muss den Begriff „Israeli regime“ offenbar so verstehen, dass Israel nicht den Charakter eines Staates, eines Völkerrechtssubjekts, haben kann. Die Hamas spricht in ihren Erklärungen von der „zionistischen Entität“, die vom palästinensischen Volk beseitigt werden muss. Die Hamas argumentiert nicht, sie diktiert als Kampforganisation die Bedingungen. Wollen die Studentengruppen auch Kampforganisationen sein? Zu einer Selbst- und Fremdaufklärung in der Öffentlichkeit tragen sie nichts bei. Dass Israel ein von fast allen Staaten der Welt anerkanntes Völkerrechtssubjekt ist, wird einfach negiert.
Eine rein faktische „Entität“ kann keine Sicherheitsinteressen haben. Da Israel ein rechtliches Nichts ist, reduziert sich seine Existenz auf die faktische Herrschaft in der Form eines „Apartheidregimes“ der „Weißen“ und die Ausschließung der Kolonialisierten aus ihrem Land. Die antithetische Fixierung des Blicks erlaubt keine Differenzierung und geht darüber hinweg, dass etwa die Hälfte der jüdischen Israeli die Misrahim – orientalische Juden und deren Abkömmlinge mit eigener, (vor allem) arabischer Verlust-, Unterdrückungs-, aber auch israelischer Diskriminierungsgeschichte – sind, die sich nicht als „Weiße“ betrachten.
Für die Hamas sind alle Initiativen, die nicht Freiheit für die Palästinenser „from the river to the sea“ herstellen wollen, nicht akzeptabel (Hamas-Grundsatzpapier, 1. Mai 2017, Absatz 20). Die Hamas beruft sich nur sekundär auf die Interessen des palästinensischen Volkes. Für sie ist Palästina „waqf“, heiliges, von Allah den Palästinensern anheim gegebenes Land. Deshalb ist es unverzichtbar – jeder Quadratmeter. „Israel“ gibt es nur in Anführungszeichen – als Schein. Der Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1948 ist „null and void“, so die Hamas.
„Today’s events“ und ihre „Vorgeschichte“
„Today’s events“ – so die Bezeichnung der Studentengruppen für das Massaker vom 7. Oktober 2023 – geschahen „not in a vacuum“. Die deutschen Versionen „propalästinensischer“ Erklärungen insistieren darauf, dass das Ereignis eine „Vorgeschichte“ gehabt habe. Diese setzt den Anfang des unaussprechlichen „Ereignisses“ bei den Juden/Israeli und ihrem „Landraub“. Dadurch wird das Geschehen selbst zu einem unpersönlichen Ereignis, an dem die Täter des 7. Oktobers unbeteiligt waren. Die Untat wird zur Nicht-Tat. Verantwortung beruht nicht auf Regeln, sie wird opportunistisch dekretiert. Deshalb gilt für die Studentengruppen: „The weight of responsibility for the war and casualties undeniably lies with the Israeli extremist government […]“ – Taten der Hamas hat es nicht gegeben.
Dass nicht alle Palästinenser die Position der Hamas teilen, fällt nicht ins Gewicht. Ironischerweise ist ausgerechnet am 6. Oktober 2023 der neue Stanford Report über die Befragung von Palästinensern zu ihrer politischen Situation abgeschlossen worden: Danach befürworteten 51 Prozent der Befragten eine Zweistaatenlösung (auf Basis der Grenzen von 1967), lediglich 25 Prozent plädieren für einen bewaffneten Widerstand; 52 Prozent der Palästinenser in Gaza haben kein Vertrauen in die Hamas, nur 25 Prozent haben großes oder eher Vertrauen. Die meisten haben den Eindruck, dass sie nur begrenzt oder gar nicht über die Freiheit der Meinungsäußerung verfügen können. Sie haben nicht das „Recht, Rechte zu haben“.
Das Schlimme, ja das Böse, das aus dem analysierten Text spricht, ist nicht die Provokation, die Einseitigkeit der Stellungnahme. Das Recht auf Provokation sollte gerade Studenten nicht verweigert werden. Skandalös ist vielmehr der darin zum Ausdruck kommende „Zusammenbruch der Konventionen der Sprache“ (so der Ethnologe, Philosoph und Psychoanalytiker Octave Mannoni zur totalitären Sprache). Ein produktiver Streit ist nicht mehr möglich, wenn grundlegende Gebrauchsformen der Sprache völlig einer ideologischen „Zurichtung“ unterworfen werden, wenn etwa, wie im vorliegenden Fall, offensichtliche Tatsachen wie die Tötung, Verletzung, Entwürdigung von Menschen oder die grausame Vergewaltigung von Frauen im Ungefähren zum Verschwinden gebracht und nicht einmal ausgesprochen werden.
Claudine Gay, von Juli 2023 bis Januar 2024 Präsidentin der Harvard University, wollte sich ebenso wenig wie ihre Kolleginnen des Massachusetts Institute of Technology und der Pennsylvania University in einer Anhörung im Kongress der Vereinigten Staaten darauf festlegen lassen, dass die Forderung nach einem Völkermord an Juden grundsätzlich nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sei – es komme vielmehr darauf an. Worauf es ankomme, hat Gay nicht erklärt. Später hat sie sich von ihren Worten distanziert; nicht etwa, weil sie falsch gewesen wären, sondern weil sie Gefühle verletzt hätten!
Der ehemalige Präsident der Harvard University Lawrence Summers hatte bereits am 9. Oktober 2023 auf X zu der Erklärung der Studentengruppen mitgeteilt, in den fünfzig Jahren seiner Verbindung mit der Universität noch nie „as disillusioned and alienated“ gewesen zu sein wie an diesem Tag. Laurence Tribe, einer der vielen berühmten Harvard-Professoren, die das Denken über die Meinungsfreiheit in der westlichen Welt geprägt haben, hat zu Recht angemerkt, dass Meinungen, die die systematische Tötung von Juden ebenso wie von Muslimen und Schwarzen fordern, „not even close to the line“ seien, sondern „obviously and clearly unacceptable“.
Negierung der „Präsenz des Anderen“
Eine Ergänzung zur Interpretation der Erklärung der Harvard-Studentengruppen gibt ein weiterer Artikel der Journalistin Emma Green in The New Yorker („How a Student Group is Politicizing a Generation on Palestine“, 15. Dezember 2023), der sich mit dem Denken und den Aktionen „propalästinensischer” Studenten an der City University of New York (CUNY) befasst. Unter den Studenten, die sich in einer Versammlung mit dem 7. Oktober auseinandergesetzt haben, stellt sich die Frage nicht, ob sie für die Hamas eintreten. Dies scheint selbstverständlich zu sein. Es geht um einen klaren Ausgangspunkt: „[T]hese people [die Palästinenser, Anm. d. Autors] have been kicked out of their homes“, wie einer der Studenten sagt. Zu den Opfern der Gräueltaten, die nicht ausdrücklich genannt werden, sagt derselbe Student: „Innocence is only so limited when you are occupying land“ – und: Wer sich für die Geiseln einsetzen wolle, solle sich doch an die eigene Regierung wenden, nicht an die Hamas. Viele jüdische/ israelische Studenten verstehen dies so: Jewish life does not matter – jüdisches Leben ist nicht wichtig. Das entsprach offenbar auch der Vorstellung einer jungen Frau, die, wie auf Instagram zu sehen, im Mai 2024 vor einer Gruppe proisraelischer Demonstranten auf dem Gelände der Columbia University stehend, ein selbst gemaltes Schild mit der Aufschrift „Al-Qasam’s next target“ (sic!) und einem auf die Gruppe zeigenden Pfeil hochhielt. Es handelte sich übrigens nicht um eine Palästinenserin. Das Foto hat meines Wissens außer in Blogs keine mediale Reaktion ausgelöst.
Manche Studenten palästinensischer Abstammung haben eine zum Teil von Großeltern geliehene „Erinnerung“: Eine in New York lebende Studentin teilt – so Emma Green – die Erinnerung ihrer Großeltern, die ihr Haus in Jerusalem 1948 durch die Flucht verloren haben: „I miss home.“ Sie würde gern dort wohnen und Oliven anbauen. „It feels so homey.“ Dass es, wie immer man die politische und rechtliche Situation bewertet, auch eines Denkens bedarf, das in dem oben genannten Sinne „repräsentativ“ ist, also den anderen (israelischen) Bewohner eines enteigneten Hauses mit bedenken könnte, nachdem 75 Jahre vergangen sind, wird nicht akzeptiert. Einen Horizont, der „die Präsenz des Anderen“ (Myriam Revault d’Allonnes) aufscheinen ließe, gibt es nicht.
Konkurrierende Rechte
Das entspräche nicht dem dekolonialen Denken, das auch von Wissenschaftlern der City University of New York in der Auseinandersetzung mit „colonial ideas and philosophies“ entwickelt wird, die – nach ihrer Auffassung – die Welt beherrschen. Für propalästinensische Studenten bietet sich dort ein neues „subfield“ an, „settler-colonial studies“: Gegenstand meines Studiums ist das, was ich denken will – nichts anderes!
Es bedarf eines „repräsentativen Denkens“ im eingangs erwähnten Sinne, das an die Vernunft der Anderen glaubt und die Mittelbarkeit eines Denkens ins Werk setzt, das an deren Vorstellungskraft mit intelligenten Irritationen appelliert. Dazu gehört die Anerkennung, dass auch die Juden durch ihr Leben in der Diaspora (nach ihrer Vertreibung aus Judäa) und durch das Nachleben der alten jüdischen Kultur ein eigenes Recht auf das Heilige Land erworben haben – dessen Besitz allerdings das konkurrierende Recht der Palästinenser nicht aufheben kann. Die Geschichte der Besiedlung Palästinas/Judäas ist der Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde auf eine paradoxe Weise dadurch „vorgeschrieben“ worden, dass in den Schulbüchern jahrelang jede Spur einer jüdischen Kultur ausgelöscht worden ist: Es hat demnach vor der „Kolonisierung“ nie Juden in Palästina/Judäa gegeben. Das Andere, das eine Herausforderung sein könnte, existiert nicht.
Für viele „Propalästinenser“ ist gerade das Irreale des „Palästinensischen Staates“ faszinierend. Es lässt alle Phantasien zu. Ein ganz neuer Staat, der aus einem „ozeanischen Gefühl“ (Sigmund Freud) der Freiheit heraus gegründet würde? So will offenbar auch manch ein deutscher Professor, der sich „schützend“ vor seine (propalästinensischen) Studenten stellt, den Ruf „From the river to the sea“ interpretiert wissen. Jede andere Interpretation wäre eine Verletzung der Meinungsfreiheit dieser Studenten. Für das Reale des Konflikts wären ohnehin die Juden/Israeli auch in der Zukunft selbst verantwortlich – auf alle Zeit.
Karl-Heinz Ladeur, geboren 1943 in Wuppertal, emeritierter Professor für Öffentliches Recht, Universität Hamburg.