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Wie die Vereinigten Staaten auf Deutschland blicken

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Die angesehene Denkfabrik Chicago Council on Global Affairs veröffentlicht jährlich Umfragen über die Entwicklung außenpolitischer Einstellungen in Amerika. Die Ende 2020, also kurz vor Ablauf der ersten Trump-Administration, publizierten Erhebungen erschienen unter dem Titel Divided we stand und zeichneten ein Bild der parteipolitischen Spaltung des Landes in zentralen außenpolitischen Fragen. Im Appendix enthielt die Datensammlung einen Aspekt, der in früheren Erhebungen nicht enthalten war und in späteren nicht mehr auftauchte: die Haltung der US-amerikanischen Bevölkerung zur Präsenz amerikanischer Streitkräfte in Deutschland.

US-Präsident Donald Trump hatte kurz vorher überraschend und politisch zusammenhanglos die Entscheidung getroffen, das Truppenniveau in Deutschland von 34.500 auf 25.000 Soldaten zu reduzieren. Die Umfrage war wie ein Gradmesser für die Frage: Wie kam die Entscheidung Trumps an?

Nur 29 Prozent der Demokraten und lediglich 12 Prozent der Republikaner sprachen sich dafür aus, das ursprüngliche Truppenniveau beizubehalten. 84 Prozent der Republikaner waren mit der Entscheidung des Abzugs entweder einverstanden oder gingen sogar noch weiter, indem sie darüber hinausgehende Kürzungen oder den völligen Truppenabzug forderten. Bei den Demokraten fiel das Bild etwas weniger kritisch aus. Dennoch war auch hier die Mehrheit eindeutig: 65 Prozent befürworteten eine Reduzierung beziehungsweise einen weiteren oder gar völligen Abzug.

Der Befund elektrisierte mich, sowohl in seiner Eindeutigkeit als auch in seiner Überparteilichkeit. Ich rief den Vorsitzenden des Chicago Council on Global Affairs an – einen Demokraten, den ich gut kannte – und fragte ihn nach seiner Einschätzung der Beweggründe. Er sagte: „Die Trittbrettfahrerrhetorik ist eingesickert.“

 

Transaktionale Verrechnungen

Die Trump-Administration hatte dieses Mantra immer wieder öffentlich intoniert: Deutschland – ein Land, das sich weigere, die eingegangene Selbstverpflichtung zu erfüllen, den Verteidigungshaushalt auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen; ein Land, das seinen Bürgern hohe sozialpolitische Standards auf Kosten der amerikanischen Bürger ermögliche, weil der Löwenanteil der Verteidigungslasten nach Amerika ausgelagert werde; ein Land, das mit seiner Energieabhängigkeit von Russland Sicherheitsrisiken für Europa und die NATO-Staaten schaffe, die in einem existenziellen Widerspruch zur Bündnisratio stünden.

Die Vorwürfe waren krude, verzerrend und selbstgerecht, allerdings im Kern nicht ganz falsch. Deutschland war in diesen Jahren vom Zwei-Prozent-Ziel weit entfernt; das Sicherheitsrisiko einer Gasabhängigkeit von Russland ist heute auch in der Mitte der deutschen Gesellschaft unbestritten; und dass deutlich höhere Verteidigungsausgaben mit einem innenpolitischen Ringen um die Neuausrichtung von Prioritäten einhergehen müssten, liegt ebenfalls auf der Hand. Aber das amerikanische Politschauspiel mit den oft absurd verpackten Behauptungen oder der auf Twitter demonstrierten Gleichgültigkeit gegenüber realen Tatsachen boten Grund genug, sich nicht ernsthaft der Frage zu stellen, ob und wo die Vorwürfe vielleicht ins Schwarze trafen. Für das amerikanische Publikum hingegen wirkte die Inszenierung, auch wenn sich Demokraten von ihr abgestoßen fühlten, als Verstärker, der eine Befindlichkeit im Mainstream konsolidierte: dass Amerika von Deutschland übervorteilt werde und amerikanische Bürger den Preis dafür zahlten.

Es wäre ein Fehler, dieses Phänomen als zyklischen Ausschlag in der Spätphase der ersten Trump-Administration abzutun sowie die transatlantischen und allianzfreundlichen Jahre der Biden-Administration als Beleg dafür heranzuziehen. Joe Biden hat dieser Stimmung, jedenfalls in der Außen- und Sicherheitspolitik, nur nicht nachgegeben. Trump wird sie mit seinem Amtsantritt im Januar 2025 erneut aufnehmen, gleichzeitig instrumentalisieren und verstärken. Wenn sich in vier Jahren der nächste Präsident oder die nächste Präsidentin anschickt, in das Weiße Haus einzuziehen, werden die Trittbrettfahrerstereotype und transaktionalen Verrechnungen insgesamt zwölf Jahre lang die öffentliche Debatte mehr oder weniger dominiert haben. Und in dieser Debatte hat, bisher jedenfalls, die Argumentationsfigur des wirtschaftlich und sicherheitspolitisch nutznießenden (freeloader) Deutschlands – und natürlich vieler anderer internationaler Akteure – eine mobilisierendermächtigende Funktion für „America First“ gehabt.

 

Erodierende emotionale Bindungskraft

Das Deutschlandbild in den USA war immer ein Kompositum. Die Wahrnehmung von wirtschaftlichem Erfolg, wissenschaftlicher Exzellenz und Innovation, kultureller Moderne und traditioneller Folklore, all das spielte eine Rolle. Das Bild ist außerdem mit einem amerikanischen Selbstbild eng verbunden gewesen: die Luftbrücke, Rosinenbomber, Kennedys „I am a Berliner“, Martin Luther Kings Besuch in West- und Ostberlin 1964, Reagans „Mr. Gorbachev, tear down this wall!“ – für Amerikaner waren diese Dinge allesamt leicht fassbare historische Marken der emotionalen Selbsterzählung über amerikanischen strategischen Großmut, politische Tugend und Triumph von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

2019 hat das Auswärtige Amt in den USA gemeinsam mit zahlreichen anderen Akteuren und Vermittlern ein „Deutschlandjahr“ – eine politisch-kulturelle Öffentlichkeitskampagne – organisiert, mit dem sich unser Land in allen fünfzig Bundesstaaten in den unterschiedlichen Dimensionen als modernes und erfolgreiches Gemeinwesen präsentieren wollte. Wir werteten Wirkung und Aufnahme als Erfolg.

Dieses „Deutschlandjahr“ inkorporierte zwar einige der traditionellen Ankerjubiläen des deutsch-amerikanischen Verhältnisses, von der Luftbrücke bis zum Fall der Mauer, jedoch lag der Schwerpunkt richtigerweise weniger auf der Vergangenheit als auf der Gegenwart und den Möglichkeiten der Zukunft. Der zeitliche Abstand zu den großen Jubiläen, die für ältere Generationen prägend waren, wächst; und damit erodiert die emotionale Bindungskraft der Ereignisse für die Wahrnehmung des jeweils anderen. Die Motive schimmern in den Feiertagsreden immer noch durch, und sie finden Resonanz. Aber ihre Identifizierungsmacht ist auch in Amerika in Erosion begriffen. Es gibt einen Grund, warum auch atlantisch geprägte Demokraten im Kongress sich heute herauszustellen beeilen, dass die amerikanische Unterstützung für das Nachkriegseuropa kein Akt politischer Selbstlosigkeit, sondern einer strategischen Kalküls und langfristigen Interesses gewesen sei: Die ältere – emotionale – Selbsterzählung ist für eine öffentliche Meinung aus dem Takt geraten, in der Kosten-Nutzen-Rechnungen neu definiert werden. Dieser Trend hat auch den Blick auf Deutschland verändert.

 

Europa rückt insgesamt als Bezugspunkt ins Glied

Die Nachkriegsgeschichte prägt das Bild Deutschlands zwar weniger als früher. Aber die Erinnerung modelliert trotzdem und a fortiori Erwartungen. Ein auf dem Land lebender amerikanischer Freund erzählte mir in den Tagen des russischen Überfalls auf die Ukraine eine Begebenheit, die er für symptomatisch hielt. Ein ihm benachbarter, ganz unpolitischer Farmer hatte ihm in einem Gespräch gesagt: „Can you imagine the Germans! Not lifting a finger for Ukraine!“ Der Vorwurf stimmte zu dem Zeitpunkt nicht (mehr), allerdings war dies nicht der entscheidende Punkt. Der Farmer maß die deutsche Unterstützung für das angegriffene Land daran, wie sich diese im Vergleich zur amerikanischen Anstrengungsbereitschaft beim Wiederaufbau und Schutz des europäischen Kontinents einschließlich des geschlagenen und moralisch gerichteten deutschen Gegners ausnahm. Ich habe diesen Unterton, diesen historischen Subtext, in der amerikanischen Diskussion über deutsche Unterstützungsleistungen für die Ukraine auch bei jenen Republikanern immer wieder herausgehört, die eine Reduzierung der amerikanischen Unterstützung aus Gründen innenpolitischer Prioritäten forderten.

Wenn Amerikaner auf Deutschland blicken, dann haben sie viele Prismen: Die Herkunftsgeschichte gehört dazu; etwa vierzig Millionen Amerikaner sagten in einer Erhebung 2022 von sich, sie hätten deutsche Vorfahren. „I’ve got German legacy“ – diesen Satz habe ich unzählige Male gehört. Er war immer positiv konnotiert, wenngleich nie ein Hinweis auf die Gruppenidentitäten, wie sie Amerikaner irischer, italienischer oder griechischer Herkunft zelebrieren. Ein weiterer „Bildproduzent“ sind die amerikanischen Streitkräfte – zur Hochzeit des Kalten Krieges dienten circa 246.000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundesrepublik Deutschland, und sie alle brachten ihre weitgehend positiven Erfahrungen mit deutschen Nachbarn, Freunden und Institutionen mit zurück.

Aber beide Faktoren nehmen in ihrer Bedeutung deutlich ab. Dies liegt nicht nur an der wachsenden zeitlichen Distanz, am Generationenwechsel, an der heute viel kleineren amerikanischen militärischen Präsenz in Deutschland. Europa rückt insgesamt als amerikanischer Bezugspunkt ins Glied. Das liegt an der sich verändernden Demografie, die Amerikaner europäischer Herkunft zu einer Minderheit werden lässt. Und es korreliert mit dem nach Asien und in den Indopazifik wandernden Fokus der amerikanischen Außenpolitik, die sich in dieser Region – und nicht auf dem europäischen Kontinent – mit den größten Risiken und Chancen konfrontiert sieht.

 

Deutschlands politische Performance

Das bedeutet jedoch nicht Desinteresse an Deutschland (oder Europa). Es gibt enge andere Bindungen, die das Deutschlandbild prägen: die akademischen Welten, Städtepartnerschaften, die Präsenz der deutschen Wirtschaft, die Zusammenarbeit auf allen Feldern von Politik und Gesellschaft, der Schüler- und Studentenaustausch, die zahllosen Mittlerorganisationen und vieles mehr. Alle tragen zum Mosaik des Deutschlandbildes bei.

Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen für eine Nuancierung dieses Bildes verändert. Die „Besetzung“ im Binnenverhältnis – Zielgruppen, Multiplikatoren – sortiert sich neu; das politische Klima hat sich gedreht. So gesehen, könnte keine neue politisch-diplomatische Kommunikationskampagne, kein neues Deutschlandjahr wie im Jahr 2019, das ausgleichen oder gar ersetzen, was den amerikanischen Blick auf Deutschland in den nächsten Jahren entscheidend prägen wird: nämlich die deutsche politische Performance – und damit die Frage, ob wir zur Anpassung an neue geopolitische Realitäten, technologische Rahmenbedingungen und globale Generationsherausforderungen willens und in der Lage sind; ob wir Innovationsund Handlungsfähigkeit demonstrieren können; und ob wir im europäischen Verbund eine taktgebende Rolle annehmen wollen, die zugleich gemeinsamer Machtprojektion dient und auf die Wahrnehmung Deutschlands in Amerika zurückwirkt.

 

Emily Haber, geboren 1956 in Bonn, promovierte Historikerin, Staatssekretärin a. D., 2018 bis 2023 Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinigten Staaten von Amerika.